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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
sehnliche kleine Mann manchem der Unglücklichen, die er in seinen Krallen
hielt, mit überraschender Freundlichkeit; aber war das ein Trost für die
Folterqual der endlosen Untersuchungshaft? In dem alten Schlosse Köpenick
an der Spree, dicht neben dem berühmten Wappensaale, wo einst jenes
tapfere Kriegsgericht das Leben des Kronprinzen Friedrich gegen seinen
eigenen Vater vertheidigt hatte, saßen jetzt die Demagogen hinter ver-
blendeten Fenstern und blickten hinaus auf ein viereckiges Stück grauen
Himmels; nur einige Stunden lang durften sie unter den Bäumen des
Parks umhergehen oder im Flusse baden. Auch die Berliner Gefängnisse
waren angefüllt mit Opfern der politischen Verfolgung, und das Stu-
dentenlied spottete: "wer die Wahrheit kennet und sagt sie frei, der kommt
nach Berlin auf die Hausvogtei."

Die große Mehrzahl der Beamten zog sich, nachdem der erste Schrecken
verraucht war, von dem Unwesen der Demagogenverfolger angeekelt zurück
und betrachtete den kleinen um Kamptz geschaarten Häscherhaufen wie
eine Pestbeule am Leibe ihres ehrenhaften Standes. Um den rheini-
schen Schwurgerichten die politischen Verbrechen zu entziehen, befahl der
König (6. März 1821), daß für alle Vergehen wider die Sicherheit des
Staates die Vorschriften des Allgemeinen Landrechts und der altlän-
dischen Criminalordnung gelten sollten; diese Cabinetsordre erhielt rück-
wirkende Kraft, nur wurden die Richter angewiesen, bei der Strafab-
messung für frühere Fälle stets das mildere Gesetz anzuwenden. Die
Minister des Innern und der Polizei empfingen den Auftrag, über das
Betragen der Lehrer Bericht zu erstatten, da die Umtriebe in der Ver-
führung der Jugend ihre Wurzel hätten.*) Bei der Anstellung von Jugend-
lehrern und Geistlichen sollte fortan das Gutachten dieser beiden Minister
eingeholt, gegen die Absetzung demagogischer Lehrer nur noch ein Recurs
an das Ministerium gestattet, jede geheime Studentenverbindung aber ohne
Weiteres vor die Strafgerichte verwiesen werden.

Wie lächerlich erschien neben diesem gewaltigen Rüstzeuge der Erfolg
der Untersuchungen. Was mußten preußische Patrioten empfinden, wenn
sie den Königsmörder Carnot, der in Frankreich unmöglich war, unter
dem Schutze der preußischen Krone frei in Magdeburg leben sahen und
damit verglichen, wie der königstreue Jahn jahrelang gepeinigt wurde.
Vergeblich betheuerte der Turnvater: "Eigene Ansichten mögen meine Auf-
sätze leicht enthalten, aber keine umkehrerischen Absichten. Von geheimen
Umtrieben bin ich weder Mitwisser noch gar Mittreiber."**) Vergeblich
beantragte Kammergerichtsrath Hoffmann schon nach einigen Monaten die
Freilassung des offenbar Unschuldigen. Man gestattete ihm nur, auf der
Festung Kolberg in leichter Stadthaft zu leben; dort mußte er noch bis

*) Cabinetsordre an Schuckmann und Wittgenstein, 12. Nov. 1819.
**) Jahn an Schuckmann, 5. Sept. 1819.

III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
ſehnliche kleine Mann manchem der Unglücklichen, die er in ſeinen Krallen
hielt, mit überraſchender Freundlichkeit; aber war das ein Troſt für die
Folterqual der endloſen Unterſuchungshaft? In dem alten Schloſſe Köpenick
an der Spree, dicht neben dem berühmten Wappenſaale, wo einſt jenes
tapfere Kriegsgericht das Leben des Kronprinzen Friedrich gegen ſeinen
eigenen Vater vertheidigt hatte, ſaßen jetzt die Demagogen hinter ver-
blendeten Fenſtern und blickten hinaus auf ein viereckiges Stück grauen
Himmels; nur einige Stunden lang durften ſie unter den Bäumen des
Parks umhergehen oder im Fluſſe baden. Auch die Berliner Gefängniſſe
waren angefüllt mit Opfern der politiſchen Verfolgung, und das Stu-
dentenlied ſpottete: „wer die Wahrheit kennet und ſagt ſie frei, der kommt
nach Berlin auf die Hausvogtei.“

Die große Mehrzahl der Beamten zog ſich, nachdem der erſte Schrecken
verraucht war, von dem Unweſen der Demagogenverfolger angeekelt zurück
und betrachtete den kleinen um Kamptz geſchaarten Häſcherhaufen wie
eine Peſtbeule am Leibe ihres ehrenhaften Standes. Um den rheini-
ſchen Schwurgerichten die politiſchen Verbrechen zu entziehen, befahl der
König (6. März 1821), daß für alle Vergehen wider die Sicherheit des
Staates die Vorſchriften des Allgemeinen Landrechts und der altlän-
diſchen Criminalordnung gelten ſollten; dieſe Cabinetsordre erhielt rück-
wirkende Kraft, nur wurden die Richter angewieſen, bei der Strafab-
meſſung für frühere Fälle ſtets das mildere Geſetz anzuwenden. Die
Miniſter des Innern und der Polizei empfingen den Auftrag, über das
Betragen der Lehrer Bericht zu erſtatten, da die Umtriebe in der Ver-
führung der Jugend ihre Wurzel hätten.*) Bei der Anſtellung von Jugend-
lehrern und Geiſtlichen ſollte fortan das Gutachten dieſer beiden Miniſter
eingeholt, gegen die Abſetzung demagogiſcher Lehrer nur noch ein Recurs
an das Miniſterium geſtattet, jede geheime Studentenverbindung aber ohne
Weiteres vor die Strafgerichte verwieſen werden.

Wie lächerlich erſchien neben dieſem gewaltigen Rüſtzeuge der Erfolg
der Unterſuchungen. Was mußten preußiſche Patrioten empfinden, wenn
ſie den Königsmörder Carnot, der in Frankreich unmöglich war, unter
dem Schutze der preußiſchen Krone frei in Magdeburg leben ſahen und
damit verglichen, wie der königstreue Jahn jahrelang gepeinigt wurde.
Vergeblich betheuerte der Turnvater: „Eigene Anſichten mögen meine Auf-
ſätze leicht enthalten, aber keine umkehreriſchen Abſichten. Von geheimen
Umtrieben bin ich weder Mitwiſſer noch gar Mittreiber.“**) Vergeblich
beantragte Kammergerichtsrath Hoffmann ſchon nach einigen Monaten die
Freilaſſung des offenbar Unſchuldigen. Man geſtattete ihm nur, auf der
Feſtung Kolberg in leichter Stadthaft zu leben; dort mußte er noch bis

*) Cabinetsordre an Schuckmann und Wittgenſtein, 12. Nov. 1819.
**) Jahn an Schuckmann, 5. Sept. 1819.
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[436/0452] III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. ſehnliche kleine Mann manchem der Unglücklichen, die er in ſeinen Krallen hielt, mit überraſchender Freundlichkeit; aber war das ein Troſt für die Folterqual der endloſen Unterſuchungshaft? In dem alten Schloſſe Köpenick an der Spree, dicht neben dem berühmten Wappenſaale, wo einſt jenes tapfere Kriegsgericht das Leben des Kronprinzen Friedrich gegen ſeinen eigenen Vater vertheidigt hatte, ſaßen jetzt die Demagogen hinter ver- blendeten Fenſtern und blickten hinaus auf ein viereckiges Stück grauen Himmels; nur einige Stunden lang durften ſie unter den Bäumen des Parks umhergehen oder im Fluſſe baden. Auch die Berliner Gefängniſſe waren angefüllt mit Opfern der politiſchen Verfolgung, und das Stu- dentenlied ſpottete: „wer die Wahrheit kennet und ſagt ſie frei, der kommt nach Berlin auf die Hausvogtei.“ Die große Mehrzahl der Beamten zog ſich, nachdem der erſte Schrecken verraucht war, von dem Unweſen der Demagogenverfolger angeekelt zurück und betrachtete den kleinen um Kamptz geſchaarten Häſcherhaufen wie eine Peſtbeule am Leibe ihres ehrenhaften Standes. Um den rheini- ſchen Schwurgerichten die politiſchen Verbrechen zu entziehen, befahl der König (6. März 1821), daß für alle Vergehen wider die Sicherheit des Staates die Vorſchriften des Allgemeinen Landrechts und der altlän- diſchen Criminalordnung gelten ſollten; dieſe Cabinetsordre erhielt rück- wirkende Kraft, nur wurden die Richter angewieſen, bei der Strafab- meſſung für frühere Fälle ſtets das mildere Geſetz anzuwenden. Die Miniſter des Innern und der Polizei empfingen den Auftrag, über das Betragen der Lehrer Bericht zu erſtatten, da die Umtriebe in der Ver- führung der Jugend ihre Wurzel hätten. *) Bei der Anſtellung von Jugend- lehrern und Geiſtlichen ſollte fortan das Gutachten dieſer beiden Miniſter eingeholt, gegen die Abſetzung demagogiſcher Lehrer nur noch ein Recurs an das Miniſterium geſtattet, jede geheime Studentenverbindung aber ohne Weiteres vor die Strafgerichte verwieſen werden. Wie lächerlich erſchien neben dieſem gewaltigen Rüſtzeuge der Erfolg der Unterſuchungen. Was mußten preußiſche Patrioten empfinden, wenn ſie den Königsmörder Carnot, der in Frankreich unmöglich war, unter dem Schutze der preußiſchen Krone frei in Magdeburg leben ſahen und damit verglichen, wie der königstreue Jahn jahrelang gepeinigt wurde. Vergeblich betheuerte der Turnvater: „Eigene Anſichten mögen meine Auf- ſätze leicht enthalten, aber keine umkehreriſchen Abſichten. Von geheimen Umtrieben bin ich weder Mitwiſſer noch gar Mittreiber.“ **) Vergeblich beantragte Kammergerichtsrath Hoffmann ſchon nach einigen Monaten die Freilaſſung des offenbar Unſchuldigen. Man geſtattete ihm nur, auf der Feſtung Kolberg in leichter Stadthaft zu leben; dort mußte er noch bis *) Cabinetsordre an Schuckmann und Wittgenſtein, 12. Nov. 1819. **) Jahn an Schuckmann, 5. Sept. 1819.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/452>, abgerufen am 22.11.2024.