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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die Stände wider die Gewerbefreiheit.
zu entledigen suchen -- ein verzweifelter Rath, der schon manchen Klein-
müthigen als das letzte Heilmittel für alle socialen Nöthe galt.

Selbst Unbefangene mußten zugestehen, daß auf dem preußischen Markte
neben dem Segen auch der Fluch der Freiheit sich schon zeigte. Der
unbeschränkte Wettbewerb stachelte die Thätigkeit, beförderte die Fortschritte
der Technik. Die großen auf Vorrath arbeitenden Geschäfte blühten, aber der
kleine Meister ward durch die Uebermacht des Capitals erdrückt; im Jahre
1831 konnten von den 1088 Tischlermeistern Berlins 640 keine Gewerbe-
steuer zahlen. Und wie leichtsinnig hatte Hardenberg mit den unhalt-
baren Vorrechten der alten Zünfte auch alle die sittlichen Bande zerstört,
welche das Handwerk noch zusammenhielten. Die Zünfte, die jetzt noch
da und dort als freie Genossenschaften fortbestanden, entbehrten des An-
sehens und der Lebenskraft; der tapfere Handwerksstolz, die alte strenge
Zucht und Sitte verfielen, die Erziehung der Lehrlinge blieb dem guten
Glücke anheimgestellt. Hier lag der Grund, warum Stein, den man
jetzt mit Unrecht der Sinnesänderung zieh, immer nur eine Reform des
Zunftwesens gefordert und die Auflösung der Zünfte von vornherein als
seichten, rechtlosen "Neologism" bekämpft hatte. Was galten ihm tech-
nische Fortschritte neben der sittlichen Entwicklung des Volkes, dem eigent-
lichen Zwecke des Staates? Mit flammendem Eifer trat er für seine
Ansicht ein, und Gneisenau fürchtete schon, der Freiherr werde im Staats-
rathe mit Hilfe des Kronprinzen die gesammte neue Gewerbegesetzgebung
über den Haufen werfen; "an ihn, so schrieb er, einen solchen Bekehrten
wird sich eine zahlreiche Phalanx eifriger Bekenner, in Schutz genommen
von einer hohen Person, anschließen; ich nicht."*)

Die Gefahr einer unbedachten Reaction lag sehr nahe. Die Regie-
rung aber blieb ruhig, und die Stimmung der Rheinländer, denen die
Gewerbefreiheit schon in Fleisch und Blut gedrungen war, bot ihr einen
festen Rückhalt. Sie hielt die bestehende Ordnung vorläufig aufrecht,
gewährte den früheren Berechtigten durch eine Declaration billige Ent-
schädigung und ließ sodann in mühseliger Arbeit eine Gewerbeordnung für
den gesammten Staat vorbereiten, welche den begründeten Beschwerden
Abhilfe bringen, aber die Grundgedanken der Hardenbergischen Gesetzgebung
nicht aufgeben sollte. J. G. Hoffmann, dem diese Aufgabe zunächst zufiel,
hatte in seinen jungen Jahren das Zunftwesen mit dem ganzen Radica-
lismus der neuen Volkswirthschaftslehre bekämpft und den Corporations-
geist schlechthin für den Feind des Gemeingeistes erklärt. Seitdem war
er über "das unselige laisser faire der Jünger Mercurs" längst ins Klare
gekommen und bemühte sich nun bedachtsam die Frage zn beantworten,
ob es möglich sei, in freien Innungen den sittlichen Inhalt der alten
Zünfte, ihr ehrenhaftes Genossenschaftsleben wieder zu beleben ohne den

*) Gneisenau an Schön, 24. Febr. 1827.

Die Stände wider die Gewerbefreiheit.
zu entledigen ſuchen — ein verzweifelter Rath, der ſchon manchen Klein-
müthigen als das letzte Heilmittel für alle ſocialen Nöthe galt.

Selbſt Unbefangene mußten zugeſtehen, daß auf dem preußiſchen Markte
neben dem Segen auch der Fluch der Freiheit ſich ſchon zeigte. Der
unbeſchränkte Wettbewerb ſtachelte die Thätigkeit, beförderte die Fortſchritte
der Technik. Die großen auf Vorrath arbeitenden Geſchäfte blühten, aber der
kleine Meiſter ward durch die Uebermacht des Capitals erdrückt; im Jahre
1831 konnten von den 1088 Tiſchlermeiſtern Berlins 640 keine Gewerbe-
ſteuer zahlen. Und wie leichtſinnig hatte Hardenberg mit den unhalt-
baren Vorrechten der alten Zünfte auch alle die ſittlichen Bande zerſtört,
welche das Handwerk noch zuſammenhielten. Die Zünfte, die jetzt noch
da und dort als freie Genoſſenſchaften fortbeſtanden, entbehrten des An-
ſehens und der Lebenskraft; der tapfere Handwerksſtolz, die alte ſtrenge
Zucht und Sitte verfielen, die Erziehung der Lehrlinge blieb dem guten
Glücke anheimgeſtellt. Hier lag der Grund, warum Stein, den man
jetzt mit Unrecht der Sinnesänderung zieh, immer nur eine Reform des
Zunftweſens gefordert und die Auflöſung der Zünfte von vornherein als
ſeichten, rechtloſen „Neologism“ bekämpft hatte. Was galten ihm tech-
niſche Fortſchritte neben der ſittlichen Entwicklung des Volkes, dem eigent-
lichen Zwecke des Staates? Mit flammendem Eifer trat er für ſeine
Anſicht ein, und Gneiſenau fürchtete ſchon, der Freiherr werde im Staats-
rathe mit Hilfe des Kronprinzen die geſammte neue Gewerbegeſetzgebung
über den Haufen werfen; „an ihn, ſo ſchrieb er, einen ſolchen Bekehrten
wird ſich eine zahlreiche Phalanx eifriger Bekenner, in Schutz genommen
von einer hohen Perſon, anſchließen; ich nicht.“*)

Die Gefahr einer unbedachten Reaction lag ſehr nahe. Die Regie-
rung aber blieb ruhig, und die Stimmung der Rheinländer, denen die
Gewerbefreiheit ſchon in Fleiſch und Blut gedrungen war, bot ihr einen
feſten Rückhalt. Sie hielt die beſtehende Ordnung vorläufig aufrecht,
gewährte den früheren Berechtigten durch eine Declaration billige Ent-
ſchädigung und ließ ſodann in mühſeliger Arbeit eine Gewerbeordnung für
den geſammten Staat vorbereiten, welche den begründeten Beſchwerden
Abhilfe bringen, aber die Grundgedanken der Hardenbergiſchen Geſetzgebung
nicht aufgeben ſollte. J. G. Hoffmann, dem dieſe Aufgabe zunächſt zufiel,
hatte in ſeinen jungen Jahren das Zunftweſen mit dem ganzen Radica-
lismus der neuen Volkswirthſchaftslehre bekämpft und den Corporations-
geiſt ſchlechthin für den Feind des Gemeingeiſtes erklärt. Seitdem war
er über „das unſelige laisser faire der Jünger Mercurs“ längſt ins Klare
gekommen und bemühte ſich nun bedachtſam die Frage zn beantworten,
ob es möglich ſei, in freien Innungen den ſittlichen Inhalt der alten
Zünfte, ihr ehrenhaftes Genoſſenſchaftsleben wieder zu beleben ohne den

*) Gneiſenau an Schön, 24. Febr. 1827.
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[377/0393] Die Stände wider die Gewerbefreiheit. zu entledigen ſuchen — ein verzweifelter Rath, der ſchon manchen Klein- müthigen als das letzte Heilmittel für alle ſocialen Nöthe galt. Selbſt Unbefangene mußten zugeſtehen, daß auf dem preußiſchen Markte neben dem Segen auch der Fluch der Freiheit ſich ſchon zeigte. Der unbeſchränkte Wettbewerb ſtachelte die Thätigkeit, beförderte die Fortſchritte der Technik. Die großen auf Vorrath arbeitenden Geſchäfte blühten, aber der kleine Meiſter ward durch die Uebermacht des Capitals erdrückt; im Jahre 1831 konnten von den 1088 Tiſchlermeiſtern Berlins 640 keine Gewerbe- ſteuer zahlen. Und wie leichtſinnig hatte Hardenberg mit den unhalt- baren Vorrechten der alten Zünfte auch alle die ſittlichen Bande zerſtört, welche das Handwerk noch zuſammenhielten. Die Zünfte, die jetzt noch da und dort als freie Genoſſenſchaften fortbeſtanden, entbehrten des An- ſehens und der Lebenskraft; der tapfere Handwerksſtolz, die alte ſtrenge Zucht und Sitte verfielen, die Erziehung der Lehrlinge blieb dem guten Glücke anheimgeſtellt. Hier lag der Grund, warum Stein, den man jetzt mit Unrecht der Sinnesänderung zieh, immer nur eine Reform des Zunftweſens gefordert und die Auflöſung der Zünfte von vornherein als ſeichten, rechtloſen „Neologism“ bekämpft hatte. Was galten ihm tech- niſche Fortſchritte neben der ſittlichen Entwicklung des Volkes, dem eigent- lichen Zwecke des Staates? Mit flammendem Eifer trat er für ſeine Anſicht ein, und Gneiſenau fürchtete ſchon, der Freiherr werde im Staats- rathe mit Hilfe des Kronprinzen die geſammte neue Gewerbegeſetzgebung über den Haufen werfen; „an ihn, ſo ſchrieb er, einen ſolchen Bekehrten wird ſich eine zahlreiche Phalanx eifriger Bekenner, in Schutz genommen von einer hohen Perſon, anſchließen; ich nicht.“ *) Die Gefahr einer unbedachten Reaction lag ſehr nahe. Die Regie- rung aber blieb ruhig, und die Stimmung der Rheinländer, denen die Gewerbefreiheit ſchon in Fleiſch und Blut gedrungen war, bot ihr einen feſten Rückhalt. Sie hielt die beſtehende Ordnung vorläufig aufrecht, gewährte den früheren Berechtigten durch eine Declaration billige Ent- ſchädigung und ließ ſodann in mühſeliger Arbeit eine Gewerbeordnung für den geſammten Staat vorbereiten, welche den begründeten Beſchwerden Abhilfe bringen, aber die Grundgedanken der Hardenbergiſchen Geſetzgebung nicht aufgeben ſollte. J. G. Hoffmann, dem dieſe Aufgabe zunächſt zufiel, hatte in ſeinen jungen Jahren das Zunftweſen mit dem ganzen Radica- lismus der neuen Volkswirthſchaftslehre bekämpft und den Corporations- geiſt ſchlechthin für den Feind des Gemeingeiſtes erklärt. Seitdem war er über „das unſelige laisser faire der Jünger Mercurs“ längſt ins Klare gekommen und bemühte ſich nun bedachtſam die Frage zn beantworten, ob es möglich ſei, in freien Innungen den ſittlichen Inhalt der alten Zünfte, ihr ehrenhaftes Genoſſenſchaftsleben wieder zu beleben ohne den *) Gneiſenau an Schön, 24. Febr. 1827.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/393>, abgerufen am 24.11.2024.