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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die Entscheidung.
das Gepräge parteiischer Uebertreibung und enthielt sogar, wenngleich in
vorsichtiger Verhüllung, gehässige Verdächtigungen gegen den Staatskanzler,
der ja nie etwas Anderes als berathende Land- und Reichsstände verlangt
hatte.*) Der Kronprinz aber unterzeichnete unbedenklich; die starken Aus-
fälle wieder die papierenen Verfassungsurkunden behagten seiner roman-
tischen Staatsanschauung. Auf die Stimmung des Königs waren die Vor-
schläge der Commission auch sehr geschickt berechnet. Wie Friedrich Wilhelm
jetzt gesinnt war -- voll Unmuths über die Revolutionen in Südeuropa,
mißtrauisch gegen die süddeutschen Kammerredner, und doch zu gewissen-
haft um sein altes Versprechen förmlich zurückzunehmen -- so mußte er
es fast als eine Erlösung betrachten, wenn ihm nun gerathen wurde, einen
Theil seiner Zusagen sofort zu erfüllen und doch das gefährliche Wagniß
der Reichsstände vorläufig zu vertagen. Die beiden Parteien der modernen
Staatseinheit und des altständischen Partikularismus traten endlich mit
geöffneten Helmen vor den Thron. Der König entschied im Sinne des
Thronfolgers. Er genehmigte die Anträge der Commission und befahl
eine abermalige Berathung, die sich ausschließlich mit der Einrichtung der
Provinzialstände beschäftigen sollte. Eine Cabinetsordre vom 11. Juni
1821 gab dem Staatskanzler zu wissen: "das Weitere wegen Zusammen-
berufung der allgemeinen Landstände bleibt der Zeit, der Erfahrung, der
Entwicklung der Sache und Meiner landesväterlichen Fürsorge anheimge-
stellt."**) So ist der Plan der preußischen Reichsverfassung erst im siebenten
Jahre nach der gegebenen Zusage, und auch dann nur vorläufig, beseitigt
worden.

Der Würfel war gefallen, die Altständischen triumphirten. Nur
Hardenberg wollte die Entscheidung nicht als unwiderruflich ansehen. Er
richtete noch einmal (4. Juli) eine Gegenvorstellung an den König und
empfing erst nach Monaten die beiläufige Antwort, daß diese Denkschrift
dem neuen Verfassungsausschusse zur Benutzung übergeben worden sei.
Inzwischen tröstete er sich mit der leichtsinnigen Hoffnung, die Opposition
durch Stillschweigen zu entkräften, und blieb sogar mit seinem gefährlichsten
Gegner Wittgenstein in dem alten freundschaftlichen Verkehre.***) Die
Künste des diplomatischen Zauderns, die ihm einst gegen Napoleon so för-
derlich gewesen, sollten ihm auch wider die einheimischen Gegner helfen.
Die Berufung der Reichsstände war ja nur verschoben, nicht abgelehnt,
und vielleicht kam noch der Tag, da sie möglich wurde. Wer den König
kannte, mußte freilich vorhersehen, daß dieser Tag nicht so bald, und sicher-
lich nicht mehr bei Lebzeiten des greisen Kanzlers erscheinen konnte. Nie-
mand wußte dies besser als General Witzleben, der unerschütterlich zu Har-

*) Commissionsbericht, 28. Mai 1821.
**) Cabinetsordre an Hardenberg, 11. Juni 1821.
***) Cabinetsordre an Hardenberg, 5. Nov.; Hardenberg's Tagebuch, 20. Juli 1821.

Die Entſcheidung.
das Gepräge parteiiſcher Uebertreibung und enthielt ſogar, wenngleich in
vorſichtiger Verhüllung, gehäſſige Verdächtigungen gegen den Staatskanzler,
der ja nie etwas Anderes als berathende Land- und Reichsſtände verlangt
hatte.*) Der Kronprinz aber unterzeichnete unbedenklich; die ſtarken Aus-
fälle wieder die papierenen Verfaſſungsurkunden behagten ſeiner roman-
tiſchen Staatsanſchauung. Auf die Stimmung des Königs waren die Vor-
ſchläge der Commiſſion auch ſehr geſchickt berechnet. Wie Friedrich Wilhelm
jetzt geſinnt war — voll Unmuths über die Revolutionen in Südeuropa,
mißtrauiſch gegen die ſüddeutſchen Kammerredner, und doch zu gewiſſen-
haft um ſein altes Verſprechen förmlich zurückzunehmen — ſo mußte er
es faſt als eine Erlöſung betrachten, wenn ihm nun gerathen wurde, einen
Theil ſeiner Zuſagen ſofort zu erfüllen und doch das gefährliche Wagniß
der Reichsſtände vorläufig zu vertagen. Die beiden Parteien der modernen
Staatseinheit und des altſtändiſchen Partikularismus traten endlich mit
geöffneten Helmen vor den Thron. Der König entſchied im Sinne des
Thronfolgers. Er genehmigte die Anträge der Commiſſion und befahl
eine abermalige Berathung, die ſich ausſchließlich mit der Einrichtung der
Provinzialſtände beſchäftigen ſollte. Eine Cabinetsordre vom 11. Juni
1821 gab dem Staatskanzler zu wiſſen: „das Weitere wegen Zuſammen-
berufung der allgemeinen Landſtände bleibt der Zeit, der Erfahrung, der
Entwicklung der Sache und Meiner landesväterlichen Fürſorge anheimge-
ſtellt.“**) So iſt der Plan der preußiſchen Reichsverfaſſung erſt im ſiebenten
Jahre nach der gegebenen Zuſage, und auch dann nur vorläufig, beſeitigt
worden.

Der Würfel war gefallen, die Altſtändiſchen triumphirten. Nur
Hardenberg wollte die Entſcheidung nicht als unwiderruflich anſehen. Er
richtete noch einmal (4. Juli) eine Gegenvorſtellung an den König und
empfing erſt nach Monaten die beiläufige Antwort, daß dieſe Denkſchrift
dem neuen Verfaſſungsausſchuſſe zur Benutzung übergeben worden ſei.
Inzwiſchen tröſtete er ſich mit der leichtſinnigen Hoffnung, die Oppoſition
durch Stillſchweigen zu entkräften, und blieb ſogar mit ſeinem gefährlichſten
Gegner Wittgenſtein in dem alten freundſchaftlichen Verkehre.***) Die
Künſte des diplomatiſchen Zauderns, die ihm einſt gegen Napoleon ſo för-
derlich geweſen, ſollten ihm auch wider die einheimiſchen Gegner helfen.
Die Berufung der Reichsſtände war ja nur verſchoben, nicht abgelehnt,
und vielleicht kam noch der Tag, da ſie möglich wurde. Wer den König
kannte, mußte freilich vorherſehen, daß dieſer Tag nicht ſo bald, und ſicher-
lich nicht mehr bei Lebzeiten des greiſen Kanzlers erſcheinen konnte. Nie-
mand wußte dies beſſer als General Witzleben, der unerſchütterlich zu Har-

*) Commiſſionsbericht, 28. Mai 1821.
**) Cabinetsordre an Hardenberg, 11. Juni 1821.
***) Cabinetsordre an Hardenberg, 5. Nov.; Hardenberg’s Tagebuch, 20. Juli 1821.
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[231/0247] Die Entſcheidung. das Gepräge parteiiſcher Uebertreibung und enthielt ſogar, wenngleich in vorſichtiger Verhüllung, gehäſſige Verdächtigungen gegen den Staatskanzler, der ja nie etwas Anderes als berathende Land- und Reichsſtände verlangt hatte. *) Der Kronprinz aber unterzeichnete unbedenklich; die ſtarken Aus- fälle wieder die papierenen Verfaſſungsurkunden behagten ſeiner roman- tiſchen Staatsanſchauung. Auf die Stimmung des Königs waren die Vor- ſchläge der Commiſſion auch ſehr geſchickt berechnet. Wie Friedrich Wilhelm jetzt geſinnt war — voll Unmuths über die Revolutionen in Südeuropa, mißtrauiſch gegen die ſüddeutſchen Kammerredner, und doch zu gewiſſen- haft um ſein altes Verſprechen förmlich zurückzunehmen — ſo mußte er es faſt als eine Erlöſung betrachten, wenn ihm nun gerathen wurde, einen Theil ſeiner Zuſagen ſofort zu erfüllen und doch das gefährliche Wagniß der Reichsſtände vorläufig zu vertagen. Die beiden Parteien der modernen Staatseinheit und des altſtändiſchen Partikularismus traten endlich mit geöffneten Helmen vor den Thron. Der König entſchied im Sinne des Thronfolgers. Er genehmigte die Anträge der Commiſſion und befahl eine abermalige Berathung, die ſich ausſchließlich mit der Einrichtung der Provinzialſtände beſchäftigen ſollte. Eine Cabinetsordre vom 11. Juni 1821 gab dem Staatskanzler zu wiſſen: „das Weitere wegen Zuſammen- berufung der allgemeinen Landſtände bleibt der Zeit, der Erfahrung, der Entwicklung der Sache und Meiner landesväterlichen Fürſorge anheimge- ſtellt.“ **) So iſt der Plan der preußiſchen Reichsverfaſſung erſt im ſiebenten Jahre nach der gegebenen Zuſage, und auch dann nur vorläufig, beſeitigt worden. Der Würfel war gefallen, die Altſtändiſchen triumphirten. Nur Hardenberg wollte die Entſcheidung nicht als unwiderruflich anſehen. Er richtete noch einmal (4. Juli) eine Gegenvorſtellung an den König und empfing erſt nach Monaten die beiläufige Antwort, daß dieſe Denkſchrift dem neuen Verfaſſungsausſchuſſe zur Benutzung übergeben worden ſei. Inzwiſchen tröſtete er ſich mit der leichtſinnigen Hoffnung, die Oppoſition durch Stillſchweigen zu entkräften, und blieb ſogar mit ſeinem gefährlichſten Gegner Wittgenſtein in dem alten freundſchaftlichen Verkehre. ***) Die Künſte des diplomatiſchen Zauderns, die ihm einſt gegen Napoleon ſo för- derlich geweſen, ſollten ihm auch wider die einheimiſchen Gegner helfen. Die Berufung der Reichsſtände war ja nur verſchoben, nicht abgelehnt, und vielleicht kam noch der Tag, da ſie möglich wurde. Wer den König kannte, mußte freilich vorherſehen, daß dieſer Tag nicht ſo bald, und ſicher- lich nicht mehr bei Lebzeiten des greiſen Kanzlers erſcheinen konnte. Nie- mand wußte dies beſſer als General Witzleben, der unerſchütterlich zu Har- *) Commiſſionsbericht, 28. Mai 1821. **) Cabinetsordre an Hardenberg, 11. Juni 1821. ***) Cabinetsordre an Hardenberg, 5. Nov.; Hardenberg’s Tagebuch, 20. Juli 1821.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/247>, abgerufen am 24.11.2024.