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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 3. Troppau und Laibach.
Czaren, mit Genehmigung des Kaisers Franz, sein "politisches Glaubens-
bekenntniß", eine weitschweifige geschichtsphilosophische Betrachtung über
das Zeitalter der Revolution. Wie geistvoll und gerecht schilderte um
dieselbe Zeit General Clausewitz, auch ein conservativer Gegner der Re-
volution, in seiner classischen Abhandlung über die politischen Umtriebe
alle die gewaltigen Wandlungen des wirthschaftlichen und des geistigen
Lebens, welche den Schwerpunkt der bürgerlichen Gesellschaft allmählich
nach unten hin verschoben hatten. Und wie armselig erschien daneben
die Geschichtsweisheit Metternich's, der diesmal seine fünfte Metapher,
den Krebs, mit einer Ausdauer anwendete, als wäre er ein Specialarzt
für Krebskrankheiten. Natürlich hatte der moralische Krebs seinen eigent-
lichen Sitz in den Mittelklassen; nur aus den philosophischen Irrlehren
des alten Jahrhunderts, aus den unbedachten Reformen seiner aufge-
klärten Monarchen, aus der Ueberhebung ehrgeiziger Frevler und aus
dem Krebsschaden der geheimen Gesellschaften war die Revolution hervor-
gegangen. Während der Sturm der nationalen Ideen in Italien wie
in Deutschland längst vernehmlich an den schwachen Pfeilern der Wiener
Verträge rüttelte, behauptete Metternich alles Ernstes, das Gefühl der
Nationalität sei aus dem Katechismus der liberalen Partei bereits ge-
strichen, die Partei erstrebe die Vernichtung aller politischen und religiösen
Unterschiede, die völlige Entfesselung jedes einzelnen Menschen, und ihre
beiden Fractionen, die Niveleurs und die Doktrinäre fänden sich am Tage
des Umsturzes stets zusammen. Inmitten solcher Leidenschaften könne
man nicht an Reformen denken, sondern nur das Bestehende aufrecht
halten; la stabilite n'est pas l'immobilite. So verzerrt spiegelte sich
die Welt in den Augen des Mannes, der eben damals prahlte: "Man
stelle mich auf die Tribüne des Capitols, und man wird mich ganz anders
reden hören als ich in Troppau es vermag. Ich brauche weiten Raum
und kann mich in kleinem und engem nicht zurecht finden." Ein gütiges
Geschick hatte ihn in eine der fruchtbarsten Epochen der Weltgeschichte ge-
führt; er aber fand die Zeit klein, weil er selbst zu klein war ihre Zeichen
zu deuten, und klagte: "Heute bringe ich mein Leben zu, die morschen
Gebäude zu stützen. Ich hätte im Jahre 1900 geboren werden und das
zwanzigste Jahrhundert vor mir haben sollen!"

Auf das erregbare Gemüth des Czaren waren die schauerlichen Ge-
schichtsbilder des "Glaubensbekenntnisses" gut berechnet. Gleichwohl über-
zeugten sie ihn nicht gänzlich. Er blieb dabei, daß ein allgemeiner Ga-
rantievertrag nur Mißtrauen erregen und nimmermehr auf den Beitritt
aller Mächte rechnen könne. Auf seinen Wunsch wurde der unglückliche
Gedanke, den er einst selber zuerst angeregt, endlich aufgegeben.*) --

*) Russische Denkschrift, [Formel 1] December. Hardenberg's und Bernstorff's Bericht,
20. Dec. 1820.

III. 3. Troppau und Laibach.
Czaren, mit Genehmigung des Kaiſers Franz, ſein „politiſches Glaubens-
bekenntniß“, eine weitſchweifige geſchichtsphiloſophiſche Betrachtung über
das Zeitalter der Revolution. Wie geiſtvoll und gerecht ſchilderte um
dieſelbe Zeit General Clauſewitz, auch ein conſervativer Gegner der Re-
volution, in ſeiner claſſiſchen Abhandlung über die politiſchen Umtriebe
alle die gewaltigen Wandlungen des wirthſchaftlichen und des geiſtigen
Lebens, welche den Schwerpunkt der bürgerlichen Geſellſchaft allmählich
nach unten hin verſchoben hatten. Und wie armſelig erſchien daneben
die Geſchichtsweisheit Metternich’s, der diesmal ſeine fünfte Metapher,
den Krebs, mit einer Ausdauer anwendete, als wäre er ein Specialarzt
für Krebskrankheiten. Natürlich hatte der moraliſche Krebs ſeinen eigent-
lichen Sitz in den Mittelklaſſen; nur aus den philoſophiſchen Irrlehren
des alten Jahrhunderts, aus den unbedachten Reformen ſeiner aufge-
klärten Monarchen, aus der Ueberhebung ehrgeiziger Frevler und aus
dem Krebsſchaden der geheimen Geſellſchaften war die Revolution hervor-
gegangen. Während der Sturm der nationalen Ideen in Italien wie
in Deutſchland längſt vernehmlich an den ſchwachen Pfeilern der Wiener
Verträge rüttelte, behauptete Metternich alles Ernſtes, das Gefühl der
Nationalität ſei aus dem Katechismus der liberalen Partei bereits ge-
ſtrichen, die Partei erſtrebe die Vernichtung aller politiſchen und religiöſen
Unterſchiede, die völlige Entfeſſelung jedes einzelnen Menſchen, und ihre
beiden Fractionen, die Niveleurs und die Doktrinäre fänden ſich am Tage
des Umſturzes ſtets zuſammen. Inmitten ſolcher Leidenſchaften könne
man nicht an Reformen denken, ſondern nur das Beſtehende aufrecht
halten; la stabilité n’est pas l’immobilité. So verzerrt ſpiegelte ſich
die Welt in den Augen des Mannes, der eben damals prahlte: „Man
ſtelle mich auf die Tribüne des Capitols, und man wird mich ganz anders
reden hören als ich in Troppau es vermag. Ich brauche weiten Raum
und kann mich in kleinem und engem nicht zurecht finden.“ Ein gütiges
Geſchick hatte ihn in eine der fruchtbarſten Epochen der Weltgeſchichte ge-
führt; er aber fand die Zeit klein, weil er ſelbſt zu klein war ihre Zeichen
zu deuten, und klagte: „Heute bringe ich mein Leben zu, die morſchen
Gebäude zu ſtützen. Ich hätte im Jahre 1900 geboren werden und das
zwanzigſte Jahrhundert vor mir haben ſollen!“

Auf das erregbare Gemüth des Czaren waren die ſchauerlichen Ge-
ſchichtsbilder des „Glaubensbekenntniſſes“ gut berechnet. Gleichwohl über-
zeugten ſie ihn nicht gänzlich. Er blieb dabei, daß ein allgemeiner Ga-
rantievertrag nur Mißtrauen erregen und nimmermehr auf den Beitritt
aller Mächte rechnen könne. Auf ſeinen Wunſch wurde der unglückliche
Gedanke, den er einſt ſelber zuerſt angeregt, endlich aufgegeben.*)

*) Ruſſiſche Denkſchrift, [Formel 1] December. Hardenberg’s und Bernſtorff’s Bericht,
20. Dec. 1820.
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[168/0184] III. 3. Troppau und Laibach. Czaren, mit Genehmigung des Kaiſers Franz, ſein „politiſches Glaubens- bekenntniß“, eine weitſchweifige geſchichtsphiloſophiſche Betrachtung über das Zeitalter der Revolution. Wie geiſtvoll und gerecht ſchilderte um dieſelbe Zeit General Clauſewitz, auch ein conſervativer Gegner der Re- volution, in ſeiner claſſiſchen Abhandlung über die politiſchen Umtriebe alle die gewaltigen Wandlungen des wirthſchaftlichen und des geiſtigen Lebens, welche den Schwerpunkt der bürgerlichen Geſellſchaft allmählich nach unten hin verſchoben hatten. Und wie armſelig erſchien daneben die Geſchichtsweisheit Metternich’s, der diesmal ſeine fünfte Metapher, den Krebs, mit einer Ausdauer anwendete, als wäre er ein Specialarzt für Krebskrankheiten. Natürlich hatte der moraliſche Krebs ſeinen eigent- lichen Sitz in den Mittelklaſſen; nur aus den philoſophiſchen Irrlehren des alten Jahrhunderts, aus den unbedachten Reformen ſeiner aufge- klärten Monarchen, aus der Ueberhebung ehrgeiziger Frevler und aus dem Krebsſchaden der geheimen Geſellſchaften war die Revolution hervor- gegangen. Während der Sturm der nationalen Ideen in Italien wie in Deutſchland längſt vernehmlich an den ſchwachen Pfeilern der Wiener Verträge rüttelte, behauptete Metternich alles Ernſtes, das Gefühl der Nationalität ſei aus dem Katechismus der liberalen Partei bereits ge- ſtrichen, die Partei erſtrebe die Vernichtung aller politiſchen und religiöſen Unterſchiede, die völlige Entfeſſelung jedes einzelnen Menſchen, und ihre beiden Fractionen, die Niveleurs und die Doktrinäre fänden ſich am Tage des Umſturzes ſtets zuſammen. Inmitten ſolcher Leidenſchaften könne man nicht an Reformen denken, ſondern nur das Beſtehende aufrecht halten; la stabilité n’est pas l’immobilité. So verzerrt ſpiegelte ſich die Welt in den Augen des Mannes, der eben damals prahlte: „Man ſtelle mich auf die Tribüne des Capitols, und man wird mich ganz anders reden hören als ich in Troppau es vermag. Ich brauche weiten Raum und kann mich in kleinem und engem nicht zurecht finden.“ Ein gütiges Geſchick hatte ihn in eine der fruchtbarſten Epochen der Weltgeſchichte ge- führt; er aber fand die Zeit klein, weil er ſelbſt zu klein war ihre Zeichen zu deuten, und klagte: „Heute bringe ich mein Leben zu, die morſchen Gebäude zu ſtützen. Ich hätte im Jahre 1900 geboren werden und das zwanzigſte Jahrhundert vor mir haben ſollen!“ Auf das erregbare Gemüth des Czaren waren die ſchauerlichen Ge- ſchichtsbilder des „Glaubensbekenntniſſes“ gut berechnet. Gleichwohl über- zeugten ſie ihn nicht gänzlich. Er blieb dabei, daß ein allgemeiner Ga- rantievertrag nur Mißtrauen erregen und nimmermehr auf den Beitritt aller Mächte rechnen könne. Auf ſeinen Wunſch wurde der unglückliche Gedanke, den er einſt ſelber zuerſt angeregt, endlich aufgegeben. *) — *) Ruſſiſche Denkſchrift, [FORMEL] December. Hardenberg’s und Bernſtorff’s Bericht, 20. Dec. 1820.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/184>, abgerufen am 24.11.2024.