Beide deutsche Mächte wiesen den unsinnigen Vorschlag weit von sich. Aber die Parteiwuth der Ultras blieb unbesänftigt und sie entlud sich endlich in rasendem Toben, als am 13. Febr. 1820 der einzige noch jugend- kräftige Sohn des königlichen Hauses, der Herzog von Berry durch einen radikalen Fanatiker, den Schlosser Louvel ermordet wurde. Es ergab sich sogleich, daß der Mörder ohne Mitwisser war, doch statt zu beruhigen erhöhte diese Entdeckung nur den unheimlichen Eindruck der Blutthat. Welch ein tödlicher Haß gegen die Bourbonen mußte die hauptstädtischen Massen beseelen, wenn ein schlichter Handwerker, der nur mit seines- gleichen verkehrte und radikale Zeitungen las, auf den Gedanken verfallen konnte durch die Vernichtung des Tyrannengeschlechtes das Vaterland zu erretten! Das königliche Haus schien dem Aussterben nahe, die Ultras schnaubten Rache und ziehen das gemäßigte Ministerium der Mitschuld. Schon nach fünf Tagen mußte der König den Bitten des Thronfolgers und der Prinzessinnen nachgeben und seinen Liebling Decazes entlassen. Chateaubriand rief dem Gestürzten die gräßliche Anklage nach: seine Füße sind im Blute ausgeglitten, er ist gefallen! Nunmehr übernahm Richelieu wieder die Leitung des Cabinets, in der ehrlichen Absicht, zugleich die radi- kalen Verschwörer zu schrecken und den Grimm der Ultras zu mäßigen. Das Wahlgesetz ward geändert, so daß die Höchstbesteuerten den gehässigen Vorzug eines doppelten Stimmrechts erhielten, die Freiheit der Presse und der Personen scharf beschränkt. Der alternde König hatte inzwischen an der Gräfin du Cayla einen neuen Günstling gefunden und näherte sich seitdem den Ultras.
Die großen Mächte verfolgten diesen Umschwung mit banger Be- sorgniß, sie hielten den wohlmeinenden Minister nicht für stark genug um den Sturm zu beschwören.*) In der That beförderten seine Maß- regeln nur die Erbitterung der Parteien. In Paris und anderen Städten rotteten sich die Massen zu wilden Aufläufen zusammen, und mehrmals floß Blut auf den Straßen. Im August ward in mehreren Garnisonen eine gefährliche Soldatenverschwörung entdeckt; ihre Fäden reichten, wie Jedermann fühlte, sehr weit hinauf in die Kreise der napoleonischen Offi- ziere und hinab bis zu dem geheimnißvollen Comite directeur, jedoch es gelang nicht sie ganz bloßzulegen. Und wieder wendeten sich leidenschaft- liche Ultras wie Sosthene de la Rochefoucauld hilfeflehend an die frem- den Mächte. Bergasse, derselbe unselige Mann, der, schon vor der Re- volution in Beaumarchais' Lustspielen gebrandmarkt, dann im Jahre 89 bei allen Staatsstreichsplänen des Hofes mitgeschlichen war, sendete jetzt (1. Sept.) dem Czaren Alexander eine Denkschrift, die an die schlimmsten
plik des Verfassers der Denkschrift, Berlin 8. Nov. 1819. Den Namen des Verfassers, der unzweifelhaft dem Pavillon Marsan nahe stand, vermag ich nicht anzugeben.
*) Krusemark's Berichte, Wien 21. Febr., 5. März 1820.
Ermordung des Herzogs von Berry.
Beide deutſche Mächte wieſen den unſinnigen Vorſchlag weit von ſich. Aber die Parteiwuth der Ultras blieb unbeſänftigt und ſie entlud ſich endlich in raſendem Toben, als am 13. Febr. 1820 der einzige noch jugend- kräftige Sohn des königlichen Hauſes, der Herzog von Berry durch einen radikalen Fanatiker, den Schloſſer Louvel ermordet wurde. Es ergab ſich ſogleich, daß der Mörder ohne Mitwiſſer war, doch ſtatt zu beruhigen erhöhte dieſe Entdeckung nur den unheimlichen Eindruck der Blutthat. Welch ein tödlicher Haß gegen die Bourbonen mußte die hauptſtädtiſchen Maſſen beſeelen, wenn ein ſchlichter Handwerker, der nur mit ſeines- gleichen verkehrte und radikale Zeitungen las, auf den Gedanken verfallen konnte durch die Vernichtung des Tyrannengeſchlechtes das Vaterland zu erretten! Das königliche Haus ſchien dem Ausſterben nahe, die Ultras ſchnaubten Rache und ziehen das gemäßigte Miniſterium der Mitſchuld. Schon nach fünf Tagen mußte der König den Bitten des Thronfolgers und der Prinzeſſinnen nachgeben und ſeinen Liebling Decazes entlaſſen. Chateaubriand rief dem Geſtürzten die gräßliche Anklage nach: ſeine Füße ſind im Blute ausgeglitten, er iſt gefallen! Nunmehr übernahm Richelieu wieder die Leitung des Cabinets, in der ehrlichen Abſicht, zugleich die radi- kalen Verſchwörer zu ſchrecken und den Grimm der Ultras zu mäßigen. Das Wahlgeſetz ward geändert, ſo daß die Höchſtbeſteuerten den gehäſſigen Vorzug eines doppelten Stimmrechts erhielten, die Freiheit der Preſſe und der Perſonen ſcharf beſchränkt. Der alternde König hatte inzwiſchen an der Gräfin du Cayla einen neuen Günſtling gefunden und näherte ſich ſeitdem den Ultras.
Die großen Mächte verfolgten dieſen Umſchwung mit banger Be- ſorgniß, ſie hielten den wohlmeinenden Miniſter nicht für ſtark genug um den Sturm zu beſchwören.*) In der That beförderten ſeine Maß- regeln nur die Erbitterung der Parteien. In Paris und anderen Städten rotteten ſich die Maſſen zu wilden Aufläufen zuſammen, und mehrmals floß Blut auf den Straßen. Im Auguſt ward in mehreren Garniſonen eine gefährliche Soldatenverſchwörung entdeckt; ihre Fäden reichten, wie Jedermann fühlte, ſehr weit hinauf in die Kreiſe der napoleoniſchen Offi- ziere und hinab bis zu dem geheimnißvollen Comité directeur, jedoch es gelang nicht ſie ganz bloßzulegen. Und wieder wendeten ſich leidenſchaft- liche Ultras wie Soſthène de la Rochefoucauld hilfeflehend an die frem- den Mächte. Bergaſſe, derſelbe unſelige Mann, der, ſchon vor der Re- volution in Beaumarchais’ Luſtſpielen gebrandmarkt, dann im Jahre 89 bei allen Staatsſtreichsplänen des Hofes mitgeſchlichen war, ſendete jetzt (1. Sept.) dem Czaren Alexander eine Denkſchrift, die an die ſchlimmſten
plik des Verfaſſers der Denkſchrift, Berlin 8. Nov. 1819. Den Namen des Verfaſſers, der unzweifelhaft dem Pavillon Marſan nahe ſtand, vermag ich nicht anzugeben.
*) Kruſemark’s Berichte, Wien 21. Febr., 5. März 1820.
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Ermordung des Herzogs von Berry.
Beide deutſche Mächte wieſen den unſinnigen Vorſchlag weit von ſich.
Aber die Parteiwuth der Ultras blieb unbeſänftigt und ſie entlud ſich
endlich in raſendem Toben, als am 13. Febr. 1820 der einzige noch jugend-
kräftige Sohn des königlichen Hauſes, der Herzog von Berry durch einen
radikalen Fanatiker, den Schloſſer Louvel ermordet wurde. Es ergab
ſich ſogleich, daß der Mörder ohne Mitwiſſer war, doch ſtatt zu beruhigen
erhöhte dieſe Entdeckung nur den unheimlichen Eindruck der Blutthat.
Welch ein tödlicher Haß gegen die Bourbonen mußte die hauptſtädtiſchen
Maſſen beſeelen, wenn ein ſchlichter Handwerker, der nur mit ſeines-
gleichen verkehrte und radikale Zeitungen las, auf den Gedanken verfallen
konnte durch die Vernichtung des Tyrannengeſchlechtes das Vaterland zu
erretten! Das königliche Haus ſchien dem Ausſterben nahe, die Ultras
ſchnaubten Rache und ziehen das gemäßigte Miniſterium der Mitſchuld.
Schon nach fünf Tagen mußte der König den Bitten des Thronfolgers
und der Prinzeſſinnen nachgeben und ſeinen Liebling Decazes entlaſſen.
Chateaubriand rief dem Geſtürzten die gräßliche Anklage nach: ſeine Füße
ſind im Blute ausgeglitten, er iſt gefallen! Nunmehr übernahm Richelieu
wieder die Leitung des Cabinets, in der ehrlichen Abſicht, zugleich die radi-
kalen Verſchwörer zu ſchrecken und den Grimm der Ultras zu mäßigen.
Das Wahlgeſetz ward geändert, ſo daß die Höchſtbeſteuerten den gehäſſigen
Vorzug eines doppelten Stimmrechts erhielten, die Freiheit der Preſſe und
der Perſonen ſcharf beſchränkt. Der alternde König hatte inzwiſchen an
der Gräfin du Cayla einen neuen Günſtling gefunden und näherte ſich
ſeitdem den Ultras.
Die großen Mächte verfolgten dieſen Umſchwung mit banger Be-
ſorgniß, ſie hielten den wohlmeinenden Miniſter nicht für ſtark genug
um den Sturm zu beſchwören. *) In der That beförderten ſeine Maß-
regeln nur die Erbitterung der Parteien. In Paris und anderen Städten
rotteten ſich die Maſſen zu wilden Aufläufen zuſammen, und mehrmals
floß Blut auf den Straßen. Im Auguſt ward in mehreren Garniſonen
eine gefährliche Soldatenverſchwörung entdeckt; ihre Fäden reichten, wie
Jedermann fühlte, ſehr weit hinauf in die Kreiſe der napoleoniſchen Offi-
ziere und hinab bis zu dem geheimnißvollen Comité directeur, jedoch es
gelang nicht ſie ganz bloßzulegen. Und wieder wendeten ſich leidenſchaft-
liche Ultras wie Soſthène de la Rochefoucauld hilfeflehend an die frem-
den Mächte. Bergaſſe, derſelbe unſelige Mann, der, ſchon vor der Re-
volution in Beaumarchais’ Luſtſpielen gebrandmarkt, dann im Jahre 89
bei allen Staatsſtreichsplänen des Hofes mitgeſchlichen war, ſendete jetzt
(1. Sept.) dem Czaren Alexander eine Denkſchrift, die an die ſchlimmſten
*)
*) Kruſemark’s Berichte, Wien 21. Febr., 5. März 1820.
*) plik des Verfaſſers der Denkſchrift, Berlin 8. Nov. 1819. Den Namen des Verfaſſers,
der unzweifelhaft dem Pavillon Marſan nahe ſtand, vermag ich nicht anzugeben.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/159>, abgerufen am 27.11.2024.
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