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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Landgemeinde- und Städte-Ordnung.
wegs zu verlangen, über die Patrimonalgerichte hatte sie ohnehin nichts
zu entscheiden; sie sah auch ein, daß man den Grundherrn zum Eintritt
in die Dorfgemeinde, die ihm vor Kurzem noch unterthänig gewesen, nicht
ohne Weiteres zwingen durfte. Auf der anderen Seite war die Wiederein-
führung der Gutsherrschaft in den westlichen Provinzen unmöglich und die
Ernennung des Schulzen durch den Grundherrn jetzt eine offenbare Un-
gerechtigkeit, da die Interessen des Dorfes und des Ritterguts bei der
noch unvollendeten Auseinandersetzung oft genug feindlich auf einander
stießen. Daher ward ein Mittelweg eingeschlagen. Der Grundherr sollte
einstweilen behalten was ihm von Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt noch
zustand, aber der Landrath war befugt in Polizeisachen dem Dorfschulzen
unmittelbar zu befehlen. Der Gutsherr durfte ferner beim Landrath Ein-
spruch erheben gegen die Schulzenwahl und zur Wahrung seiner Rechte
sich das Gemeindebuch vorlegen lassen; er konnte endlich verlangen, daß
sein Gut, wenn es bisher dem Dorfverbande noch nicht angehört hatte,
auch fernerhin einen besonderen Gutsbezirk unter seiner persönlichen Lei-
tung bilden solle. Die ausgesprochene Absicht dieser Vorschläge ging da-
hin, den Dörfern und den Gutsbezirken in Zukunft "die gänzliche Ver-
einigung zu erleichtern". Aber wie gründlich täuschte man sich doch am
grünen Tische über die Gesinnung des Landadels, wenn die Commission
hoffen konnte, die Grundherren würden ihre Polizeigewalt bald selber "als
eine unnütze Last betrachten".

Minder tief griffen die Vorschläge der Commission in die Städte-
ordnung ein. Hier galt es nur einige Mängel des Stein'schen Gesetzes zu
beseitigen, welche sich in der Erfahrung erwiesen hatten und von Stein
selbst nicht abgeleugnet wurden. Jedermann gab zu, daß die Städteord-
nung die grundverschiedenen Verhältnisse der einzelnen Communen allzu
gleichmäßig regelte; darum forderte die Commission für jede Stadt die
Befugniß, mit Genehmigung des Staates ein Ortsstatut zu vereinbaren.
Sodann hatte das Bürgerrecht seit der Einführung der Gewerbefreiheit
seine wirthschaftliche Bedeutung verloren; Gewerbe zu treiben, städtische
Grundstücke zu erwerben stand jetzt einem Jeden frei. Das einzige we-
sentliche Recht des Bürgers blieb fortan die Theilnahme an der Gemeinde-
verwaltung. Demgemäß verlangte die Commission, daß fortan den soge-
nannten Notabeln, den Staatsdienern, Geistlichen, Gelehrten, die bisher
zumeist Schutzverwandte geblieben waren, die Erwerbung des Bürgerrechts
erleichtert würde; von dem hohen Census aber, dessen Einführung die
Hochconservativen forderten, wollte sie nichts hören.

Eine andere Beschwerde der Conservativen richtete sich wider die
mangelhafte Staatsaufsicht; "unsere Städte sind zu kleinen Republiken ge-
worden", hieß es im Lager der altständischen Partei. In der That ließ
der Staat die großen Communen ganz frei gewähren und den Magistraten
selbst grobe Gesetzesverletzungen hingehen; es kam vor, daß eine Stadt

Landgemeinde- und Städte-Ordnung.
wegs zu verlangen, über die Patrimonalgerichte hatte ſie ohnehin nichts
zu entſcheiden; ſie ſah auch ein, daß man den Grundherrn zum Eintritt
in die Dorfgemeinde, die ihm vor Kurzem noch unterthänig geweſen, nicht
ohne Weiteres zwingen durfte. Auf der anderen Seite war die Wiederein-
führung der Gutsherrſchaft in den weſtlichen Provinzen unmöglich und die
Ernennung des Schulzen durch den Grundherrn jetzt eine offenbare Un-
gerechtigkeit, da die Intereſſen des Dorfes und des Ritterguts bei der
noch unvollendeten Auseinanderſetzung oft genug feindlich auf einander
ſtießen. Daher ward ein Mittelweg eingeſchlagen. Der Grundherr ſollte
einſtweilen behalten was ihm von Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt noch
zuſtand, aber der Landrath war befugt in Polizeiſachen dem Dorfſchulzen
unmittelbar zu befehlen. Der Gutsherr durfte ferner beim Landrath Ein-
ſpruch erheben gegen die Schulzenwahl und zur Wahrung ſeiner Rechte
ſich das Gemeindebuch vorlegen laſſen; er konnte endlich verlangen, daß
ſein Gut, wenn es bisher dem Dorfverbande noch nicht angehört hatte,
auch fernerhin einen beſonderen Gutsbezirk unter ſeiner perſönlichen Lei-
tung bilden ſolle. Die ausgeſprochene Abſicht dieſer Vorſchläge ging da-
hin, den Dörfern und den Gutsbezirken in Zukunft „die gänzliche Ver-
einigung zu erleichtern“. Aber wie gründlich täuſchte man ſich doch am
grünen Tiſche über die Geſinnung des Landadels, wenn die Commiſſion
hoffen konnte, die Grundherren würden ihre Polizeigewalt bald ſelber „als
eine unnütze Laſt betrachten“.

Minder tief griffen die Vorſchläge der Commiſſion in die Städte-
ordnung ein. Hier galt es nur einige Mängel des Stein’ſchen Geſetzes zu
beſeitigen, welche ſich in der Erfahrung erwieſen hatten und von Stein
ſelbſt nicht abgeleugnet wurden. Jedermann gab zu, daß die Städteord-
nung die grundverſchiedenen Verhältniſſe der einzelnen Communen allzu
gleichmäßig regelte; darum forderte die Commiſſion für jede Stadt die
Befugniß, mit Genehmigung des Staates ein Ortsſtatut zu vereinbaren.
Sodann hatte das Bürgerrecht ſeit der Einführung der Gewerbefreiheit
ſeine wirthſchaftliche Bedeutung verloren; Gewerbe zu treiben, ſtädtiſche
Grundſtücke zu erwerben ſtand jetzt einem Jeden frei. Das einzige we-
ſentliche Recht des Bürgers blieb fortan die Theilnahme an der Gemeinde-
verwaltung. Demgemäß verlangte die Commiſſion, daß fortan den ſoge-
nannten Notabeln, den Staatsdienern, Geiſtlichen, Gelehrten, die bisher
zumeiſt Schutzverwandte geblieben waren, die Erwerbung des Bürgerrechts
erleichtert würde; von dem hohen Cenſus aber, deſſen Einführung die
Hochconſervativen forderten, wollte ſie nichts hören.

Eine andere Beſchwerde der Conſervativen richtete ſich wider die
mangelhafte Staatsaufſicht; „unſere Städte ſind zu kleinen Republiken ge-
worden“, hieß es im Lager der altſtändiſchen Partei. In der That ließ
der Staat die großen Communen ganz frei gewähren und den Magiſtraten
ſelbſt grobe Geſetzesverletzungen hingehen; es kam vor, daß eine Stadt

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[109/0125] Landgemeinde- und Städte-Ordnung. wegs zu verlangen, über die Patrimonalgerichte hatte ſie ohnehin nichts zu entſcheiden; ſie ſah auch ein, daß man den Grundherrn zum Eintritt in die Dorfgemeinde, die ihm vor Kurzem noch unterthänig geweſen, nicht ohne Weiteres zwingen durfte. Auf der anderen Seite war die Wiederein- führung der Gutsherrſchaft in den weſtlichen Provinzen unmöglich und die Ernennung des Schulzen durch den Grundherrn jetzt eine offenbare Un- gerechtigkeit, da die Intereſſen des Dorfes und des Ritterguts bei der noch unvollendeten Auseinanderſetzung oft genug feindlich auf einander ſtießen. Daher ward ein Mittelweg eingeſchlagen. Der Grundherr ſollte einſtweilen behalten was ihm von Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt noch zuſtand, aber der Landrath war befugt in Polizeiſachen dem Dorfſchulzen unmittelbar zu befehlen. Der Gutsherr durfte ferner beim Landrath Ein- ſpruch erheben gegen die Schulzenwahl und zur Wahrung ſeiner Rechte ſich das Gemeindebuch vorlegen laſſen; er konnte endlich verlangen, daß ſein Gut, wenn es bisher dem Dorfverbande noch nicht angehört hatte, auch fernerhin einen beſonderen Gutsbezirk unter ſeiner perſönlichen Lei- tung bilden ſolle. Die ausgeſprochene Abſicht dieſer Vorſchläge ging da- hin, den Dörfern und den Gutsbezirken in Zukunft „die gänzliche Ver- einigung zu erleichtern“. Aber wie gründlich täuſchte man ſich doch am grünen Tiſche über die Geſinnung des Landadels, wenn die Commiſſion hoffen konnte, die Grundherren würden ihre Polizeigewalt bald ſelber „als eine unnütze Laſt betrachten“. Minder tief griffen die Vorſchläge der Commiſſion in die Städte- ordnung ein. Hier galt es nur einige Mängel des Stein’ſchen Geſetzes zu beſeitigen, welche ſich in der Erfahrung erwieſen hatten und von Stein ſelbſt nicht abgeleugnet wurden. Jedermann gab zu, daß die Städteord- nung die grundverſchiedenen Verhältniſſe der einzelnen Communen allzu gleichmäßig regelte; darum forderte die Commiſſion für jede Stadt die Befugniß, mit Genehmigung des Staates ein Ortsſtatut zu vereinbaren. Sodann hatte das Bürgerrecht ſeit der Einführung der Gewerbefreiheit ſeine wirthſchaftliche Bedeutung verloren; Gewerbe zu treiben, ſtädtiſche Grundſtücke zu erwerben ſtand jetzt einem Jeden frei. Das einzige we- ſentliche Recht des Bürgers blieb fortan die Theilnahme an der Gemeinde- verwaltung. Demgemäß verlangte die Commiſſion, daß fortan den ſoge- nannten Notabeln, den Staatsdienern, Geiſtlichen, Gelehrten, die bisher zumeiſt Schutzverwandte geblieben waren, die Erwerbung des Bürgerrechts erleichtert würde; von dem hohen Cenſus aber, deſſen Einführung die Hochconſervativen forderten, wollte ſie nichts hören. Eine andere Beſchwerde der Conſervativen richtete ſich wider die mangelhafte Staatsaufſicht; „unſere Städte ſind zu kleinen Republiken ge- worden“, hieß es im Lager der altſtändiſchen Partei. In der That ließ der Staat die großen Communen ganz frei gewähren und den Magiſtraten ſelbſt grobe Geſetzesverletzungen hingehen; es kam vor, daß eine Stadt

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/125>, abgerufen am 27.04.2024.