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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
schon durch die Cabinetsordre vom 17. Januar das Staatsministerium
an die schleunige Ausarbeitung der Communalordnung erinnert hatte, be-
fahl er am 12. Februar die Bildung einer besonderen Commission, welche
die gesammte erste Hälfte des Hardenbergischen Verfassungsplanes, Ge-
meinde- und Kreisordnung, binnen vier Wochen ins Reine bringen und
sodann ihre Arbeit "wegen des innigen Zusammenhanges mit der allge-
meinen ständischen Verfassung" dem Ausschusse für die ständischen Ange-
legenheiten vorlegen sollte. Die Commission bestand durchweg aus treff-
lichen Beamten: Friese führte den Vorsitz, zu Mitgliedern wurden Daniels,
Eichhorn, Bernuth, Streckfuß, nachher auch Köhler und Vincke berufen.*)
Aber ihr Werk mißrieth, und dies Mißlingen ward verhängnißvoll: so-
bald der Unterbau der Verfassung sich als morsch erwies, stürzte das ganze
Gebäude. An die feudale Verwaltung des flachen Landes war selbst der
reformatorische Wille der großen Könige des achtzehnten Jahrhunderts
immer nur behutsam herangetreten; hier in den breiten Niederungen des
Staats hatte die unzähmbare Lust der Deutschen an örtlichem Sonder-
brauche von jeher freies Spiel, hier lag das letzte und stärkste Bollwerk
der altständischen Macht, hier herrschte noch ungebrochen ein uraltes Her-
kommen, und es war kein Zufall, daß an der zähen Kraft dieses örtlichen
Kleinlebens, das dem alten absoluten Königthum so lange getrotzt hatte,
auch der erste Versuch constitutioneller Reformpolitik zerschellte. --

Noch einmal mußte Preußen die verderblichen Folgen von Stein's
frühem Sturze schwer empfinden. Der große Reformer hatte, als er fiel,
den Entwurf einer Landgemeindeordnung fast vollendet hinterlassen. Wäre
dies Werk damals ins Leben getreten, was nur Stein's eisernem Willen
gelingen konnte, so hätte die Gesetzgebung jetzt das Communalleben der
alten Provinzen in leidlicher Ordnung und damit einen festen Anhalt für
weitere Reformen vorgefunden. Wie nun die Dinge lagen stand die
Commission rathlos einer unübersehbaren Mannichfaltigkeit örtlicher Son-
derrechte und Sonderbräuche, einem schlechthin chaotischen Zustande gegen-
über. In den östlichen Provinzen bestanden etwa 25,000 Landgemeinden
und 15,000 Rittergutsbezirke. Unter dieser ungeheueren Zahl befanden
sich zwar manche starkbevölkerte, halbstädtische Ortschaften, wie Langen-
bielau und die anderen gewerbreichen Dörfer, die sich stundenweit in den
Thälern des Riesengebirges hinaufzogen; doch die große Mehrzahl der
Landgemeinden des Nordostens war über die einfachen Zustände der ersten
Zeiten deutscher Ansiedelung noch kaum hinausgekommen. Das kleine,
um den Herrenhof planmäßig angesiedelte Kolonistendorf bildete noch immer
die Regel; Gemeinden von hundert, ja fünfzig Köpfen waren nicht selten,
eine Ortschaft von vierhundert Einwohnern galt schon für ein großes
Dorf. Dies Kleingemeindethum hatte den Bedürfnissen des Landvolks

*) Cabinetsordre vom 12. Febr. 1820.

III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
ſchon durch die Cabinetsordre vom 17. Januar das Staatsminiſterium
an die ſchleunige Ausarbeitung der Communalordnung erinnert hatte, be-
fahl er am 12. Februar die Bildung einer beſonderen Commiſſion, welche
die geſammte erſte Hälfte des Hardenbergiſchen Verfaſſungsplanes, Ge-
meinde- und Kreisordnung, binnen vier Wochen ins Reine bringen und
ſodann ihre Arbeit „wegen des innigen Zuſammenhanges mit der allge-
meinen ſtändiſchen Verfaſſung“ dem Ausſchuſſe für die ſtändiſchen Ange-
legenheiten vorlegen ſollte. Die Commiſſion beſtand durchweg aus treff-
lichen Beamten: Frieſe führte den Vorſitz, zu Mitgliedern wurden Daniels,
Eichhorn, Bernuth, Streckfuß, nachher auch Köhler und Vincke berufen.*)
Aber ihr Werk mißrieth, und dies Mißlingen ward verhängnißvoll: ſo-
bald der Unterbau der Verfaſſung ſich als morſch erwies, ſtürzte das ganze
Gebäude. An die feudale Verwaltung des flachen Landes war ſelbſt der
reformatoriſche Wille der großen Könige des achtzehnten Jahrhunderts
immer nur behutſam herangetreten; hier in den breiten Niederungen des
Staats hatte die unzähmbare Luſt der Deutſchen an örtlichem Sonder-
brauche von jeher freies Spiel, hier lag das letzte und ſtärkſte Bollwerk
der altſtändiſchen Macht, hier herrſchte noch ungebrochen ein uraltes Her-
kommen, und es war kein Zufall, daß an der zähen Kraft dieſes örtlichen
Kleinlebens, das dem alten abſoluten Königthum ſo lange getrotzt hatte,
auch der erſte Verſuch conſtitutioneller Reformpolitik zerſchellte. —

Noch einmal mußte Preußen die verderblichen Folgen von Stein’s
frühem Sturze ſchwer empfinden. Der große Reformer hatte, als er fiel,
den Entwurf einer Landgemeindeordnung faſt vollendet hinterlaſſen. Wäre
dies Werk damals ins Leben getreten, was nur Stein’s eiſernem Willen
gelingen konnte, ſo hätte die Geſetzgebung jetzt das Communalleben der
alten Provinzen in leidlicher Ordnung und damit einen feſten Anhalt für
weitere Reformen vorgefunden. Wie nun die Dinge lagen ſtand die
Commiſſion rathlos einer unüberſehbaren Mannichfaltigkeit örtlicher Son-
derrechte und Sonderbräuche, einem ſchlechthin chaotiſchen Zuſtande gegen-
über. In den öſtlichen Provinzen beſtanden etwa 25,000 Landgemeinden
und 15,000 Rittergutsbezirke. Unter dieſer ungeheueren Zahl befanden
ſich zwar manche ſtarkbevölkerte, halbſtädtiſche Ortſchaften, wie Langen-
bielau und die anderen gewerbreichen Dörfer, die ſich ſtundenweit in den
Thälern des Rieſengebirges hinaufzogen; doch die große Mehrzahl der
Landgemeinden des Nordoſtens war über die einfachen Zuſtände der erſten
Zeiten deutſcher Anſiedelung noch kaum hinausgekommen. Das kleine,
um den Herrenhof planmäßig angeſiedelte Koloniſtendorf bildete noch immer
die Regel; Gemeinden von hundert, ja fünfzig Köpfen waren nicht ſelten,
eine Ortſchaft von vierhundert Einwohnern galt ſchon für ein großes
Dorf. Dies Kleingemeindethum hatte den Bedürfniſſen des Landvolks

*) Cabinetsordre vom 12. Febr. 1820.
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[100/0116] III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs. ſchon durch die Cabinetsordre vom 17. Januar das Staatsminiſterium an die ſchleunige Ausarbeitung der Communalordnung erinnert hatte, be- fahl er am 12. Februar die Bildung einer beſonderen Commiſſion, welche die geſammte erſte Hälfte des Hardenbergiſchen Verfaſſungsplanes, Ge- meinde- und Kreisordnung, binnen vier Wochen ins Reine bringen und ſodann ihre Arbeit „wegen des innigen Zuſammenhanges mit der allge- meinen ſtändiſchen Verfaſſung“ dem Ausſchuſſe für die ſtändiſchen Ange- legenheiten vorlegen ſollte. Die Commiſſion beſtand durchweg aus treff- lichen Beamten: Frieſe führte den Vorſitz, zu Mitgliedern wurden Daniels, Eichhorn, Bernuth, Streckfuß, nachher auch Köhler und Vincke berufen. *) Aber ihr Werk mißrieth, und dies Mißlingen ward verhängnißvoll: ſo- bald der Unterbau der Verfaſſung ſich als morſch erwies, ſtürzte das ganze Gebäude. An die feudale Verwaltung des flachen Landes war ſelbſt der reformatoriſche Wille der großen Könige des achtzehnten Jahrhunderts immer nur behutſam herangetreten; hier in den breiten Niederungen des Staats hatte die unzähmbare Luſt der Deutſchen an örtlichem Sonder- brauche von jeher freies Spiel, hier lag das letzte und ſtärkſte Bollwerk der altſtändiſchen Macht, hier herrſchte noch ungebrochen ein uraltes Her- kommen, und es war kein Zufall, daß an der zähen Kraft dieſes örtlichen Kleinlebens, das dem alten abſoluten Königthum ſo lange getrotzt hatte, auch der erſte Verſuch conſtitutioneller Reformpolitik zerſchellte. — Noch einmal mußte Preußen die verderblichen Folgen von Stein’s frühem Sturze ſchwer empfinden. Der große Reformer hatte, als er fiel, den Entwurf einer Landgemeindeordnung faſt vollendet hinterlaſſen. Wäre dies Werk damals ins Leben getreten, was nur Stein’s eiſernem Willen gelingen konnte, ſo hätte die Geſetzgebung jetzt das Communalleben der alten Provinzen in leidlicher Ordnung und damit einen feſten Anhalt für weitere Reformen vorgefunden. Wie nun die Dinge lagen ſtand die Commiſſion rathlos einer unüberſehbaren Mannichfaltigkeit örtlicher Son- derrechte und Sonderbräuche, einem ſchlechthin chaotiſchen Zuſtande gegen- über. In den öſtlichen Provinzen beſtanden etwa 25,000 Landgemeinden und 15,000 Rittergutsbezirke. Unter dieſer ungeheueren Zahl befanden ſich zwar manche ſtarkbevölkerte, halbſtädtiſche Ortſchaften, wie Langen- bielau und die anderen gewerbreichen Dörfer, die ſich ſtundenweit in den Thälern des Rieſengebirges hinaufzogen; doch die große Mehrzahl der Landgemeinden des Nordoſtens war über die einfachen Zuſtände der erſten Zeiten deutſcher Anſiedelung noch kaum hinausgekommen. Das kleine, um den Herrenhof planmäßig angeſiedelte Koloniſtendorf bildete noch immer die Regel; Gemeinden von hundert, ja fünfzig Köpfen waren nicht ſelten, eine Ortſchaft von vierhundert Einwohnern galt ſchon für ein großes Dorf. Dies Kleingemeindethum hatte den Bedürfniſſen des Landvolks *) Cabinetsordre vom 12. Febr. 1820.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/116>, abgerufen am 05.12.2024.