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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
schaftliche sogar, daß der epikuräische Zeitgeist dieser genügsamen Tage jede
wissenschaftliche Arbeit untergrabe! Sein zartbesaitetes Gemüth empfand
ein Grauen vor den bildungsfeindlichen Mächten der Revolution; schon als
Student hatte er beim Durchlesen von Fichtes Vertheidigung der Revo-
lution ausgerufen: was bleibe noch übrig als der Tod wenn solche Grund-
sätze zur Herrschaft gelangten! Der Sohn eines berühmten Vaters, und
zudem eines jener seltenen Wunderkinder, die als Männer halten was
ihre Frühreife zu verheißen schien, ward er von Kindesbeinen an ver-
wöhnt durch die Bewunderung seiner Umgebungen und selber schon be-
rühmt bevor er noch etwas geschrieben hatte; dann stand der Liebevolle
sein Lebelang in vertrauter, zärtlicher Freundschaft mit geistvollen Män-
nern wie Graf Moltke, Dahlmann, Graf Deserre; das Platte und
Niedrige ließ er nicht an sich heran. Was Wunder, daß diesem Aristo-
kraten des Geistes nichts entsetzlicher vorkam als jene Macht der breiten
Mittelmäßigkeit, die in demokratischen Epochen immer das große Wort führt.

Wenn er die politische Unreife seines Volks und die Trivialität der
landläufigen constitutionellen Doktrinen betrachtete, dann schien ihm mit
Steins Verwaltungsreformen vorläufig genug geschehen, und er mußte
von dem beherzteren Dahlmann den Einwurf hören: "Verfassung und
Verwaltung bilden keine Parallelen, es kommt der Punkt, auf welchem
sie unfehlbar zusammenlaufen um nicht wieder aus einander zu weichen."
Obgleich er die Nichtswürdigkeit der italienischen Regierungen durchschaute
und offen aussprach, Rom sei unter Napoleon weit glücklicher gewesen
als unter dem wiederhergestellten Papstthum, so übermannte ihn doch der
Todhaß wider die Revolution sobald der erste Aufstand von dem miß-
handelten Volke gewagt ward, und zornig rief er, nur ein Narr oder
ein Bösewicht könne in diesem Lande von Freiheit reden! Der weitblickende
Denker, der schon damals mit wunderbarer Sicherheit den Krieg zwischen
dem Süden und dem Norden der amerikanischen Union voraussah, be-
wies doch durch seinen niederländischen Verfassungsplan, daß die gründ-
lichste Kenntniß der Vergangenheit das gänzliche Mißverstehen der Gegen-
wart keineswegs ausschließt. Er kannte das wunderliche Staatsgebäude
der Republik der sieben Provinzen bis in seine letzten Ecken und Winkel
und wußte, warum es morsch zusammengebrochen war. Als ihn aber im
November 1813 der Prinz von Oranien aufforderte seine Vorschläge für
den Neubau niederzuschreiben, da konnte sich der Feind der Revolution
doch nicht entschließen, den gewaltigen Umsturz, der seit dem Jahre 1794
über das Land gekommen war, mindestens als eine Thatsache anzuerken-
nen. Der durch Frankreichs Waffen geschaffene, aber durch die Geschichte
des Landes längst vorbereitete Einheitsstaat galt ihm als revolutionäre
Einerleiheit; alles Ernstes dachte er den gänzlich vernichteten Foederalismus
wieder zu beleben und forderte die Wiederherstellung des alten Staa-
tenbundes. Die historische Pietät verführte ihn also zu einem Entwurfe,

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
ſchaftliche ſogar, daß der epikuräiſche Zeitgeiſt dieſer genügſamen Tage jede
wiſſenſchaftliche Arbeit untergrabe! Sein zartbeſaitetes Gemüth empfand
ein Grauen vor den bildungsfeindlichen Mächten der Revolution; ſchon als
Student hatte er beim Durchleſen von Fichtes Vertheidigung der Revo-
lution ausgerufen: was bleibe noch übrig als der Tod wenn ſolche Grund-
ſätze zur Herrſchaft gelangten! Der Sohn eines berühmten Vaters, und
zudem eines jener ſeltenen Wunderkinder, die als Männer halten was
ihre Frühreife zu verheißen ſchien, ward er von Kindesbeinen an ver-
wöhnt durch die Bewunderung ſeiner Umgebungen und ſelber ſchon be-
rühmt bevor er noch etwas geſchrieben hatte; dann ſtand der Liebevolle
ſein Lebelang in vertrauter, zärtlicher Freundſchaft mit geiſtvollen Män-
nern wie Graf Moltke, Dahlmann, Graf Deſerre; das Platte und
Niedrige ließ er nicht an ſich heran. Was Wunder, daß dieſem Ariſto-
kraten des Geiſtes nichts entſetzlicher vorkam als jene Macht der breiten
Mittelmäßigkeit, die in demokratiſchen Epochen immer das große Wort führt.

Wenn er die politiſche Unreife ſeines Volks und die Trivialität der
landläufigen conſtitutionellen Doktrinen betrachtete, dann ſchien ihm mit
Steins Verwaltungsreformen vorläufig genug geſchehen, und er mußte
von dem beherzteren Dahlmann den Einwurf hören: „Verfaſſung und
Verwaltung bilden keine Parallelen, es kommt der Punkt, auf welchem
ſie unfehlbar zuſammenlaufen um nicht wieder aus einander zu weichen.“
Obgleich er die Nichtswürdigkeit der italieniſchen Regierungen durchſchaute
und offen ausſprach, Rom ſei unter Napoleon weit glücklicher geweſen
als unter dem wiederhergeſtellten Papſtthum, ſo übermannte ihn doch der
Todhaß wider die Revolution ſobald der erſte Aufſtand von dem miß-
handelten Volke gewagt ward, und zornig rief er, nur ein Narr oder
ein Böſewicht könne in dieſem Lande von Freiheit reden! Der weitblickende
Denker, der ſchon damals mit wunderbarer Sicherheit den Krieg zwiſchen
dem Süden und dem Norden der amerikaniſchen Union vorausſah, be-
wies doch durch ſeinen niederländiſchen Verfaſſungsplan, daß die gründ-
lichſte Kenntniß der Vergangenheit das gänzliche Mißverſtehen der Gegen-
wart keineswegs ausſchließt. Er kannte das wunderliche Staatsgebäude
der Republik der ſieben Provinzen bis in ſeine letzten Ecken und Winkel
und wußte, warum es morſch zuſammengebrochen war. Als ihn aber im
November 1813 der Prinz von Oranien aufforderte ſeine Vorſchläge für
den Neubau niederzuſchreiben, da konnte ſich der Feind der Revolution
doch nicht entſchließen, den gewaltigen Umſturz, der ſeit dem Jahre 1794
über das Land gekommen war, mindeſtens als eine Thatſache anzuerken-
nen. Der durch Frankreichs Waffen geſchaffene, aber durch die Geſchichte
des Landes längſt vorbereitete Einheitsſtaat galt ihm als revolutionäre
Einerleiheit; alles Ernſtes dachte er den gänzlich vernichteten Foederalismus
wieder zu beleben und forderte die Wiederherſtellung des alten Staa-
tenbundes. Die hiſtoriſche Pietät verführte ihn alſo zu einem Entwurfe,

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[66/0080] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. ſchaftliche ſogar, daß der epikuräiſche Zeitgeiſt dieſer genügſamen Tage jede wiſſenſchaftliche Arbeit untergrabe! Sein zartbeſaitetes Gemüth empfand ein Grauen vor den bildungsfeindlichen Mächten der Revolution; ſchon als Student hatte er beim Durchleſen von Fichtes Vertheidigung der Revo- lution ausgerufen: was bleibe noch übrig als der Tod wenn ſolche Grund- ſätze zur Herrſchaft gelangten! Der Sohn eines berühmten Vaters, und zudem eines jener ſeltenen Wunderkinder, die als Männer halten was ihre Frühreife zu verheißen ſchien, ward er von Kindesbeinen an ver- wöhnt durch die Bewunderung ſeiner Umgebungen und ſelber ſchon be- rühmt bevor er noch etwas geſchrieben hatte; dann ſtand der Liebevolle ſein Lebelang in vertrauter, zärtlicher Freundſchaft mit geiſtvollen Män- nern wie Graf Moltke, Dahlmann, Graf Deſerre; das Platte und Niedrige ließ er nicht an ſich heran. Was Wunder, daß dieſem Ariſto- kraten des Geiſtes nichts entſetzlicher vorkam als jene Macht der breiten Mittelmäßigkeit, die in demokratiſchen Epochen immer das große Wort führt. Wenn er die politiſche Unreife ſeines Volks und die Trivialität der landläufigen conſtitutionellen Doktrinen betrachtete, dann ſchien ihm mit Steins Verwaltungsreformen vorläufig genug geſchehen, und er mußte von dem beherzteren Dahlmann den Einwurf hören: „Verfaſſung und Verwaltung bilden keine Parallelen, es kommt der Punkt, auf welchem ſie unfehlbar zuſammenlaufen um nicht wieder aus einander zu weichen.“ Obgleich er die Nichtswürdigkeit der italieniſchen Regierungen durchſchaute und offen ausſprach, Rom ſei unter Napoleon weit glücklicher geweſen als unter dem wiederhergeſtellten Papſtthum, ſo übermannte ihn doch der Todhaß wider die Revolution ſobald der erſte Aufſtand von dem miß- handelten Volke gewagt ward, und zornig rief er, nur ein Narr oder ein Böſewicht könne in dieſem Lande von Freiheit reden! Der weitblickende Denker, der ſchon damals mit wunderbarer Sicherheit den Krieg zwiſchen dem Süden und dem Norden der amerikaniſchen Union vorausſah, be- wies doch durch ſeinen niederländiſchen Verfaſſungsplan, daß die gründ- lichſte Kenntniß der Vergangenheit das gänzliche Mißverſtehen der Gegen- wart keineswegs ausſchließt. Er kannte das wunderliche Staatsgebäude der Republik der ſieben Provinzen bis in ſeine letzten Ecken und Winkel und wußte, warum es morſch zuſammengebrochen war. Als ihn aber im November 1813 der Prinz von Oranien aufforderte ſeine Vorſchläge für den Neubau niederzuſchreiben, da konnte ſich der Feind der Revolution doch nicht entſchließen, den gewaltigen Umſturz, der ſeit dem Jahre 1794 über das Land gekommen war, mindeſtens als eine Thatſache anzuerken- nen. Der durch Frankreichs Waffen geſchaffene, aber durch die Geſchichte des Landes längſt vorbereitete Einheitsſtaat galt ihm als revolutionäre Einerleiheit; alles Ernſtes dachte er den gänzlich vernichteten Foederalismus wieder zu beleben und forderte die Wiederherſtellung des alten Staa- tenbundes. Die hiſtoriſche Pietät verführte ihn alſo zu einem Entwurfe,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/80>, abgerufen am 23.11.2024.