Der handelspolitische Kampf jener Jahre bewegte sich um die eine Frage: soll das preußische Zollgesetz aufrecht bleiben oder nicht? Und in diesem Streite stand Nebenius auf der Seite der Irrenden. Will man eine Denkschrift, welche also den leitenden politischen Gedanken der preußischen Handelspolitik bekämpft, als den bahnbrechenden Vorläufer des Zollvereins preisen, so muß man, kraft derselben Logik, auch Großdeutsche und Klein- deutsche für Gesinnungsgenossen erklären. Beide Parteien erstrebten be- kanntlich die deutsche Einheit, nur leider auf entgegengesetzten Wegen.
Der staatsmännische Sinn des geistvollen Badeners steht keineswegs auf gleicher Höhe mit seiner volkswirthschaftlichen Einsicht. Er hegt wohl Zweifel, ob Oesterreich dem Zollvereine beitreten könne, zu einem sicheren Schlusse gelangt er dennoch nicht. Noch im Jahre 1835 hat er den Eintritt Oesterreichs für möglich gehalten; dann werde der Zollverein "den schönsten aller Märkte bilden". Die schwerwiegenden politischen Gründe, welche einen solchen Gedanken für Preußen unannehmbar machten, sind ihm niemals klar geworden. Ebenso wenig will er begreifen, warum Preußen als eine europäische Macht die Selbständigkeit seiner Zollverwal- tung unbedingt aufrecht halten mußte; er verlangt eine in der Hand des Bundes centralisirte Zollverwaltung, die Mauthbeamten sollen allein dem Bunde vereidigt werden. Auch bei der Erörterung von Nebenfragen ver- mag er nicht immer hinauszublicken über den engen Gesichtskreis seines heimischen Kleinstaats. So will er, mit wenigen Ausnahmen, die ge- sammte Zollerhebung allein an den Grenzen stattfinden lassen, weil, nach der Ansicht des badischen Beamtenthums, diese Einrichtung dem Grenz- lande Baden besonderen Vortheil bringen sollte. Maassen dagegen ließ in allen größeren preußischen Plätzen Packhöfe und Zollstellen errichten, da ohne solche Erleichterung ein schwunghafter Speditionshandel offenbar nicht gedeihen konnte.
Neben diesen Irrthümern der Denkschrift steht freilich eine lange Reihe tief durchdachter, praktisch brauchbarer Vorschläge, doch ist kein ein- ziger darunter, welchen das preußische Cabinet nicht schon damals gekannt und angewendet hätte. Mit großer Klarheit entwickelt Nebenius den Satz, daß ohne Zollgemeinschaft die Freiheit des Verkehrs nicht möglich sei. Dieser Gedanke, der uns heute trivial und selbstverständlich erscheint, war der Diplomatie der Kleinstaaten jener Zeit völlig neu. Den Berliner Staats- männern war er wohlbekannt; denn nur jenen Staaten, die sich dem preußischen Zollsystem einfügen wollten, hatte Preußen freien Verkehr angeboten. Ebenso tief durchdacht waren die Grundzüge des Zolltarifs, welche Nebenius entwarf. Er will mäßige Finanzzölle, namentlich auf die Gegenstände allgemeinen Gebrauchs, auf die Colonialwaaren, legen; die dem heimischen Gewerbfleiß nothwendigen Rohstoffe giebt er frei, die Fabrik- waaren schützt er durch Zölle, die ungefähr der üblichen Schmuggelprämie entsprechen; feindselige Schritte des Auslands sollen mit Repressalien er-
Nebenius’ Denkſchrift.
Der handelspolitiſche Kampf jener Jahre bewegte ſich um die eine Frage: ſoll das preußiſche Zollgeſetz aufrecht bleiben oder nicht? Und in dieſem Streite ſtand Nebenius auf der Seite der Irrenden. Will man eine Denkſchrift, welche alſo den leitenden politiſchen Gedanken der preußiſchen Handelspolitik bekämpft, als den bahnbrechenden Vorläufer des Zollvereins preiſen, ſo muß man, kraft derſelben Logik, auch Großdeutſche und Klein- deutſche für Geſinnungsgenoſſen erklären. Beide Parteien erſtrebten be- kanntlich die deutſche Einheit, nur leider auf entgegengeſetzten Wegen.
Der ſtaatsmänniſche Sinn des geiſtvollen Badeners ſteht keineswegs auf gleicher Höhe mit ſeiner volkswirthſchaftlichen Einſicht. Er hegt wohl Zweifel, ob Oeſterreich dem Zollvereine beitreten könne, zu einem ſicheren Schluſſe gelangt er dennoch nicht. Noch im Jahre 1835 hat er den Eintritt Oeſterreichs für möglich gehalten; dann werde der Zollverein „den ſchönſten aller Märkte bilden“. Die ſchwerwiegenden politiſchen Gründe, welche einen ſolchen Gedanken für Preußen unannehmbar machten, ſind ihm niemals klar geworden. Ebenſo wenig will er begreifen, warum Preußen als eine europäiſche Macht die Selbſtändigkeit ſeiner Zollverwal- tung unbedingt aufrecht halten mußte; er verlangt eine in der Hand des Bundes centraliſirte Zollverwaltung, die Mauthbeamten ſollen allein dem Bunde vereidigt werden. Auch bei der Erörterung von Nebenfragen ver- mag er nicht immer hinauszublicken über den engen Geſichtskreis ſeines heimiſchen Kleinſtaats. So will er, mit wenigen Ausnahmen, die ge- ſammte Zollerhebung allein an den Grenzen ſtattfinden laſſen, weil, nach der Anſicht des badiſchen Beamtenthums, dieſe Einrichtung dem Grenz- lande Baden beſonderen Vortheil bringen ſollte. Maaſſen dagegen ließ in allen größeren preußiſchen Plätzen Packhöfe und Zollſtellen errichten, da ohne ſolche Erleichterung ein ſchwunghafter Speditionshandel offenbar nicht gedeihen konnte.
Neben dieſen Irrthümern der Denkſchrift ſteht freilich eine lange Reihe tief durchdachter, praktiſch brauchbarer Vorſchläge, doch iſt kein ein- ziger darunter, welchen das preußiſche Cabinet nicht ſchon damals gekannt und angewendet hätte. Mit großer Klarheit entwickelt Nebenius den Satz, daß ohne Zollgemeinſchaft die Freiheit des Verkehrs nicht möglich ſei. Dieſer Gedanke, der uns heute trivial und ſelbſtverſtändlich erſcheint, war der Diplomatie der Kleinſtaaten jener Zeit völlig neu. Den Berliner Staats- männern war er wohlbekannt; denn nur jenen Staaten, die ſich dem preußiſchen Zollſyſtem einfügen wollten, hatte Preußen freien Verkehr angeboten. Ebenſo tief durchdacht waren die Grundzüge des Zolltarifs, welche Nebenius entwarf. Er will mäßige Finanzzölle, namentlich auf die Gegenſtände allgemeinen Gebrauchs, auf die Colonialwaaren, legen; die dem heimiſchen Gewerbfleiß nothwendigen Rohſtoffe giebt er frei, die Fabrik- waaren ſchützt er durch Zölle, die ungefähr der üblichen Schmuggelprämie entſprechen; feindſelige Schritte des Auslands ſollen mit Repreſſalien er-
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Nebenius’ Denkſchrift.
Der handelspolitiſche Kampf jener Jahre bewegte ſich um die eine Frage:
ſoll das preußiſche Zollgeſetz aufrecht bleiben oder nicht? Und in dieſem
Streite ſtand Nebenius auf der Seite der Irrenden. Will man eine
Denkſchrift, welche alſo den leitenden politiſchen Gedanken der preußiſchen
Handelspolitik bekämpft, als den bahnbrechenden Vorläufer des Zollvereins
preiſen, ſo muß man, kraft derſelben Logik, auch Großdeutſche und Klein-
deutſche für Geſinnungsgenoſſen erklären. Beide Parteien erſtrebten be-
kanntlich die deutſche Einheit, nur leider auf entgegengeſetzten Wegen.
Der ſtaatsmänniſche Sinn des geiſtvollen Badeners ſteht keineswegs
auf gleicher Höhe mit ſeiner volkswirthſchaftlichen Einſicht. Er hegt wohl
Zweifel, ob Oeſterreich dem Zollvereine beitreten könne, zu einem ſicheren
Schluſſe gelangt er dennoch nicht. Noch im Jahre 1835 hat er den
Eintritt Oeſterreichs für möglich gehalten; dann werde der Zollverein „den
ſchönſten aller Märkte bilden“. Die ſchwerwiegenden politiſchen Gründe,
welche einen ſolchen Gedanken für Preußen unannehmbar machten, ſind
ihm niemals klar geworden. Ebenſo wenig will er begreifen, warum
Preußen als eine europäiſche Macht die Selbſtändigkeit ſeiner Zollverwal-
tung unbedingt aufrecht halten mußte; er verlangt eine in der Hand des
Bundes centraliſirte Zollverwaltung, die Mauthbeamten ſollen allein dem
Bunde vereidigt werden. Auch bei der Erörterung von Nebenfragen ver-
mag er nicht immer hinauszublicken über den engen Geſichtskreis ſeines
heimiſchen Kleinſtaats. So will er, mit wenigen Ausnahmen, die ge-
ſammte Zollerhebung allein an den Grenzen ſtattfinden laſſen, weil, nach
der Anſicht des badiſchen Beamtenthums, dieſe Einrichtung dem Grenz-
lande Baden beſonderen Vortheil bringen ſollte. Maaſſen dagegen ließ in
allen größeren preußiſchen Plätzen Packhöfe und Zollſtellen errichten, da
ohne ſolche Erleichterung ein ſchwunghafter Speditionshandel offenbar nicht
gedeihen konnte.
Neben dieſen Irrthümern der Denkſchrift ſteht freilich eine lange
Reihe tief durchdachter, praktiſch brauchbarer Vorſchläge, doch iſt kein ein-
ziger darunter, welchen das preußiſche Cabinet nicht ſchon damals gekannt und
angewendet hätte. Mit großer Klarheit entwickelt Nebenius den Satz, daß
ohne Zollgemeinſchaft die Freiheit des Verkehrs nicht möglich ſei. Dieſer
Gedanke, der uns heute trivial und ſelbſtverſtändlich erſcheint, war der
Diplomatie der Kleinſtaaten jener Zeit völlig neu. Den Berliner Staats-
männern war er wohlbekannt; denn nur jenen Staaten, die ſich dem
preußiſchen Zollſyſtem einfügen wollten, hatte Preußen freien Verkehr
angeboten. Ebenſo tief durchdacht waren die Grundzüge des Zolltarifs,
welche Nebenius entwarf. Er will mäßige Finanzzölle, namentlich auf die
Gegenſtände allgemeinen Gebrauchs, auf die Colonialwaaren, legen; die dem
heimiſchen Gewerbfleiß nothwendigen Rohſtoffe giebt er frei, die Fabrik-
waaren ſchützt er durch Zölle, die ungefähr der üblichen Schmuggelprämie
entſprechen; feindſelige Schritte des Auslands ſollen mit Repreſſalien er-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 615. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/629>, abgerufen am 22.11.2024.
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