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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Karl Sand.
Aufsatz gegen Kotzebue dem wilden Drange ein bestimmtes Ziel; der
frivole Schalk erschien dem tugendstolzen Schwärmer wie das Urbild aller
Sünden des alten Geschlechts, obwohl Sand von ihm nichts kannte als
ein paar Lustspiele und einige Wochenblatts-Artikel. In solcher Stimmung
kam der Unglückliche nach Jena, gerieth dort sogleich unter das Joch
Karl Follens, sog mit Begierde die Mordlehren der schwarzen Brüder
ein. Jetzt endlich -- so schrieb er bald nachdem er Follen kennen ge-
lernt -- habe er ein Ziel für sein Leben gefunden: "aus eigener Ueber-
zeugung, in eigener Art leben wollen mit unbedingtem Willen, im Volke
den reinen Rechtszustand, d. i. den einzig giltigen, den Gott gesetzt hat,
gegen alle Menschensatzung mit Leben und Tod zu vertheidigen." Sein
geistiges Vermögen reichte nicht aus um den schülerhaften Denkfehler, der
dem Moralsysteme Follens zu Grunde lag, zu durchschauen. Er brachte
es über sich sein Gewissen gleichsam zu theilen, blieb im täglichen Leben treu,
wahrhaft, hilfreich, nur gegen die Tyrannen schien ihm Alles erlaubt.
Seine theologischen Studien, die er über dem Verbindungsleben arg ver-
nachlässigt hatte, boten ihm doch die Mittel, um die Lehre der Gewissen-
losigkeit auf religiöse Gründe zu stützen; aus der Bibel und dem Thomas
a Kempis wähnte er den Satz herauszulesen: "wenn der Mensch die
Wahrheit so erkannt hat, daß er vor Gott sagen kann: das ist wahr --
so ist es auch Wahrheit wenn er es thut!" Und als er nun täglich "den
Meister der Vaterlandserretter," Karl Follen mit beredtem Munde die
sittliche Nothwendigkeit des Meuchelmordes preisen hörte, da kam ihm der
Gedanke sich selbst zu opfern für die gute Sache und zu erproben, ob
er das Volk durch den Schrecken einer heiligen Mordthat aus seinem
Schlummer aufrütteln könne.

Kalt, sicher, ganz mit sich einig traf er seine Vorbereitungen; er
hatte sich längst gewöhnt jeden Vertreter der gegnerischen Ansicht als einen
Todfeind zu betrachten, er lebte im Zustande des Krieges mit den Ge-
walthabern und ihren Helfershelfern, er war berechtigt Kotzebue mit dem
Dolche zu strafen, "weil er das Göttliche in mir, meine Ueberzeugung
unterdrücken will." Die niedrige Feigheit einer Gewaltthat gegen einen
wehrlosen Greis kam ihm ebenso wenig zum Bewußtsein, wie die sinn-
lose Thorheit eines Verbrechens, das an der bestehenden politischen Ord-
nung schlechterdings nichts bessern konnte. Auch die Todsünde des neun-
zehnten Jahrhunderts wirkte mit, jener impotente Größenwahnsinn, der
fast bei allen berufenen Verbrechen der modernen Geschichte seine Rolle
spielt. Sand war nicht blos aufgebläht durch den sittlichen Dünkel seiner
Sekte, sondern auch persönlich eitel: derweil er über seinen ruchlosen Ge-
danken brütet, zeichnet er sich auf ein Blatt sein eignes Bild, wie er auf
den Stufen einer Kirche knieend sich den Dolch ins Herz drückt, an der
Kirchthür aber hängt mit einem anderen Dolche angeheftet das Todes-
urtheil über Kotzebue. Sicherlich hat der unselige Mensch selbst geglaubt,

Karl Sand.
Aufſatz gegen Kotzebue dem wilden Drange ein beſtimmtes Ziel; der
frivole Schalk erſchien dem tugendſtolzen Schwärmer wie das Urbild aller
Sünden des alten Geſchlechts, obwohl Sand von ihm nichts kannte als
ein paar Luſtſpiele und einige Wochenblatts-Artikel. In ſolcher Stimmung
kam der Unglückliche nach Jena, gerieth dort ſogleich unter das Joch
Karl Follens, ſog mit Begierde die Mordlehren der ſchwarzen Brüder
ein. Jetzt endlich — ſo ſchrieb er bald nachdem er Follen kennen ge-
lernt — habe er ein Ziel für ſein Leben gefunden: „aus eigener Ueber-
zeugung, in eigener Art leben wollen mit unbedingtem Willen, im Volke
den reinen Rechtszuſtand, d. i. den einzig giltigen, den Gott geſetzt hat,
gegen alle Menſchenſatzung mit Leben und Tod zu vertheidigen.“ Sein
geiſtiges Vermögen reichte nicht aus um den ſchülerhaften Denkfehler, der
dem Moralſyſteme Follens zu Grunde lag, zu durchſchauen. Er brachte
es über ſich ſein Gewiſſen gleichſam zu theilen, blieb im täglichen Leben treu,
wahrhaft, hilfreich, nur gegen die Tyrannen ſchien ihm Alles erlaubt.
Seine theologiſchen Studien, die er über dem Verbindungsleben arg ver-
nachläſſigt hatte, boten ihm doch die Mittel, um die Lehre der Gewiſſen-
loſigkeit auf religiöſe Gründe zu ſtützen; aus der Bibel und dem Thomas
a Kempis wähnte er den Satz herauszuleſen: „wenn der Menſch die
Wahrheit ſo erkannt hat, daß er vor Gott ſagen kann: das iſt wahr —
ſo iſt es auch Wahrheit wenn er es thut!“ Und als er nun täglich „den
Meiſter der Vaterlandserretter,“ Karl Follen mit beredtem Munde die
ſittliche Nothwendigkeit des Meuchelmordes preiſen hörte, da kam ihm der
Gedanke ſich ſelbſt zu opfern für die gute Sache und zu erproben, ob
er das Volk durch den Schrecken einer heiligen Mordthat aus ſeinem
Schlummer aufrütteln könne.

Kalt, ſicher, ganz mit ſich einig traf er ſeine Vorbereitungen; er
hatte ſich längſt gewöhnt jeden Vertreter der gegneriſchen Anſicht als einen
Todfeind zu betrachten, er lebte im Zuſtande des Krieges mit den Ge-
walthabern und ihren Helfershelfern, er war berechtigt Kotzebue mit dem
Dolche zu ſtrafen, „weil er das Göttliche in mir, meine Ueberzeugung
unterdrücken will.“ Die niedrige Feigheit einer Gewaltthat gegen einen
wehrloſen Greis kam ihm ebenſo wenig zum Bewußtſein, wie die ſinn-
loſe Thorheit eines Verbrechens, das an der beſtehenden politiſchen Ord-
nung ſchlechterdings nichts beſſern konnte. Auch die Todſünde des neun-
zehnten Jahrhunderts wirkte mit, jener impotente Größenwahnſinn, der
faſt bei allen berufenen Verbrechen der modernen Geſchichte ſeine Rolle
ſpielt. Sand war nicht blos aufgebläht durch den ſittlichen Dünkel ſeiner
Sekte, ſondern auch perſönlich eitel: derweil er über ſeinen ruchloſen Ge-
danken brütet, zeichnet er ſich auf ein Blatt ſein eignes Bild, wie er auf
den Stufen einer Kirche knieend ſich den Dolch ins Herz drückt, an der
Kirchthür aber hängt mit einem anderen Dolche angeheftet das Todes-
urtheil über Kotzebue. Sicherlich hat der unſelige Menſch ſelbſt geglaubt,

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[521/0535] Karl Sand. Aufſatz gegen Kotzebue dem wilden Drange ein beſtimmtes Ziel; der frivole Schalk erſchien dem tugendſtolzen Schwärmer wie das Urbild aller Sünden des alten Geſchlechts, obwohl Sand von ihm nichts kannte als ein paar Luſtſpiele und einige Wochenblatts-Artikel. In ſolcher Stimmung kam der Unglückliche nach Jena, gerieth dort ſogleich unter das Joch Karl Follens, ſog mit Begierde die Mordlehren der ſchwarzen Brüder ein. Jetzt endlich — ſo ſchrieb er bald nachdem er Follen kennen ge- lernt — habe er ein Ziel für ſein Leben gefunden: „aus eigener Ueber- zeugung, in eigener Art leben wollen mit unbedingtem Willen, im Volke den reinen Rechtszuſtand, d. i. den einzig giltigen, den Gott geſetzt hat, gegen alle Menſchenſatzung mit Leben und Tod zu vertheidigen.“ Sein geiſtiges Vermögen reichte nicht aus um den ſchülerhaften Denkfehler, der dem Moralſyſteme Follens zu Grunde lag, zu durchſchauen. Er brachte es über ſich ſein Gewiſſen gleichſam zu theilen, blieb im täglichen Leben treu, wahrhaft, hilfreich, nur gegen die Tyrannen ſchien ihm Alles erlaubt. Seine theologiſchen Studien, die er über dem Verbindungsleben arg ver- nachläſſigt hatte, boten ihm doch die Mittel, um die Lehre der Gewiſſen- loſigkeit auf religiöſe Gründe zu ſtützen; aus der Bibel und dem Thomas a Kempis wähnte er den Satz herauszuleſen: „wenn der Menſch die Wahrheit ſo erkannt hat, daß er vor Gott ſagen kann: das iſt wahr — ſo iſt es auch Wahrheit wenn er es thut!“ Und als er nun täglich „den Meiſter der Vaterlandserretter,“ Karl Follen mit beredtem Munde die ſittliche Nothwendigkeit des Meuchelmordes preiſen hörte, da kam ihm der Gedanke ſich ſelbſt zu opfern für die gute Sache und zu erproben, ob er das Volk durch den Schrecken einer heiligen Mordthat aus ſeinem Schlummer aufrütteln könne. Kalt, ſicher, ganz mit ſich einig traf er ſeine Vorbereitungen; er hatte ſich längſt gewöhnt jeden Vertreter der gegneriſchen Anſicht als einen Todfeind zu betrachten, er lebte im Zuſtande des Krieges mit den Ge- walthabern und ihren Helfershelfern, er war berechtigt Kotzebue mit dem Dolche zu ſtrafen, „weil er das Göttliche in mir, meine Ueberzeugung unterdrücken will.“ Die niedrige Feigheit einer Gewaltthat gegen einen wehrloſen Greis kam ihm ebenſo wenig zum Bewußtſein, wie die ſinn- loſe Thorheit eines Verbrechens, das an der beſtehenden politiſchen Ord- nung ſchlechterdings nichts beſſern konnte. Auch die Todſünde des neun- zehnten Jahrhunderts wirkte mit, jener impotente Größenwahnſinn, der faſt bei allen berufenen Verbrechen der modernen Geſchichte ſeine Rolle ſpielt. Sand war nicht blos aufgebläht durch den ſittlichen Dünkel ſeiner Sekte, ſondern auch perſönlich eitel: derweil er über ſeinen ruchloſen Ge- danken brütet, zeichnet er ſich auf ein Blatt ſein eignes Bild, wie er auf den Stufen einer Kirche knieend ſich den Dolch ins Herz drückt, an der Kirchthür aber hängt mit einem anderen Dolche angeheftet das Todes- urtheil über Kotzebue. Sicherlich hat der unſelige Menſch ſelbſt geglaubt,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 521. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/535>, abgerufen am 22.11.2024.