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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Das badische Adels-Edikt.
So kam am 16. April 1819 ein zweites den Vorschriften der Bundes-
akte zur Noth entsprechendes Adels-Edikt zu Stande, das den vier Mäch-
ten vorgelegt*) und am Bundestage für grade genügend erklärt wurde.
Berstett ließ das neue Edikt am Abend vor der Eröffnung des Landtags
veröffentlichen; er rechnete, die Stände würden sich in die unbequeme
Nothwendigkeit ergeben und den Ausgleich als letztes Vermächtniß der
absoluten Monarchie stillschweigend genehmigen. Wie wenig kannte er
doch den Charakter seiner Abgeordneten! Hier erhob sich die köstliche
Frage: wer ist älter, die Henne oder das Ei? besitzt ein Landtag schon
Rechte noch bevor er existirt? Fragen solcher Art haben auf die kleinen
deutschen Landtage jederzeit eine dämonische Anziehungskraft ausgeübt
und ihnen den besten Stoff für ihre großen Juristenfeste geboten. So
auch diesmal. Alles zürnte über den frivolen Verfassungsbruch. Aus
dem Munde sehr gemäßigter Männer vernahm man Doctrinen, die ganz
harmlos gemeint, doch an Rousseaus Contrat social stark anklangen: der
Großherzog, so hieß es, hat durch die Verkündigung der Verfassung dem
Volke einen ursprünglichen Vertrag angeboten, das Volk hat durch Vor-
nahme der Wahlen eingewilligt, und seitdem ist der Vertrag perfekt.

In der zweiten Kammer erhielt Ludwig Winter das Referat über das
Adels-Edikt, und nun spielte sich ein seltsamer Auftritt ab, wie er nur in
diesen ersten Kinderjahren des deutschen Parlamentarismus möglich war.
Winter war Abgeordneter für Durlach und zugleich Regierungscommissär,
er hatte als solcher soeben den Entwurf einer neuen Gemeindeordnung
vor den Kammern vertheidigt, und dieser Commissär der Regierung erhob
sich jetzt, um das Ministerium mit einer Heftigkeit anzugreifen, wie noch
kein Abgeordneter vor ihm. Der leidenschaftliche Mann handelte im
besten Glauben, er sah den Großherzog durch das Adels-Edikt unver-
äußerlicher Kronrechte beraubt und hielt sich als treuer Unterthan ver-
pflichtet, der Krone gegen ihre eigenen Minister zu Hilfe zu eilen. Aber
er war Partei, er hatte das erste, nunmehr aufgehobene Adels-Edikt selber
verfaßt und vertheidigte sein Werk mit allen Waffen des abstrakten Ver-
nunftrechts; für die Bundesakte, für die europäischen Verträge, auf
denen doch der Bestand des Großherzogthums Baden selber ruhte, hatte
er kein Auge: "wir haben, rief er aus, mit dem Bundestage nichts zu
thun und wollen auch nichts mit ihm zu thun haben; das ist Sache der
Regierung." Auf diese naturrechtlichen Argumente folgte dann eine will-
kürliche Auslegung der Bundesakte, die sich noch bitter bestrafen sollte.
Winter behauptete, der Art. 13 verspreche ausdrücklich das Repräsentativ-
system, nicht eine altständische Verfassung, er setze also die Rechtsgleichheit
aller Bürger voraus, und folglich seien die den Mediatisirten im Art. 14
gewährten Privilegien unausführbar, rechtlich nichtig.

*) Ministerialschreiben an Blittersdorff, 30. April 1819.
33*

Das badiſche Adels-Edikt.
So kam am 16. April 1819 ein zweites den Vorſchriften der Bundes-
akte zur Noth entſprechendes Adels-Edikt zu Stande, das den vier Mäch-
ten vorgelegt*) und am Bundestage für grade genügend erklärt wurde.
Berſtett ließ das neue Edikt am Abend vor der Eröffnung des Landtags
veröffentlichen; er rechnete, die Stände würden ſich in die unbequeme
Nothwendigkeit ergeben und den Ausgleich als letztes Vermächtniß der
abſoluten Monarchie ſtillſchweigend genehmigen. Wie wenig kannte er
doch den Charakter ſeiner Abgeordneten! Hier erhob ſich die köſtliche
Frage: wer iſt älter, die Henne oder das Ei? beſitzt ein Landtag ſchon
Rechte noch bevor er exiſtirt? Fragen ſolcher Art haben auf die kleinen
deutſchen Landtage jederzeit eine dämoniſche Anziehungskraft ausgeübt
und ihnen den beſten Stoff für ihre großen Juriſtenfeſte geboten. So
auch diesmal. Alles zürnte über den frivolen Verfaſſungsbruch. Aus
dem Munde ſehr gemäßigter Männer vernahm man Doctrinen, die ganz
harmlos gemeint, doch an Rouſſeaus Contrat ſocial ſtark anklangen: der
Großherzog, ſo hieß es, hat durch die Verkündigung der Verfaſſung dem
Volke einen urſprünglichen Vertrag angeboten, das Volk hat durch Vor-
nahme der Wahlen eingewilligt, und ſeitdem iſt der Vertrag perfekt.

In der zweiten Kammer erhielt Ludwig Winter das Referat über das
Adels-Edikt, und nun ſpielte ſich ein ſeltſamer Auftritt ab, wie er nur in
dieſen erſten Kinderjahren des deutſchen Parlamentarismus möglich war.
Winter war Abgeordneter für Durlach und zugleich Regierungscommiſſär,
er hatte als ſolcher ſoeben den Entwurf einer neuen Gemeindeordnung
vor den Kammern vertheidigt, und dieſer Commiſſär der Regierung erhob
ſich jetzt, um das Miniſterium mit einer Heftigkeit anzugreifen, wie noch
kein Abgeordneter vor ihm. Der leidenſchaftliche Mann handelte im
beſten Glauben, er ſah den Großherzog durch das Adels-Edikt unver-
äußerlicher Kronrechte beraubt und hielt ſich als treuer Unterthan ver-
pflichtet, der Krone gegen ihre eigenen Miniſter zu Hilfe zu eilen. Aber
er war Partei, er hatte das erſte, nunmehr aufgehobene Adels-Edikt ſelber
verfaßt und vertheidigte ſein Werk mit allen Waffen des abſtrakten Ver-
nunftrechts; für die Bundesakte, für die europäiſchen Verträge, auf
denen doch der Beſtand des Großherzogthums Baden ſelber ruhte, hatte
er kein Auge: „wir haben, rief er aus, mit dem Bundestage nichts zu
thun und wollen auch nichts mit ihm zu thun haben; das iſt Sache der
Regierung.“ Auf dieſe naturrechtlichen Argumente folgte dann eine will-
kürliche Auslegung der Bundesakte, die ſich noch bitter beſtrafen ſollte.
Winter behauptete, der Art. 13 verſpreche ausdrücklich das Repräſentativ-
ſyſtem, nicht eine altſtändiſche Verfaſſung, er ſetze alſo die Rechtsgleichheit
aller Bürger voraus, und folglich ſeien die den Mediatiſirten im Art. 14
gewährten Privilegien unausführbar, rechtlich nichtig.

*) Miniſterialſchreiben an Blittersdorff, 30. April 1819.
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[515/0529] Das badiſche Adels-Edikt. So kam am 16. April 1819 ein zweites den Vorſchriften der Bundes- akte zur Noth entſprechendes Adels-Edikt zu Stande, das den vier Mäch- ten vorgelegt *) und am Bundestage für grade genügend erklärt wurde. Berſtett ließ das neue Edikt am Abend vor der Eröffnung des Landtags veröffentlichen; er rechnete, die Stände würden ſich in die unbequeme Nothwendigkeit ergeben und den Ausgleich als letztes Vermächtniß der abſoluten Monarchie ſtillſchweigend genehmigen. Wie wenig kannte er doch den Charakter ſeiner Abgeordneten! Hier erhob ſich die köſtliche Frage: wer iſt älter, die Henne oder das Ei? beſitzt ein Landtag ſchon Rechte noch bevor er exiſtirt? Fragen ſolcher Art haben auf die kleinen deutſchen Landtage jederzeit eine dämoniſche Anziehungskraft ausgeübt und ihnen den beſten Stoff für ihre großen Juriſtenfeſte geboten. So auch diesmal. Alles zürnte über den frivolen Verfaſſungsbruch. Aus dem Munde ſehr gemäßigter Männer vernahm man Doctrinen, die ganz harmlos gemeint, doch an Rouſſeaus Contrat ſocial ſtark anklangen: der Großherzog, ſo hieß es, hat durch die Verkündigung der Verfaſſung dem Volke einen urſprünglichen Vertrag angeboten, das Volk hat durch Vor- nahme der Wahlen eingewilligt, und ſeitdem iſt der Vertrag perfekt. In der zweiten Kammer erhielt Ludwig Winter das Referat über das Adels-Edikt, und nun ſpielte ſich ein ſeltſamer Auftritt ab, wie er nur in dieſen erſten Kinderjahren des deutſchen Parlamentarismus möglich war. Winter war Abgeordneter für Durlach und zugleich Regierungscommiſſär, er hatte als ſolcher ſoeben den Entwurf einer neuen Gemeindeordnung vor den Kammern vertheidigt, und dieſer Commiſſär der Regierung erhob ſich jetzt, um das Miniſterium mit einer Heftigkeit anzugreifen, wie noch kein Abgeordneter vor ihm. Der leidenſchaftliche Mann handelte im beſten Glauben, er ſah den Großherzog durch das Adels-Edikt unver- äußerlicher Kronrechte beraubt und hielt ſich als treuer Unterthan ver- pflichtet, der Krone gegen ihre eigenen Miniſter zu Hilfe zu eilen. Aber er war Partei, er hatte das erſte, nunmehr aufgehobene Adels-Edikt ſelber verfaßt und vertheidigte ſein Werk mit allen Waffen des abſtrakten Ver- nunftrechts; für die Bundesakte, für die europäiſchen Verträge, auf denen doch der Beſtand des Großherzogthums Baden ſelber ruhte, hatte er kein Auge: „wir haben, rief er aus, mit dem Bundestage nichts zu thun und wollen auch nichts mit ihm zu thun haben; das iſt Sache der Regierung.“ Auf dieſe naturrechtlichen Argumente folgte dann eine will- kürliche Auslegung der Bundesakte, die ſich noch bitter beſtrafen ſollte. Winter behauptete, der Art. 13 verſpreche ausdrücklich das Repräſentativ- ſyſtem, nicht eine altſtändiſche Verfaſſung, er ſetze alſo die Rechtsgleichheit aller Bürger voraus, und folglich ſeien die den Mediatiſirten im Art. 14 gewährten Privilegien unausführbar, rechtlich nichtig. *) Miniſterialſchreiben an Blittersdorff, 30. April 1819. 33*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/529>, abgerufen am 22.11.2024.