II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Wie wenig kannten sie diesen allseitigen Geist, der eben damals mit ruhigem Selbstgefühle sagte: Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib' im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben! Wenn Goethe den berechtigten Kern der deutschen Romantik unbefangen anerkannte, so war er doch mit nichten gemeint im hohen Alter zu dem Gedankenkreise seines Götz von Berlichingen zurückzukehren. Er blieb der Classiker, der den Benvenuto Cellini übersetzt und in seiner Schrift über Winckelmann das Evangelium der deutschen Renaissance ver- kündet hatte; war ihm doch Dürer nur darum so lieb, weil dieser heitere Genius gleich ihm selber germanischen Gedankenreichthum mit südländi- scher Formenschönheit verband. Der Welterfahrene, der sich selbst oft- mals demüthig "ein bornirtes Individuum" nannte, wußte nur zu wohl, wie leicht die Anforderungen des Lebens den Handelnden zur unwillkür- lichen Einseitigkeit verführen, und sah daher mit Entrüstung, wie die bewußte und gewollte Einseitigkeit des Teutonenthums den Deutschen ihr bestes Gut, die freie Weltansicht, die unbefangene Empfänglichkeit zu verküm- mern drohte. Wenn das junge Volk sich gar unterstand, ihm seine ge- liebte Sprache durch anmaßliche Reinigung zu verderben, sie des befruch- tenden Verkehres mit fremder Cultur zu berauben, dann brauste er auf in hellem Titanenzorne. Die "malcontente, determinirte, zuschreitende" Art des neuen Geschlechts widerte ihn an, dies plumpe, ungekämmte Wesen, diese aus natürlicher Germanenderbheit und gemachtem Jacobinertrotz so seltsam gemischte Formlosigkeit. Namentlich an den jungen Malern, die in dem Kloster auf dem Quirinal ihre Werkstatt aufgeschlagen hatten, bemerkte Goethe bald jene Dürftigkeit, die allem Fanatismus eigen ist. Die fruchtbaren ersten Jahre der mittelalterlichen Schwärmerei waren vorüber. Jetzt hieß die Losung "Frömmigkeit und Genie!"; der Fleiß ward mißachtet, und manche Werke der Nazarener erschienen so leer und kahl wie die Klosterzellen von S. Isidoro selber. Scharf abwehrend trat der Dichter dieser Richtung entgegen; sogar die Widmung der Cornelius- schen Zeichnungen zum Faust würdigte er keiner Antwort; denn er fühlte, daß der große Maler nur die eine Seite des Gedichtes verstanden, die classischen Ideen aber, die nachher im zweiten Theile ihre Entfaltung finden sollten, noch kaum bemerkt hatte.
Vor Allem entsetzte den freien Geist des alten Classikers "die Kin- derpäpstelei", das erkünstelte neukatholische Wesen der verfallenden Ro- mantik. Es wurde verhängnißvoll für den ganzen Verlauf der deutschen Gesittung bis zum heutigen Tage, daß Goethe eine freie, geistvolle Form des positiven christlichen Glaubens eigentlich niemals kennen lernte. In seiner Jugend verkehrte er eine Zeit lang mit den schönen Seelen des Pietismus, jedoch der enge Gesichtskreis dieser Stillen im Lande ver- mochte den Genius nicht zu fesseln. Im Alter trat er mit den Beken- nern jenes tiefsinnigen, weitherzigen und hochgebildeten Christenthums,
II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Wie wenig kannten ſie dieſen allſeitigen Geiſt, der eben damals mit ruhigem Selbſtgefühle ſagte: Wer nicht von dreitauſend Jahren ſich weiß Rechenſchaft zu geben, bleib’ im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben! Wenn Goethe den berechtigten Kern der deutſchen Romantik unbefangen anerkannte, ſo war er doch mit nichten gemeint im hohen Alter zu dem Gedankenkreiſe ſeines Götz von Berlichingen zurückzukehren. Er blieb der Claſſiker, der den Benvenuto Cellini überſetzt und in ſeiner Schrift über Winckelmann das Evangelium der deutſchen Renaiſſance ver- kündet hatte; war ihm doch Dürer nur darum ſo lieb, weil dieſer heitere Genius gleich ihm ſelber germaniſchen Gedankenreichthum mit ſüdländi- ſcher Formenſchönheit verband. Der Welterfahrene, der ſich ſelbſt oft- mals demüthig „ein bornirtes Individuum“ nannte, wußte nur zu wohl, wie leicht die Anforderungen des Lebens den Handelnden zur unwillkür- lichen Einſeitigkeit verführen, und ſah daher mit Entrüſtung, wie die bewußte und gewollte Einſeitigkeit des Teutonenthums den Deutſchen ihr beſtes Gut, die freie Weltanſicht, die unbefangene Empfänglichkeit zu verküm- mern drohte. Wenn das junge Volk ſich gar unterſtand, ihm ſeine ge- liebte Sprache durch anmaßliche Reinigung zu verderben, ſie des befruch- tenden Verkehres mit fremder Cultur zu berauben, dann brauſte er auf in hellem Titanenzorne. Die „malcontente, determinirte, zuſchreitende“ Art des neuen Geſchlechts widerte ihn an, dies plumpe, ungekämmte Weſen, dieſe aus natürlicher Germanenderbheit und gemachtem Jacobinertrotz ſo ſeltſam gemiſchte Formloſigkeit. Namentlich an den jungen Malern, die in dem Kloſter auf dem Quirinal ihre Werkſtatt aufgeſchlagen hatten, bemerkte Goethe bald jene Dürftigkeit, die allem Fanatismus eigen iſt. Die fruchtbaren erſten Jahre der mittelalterlichen Schwärmerei waren vorüber. Jetzt hieß die Loſung „Frömmigkeit und Genie!“; der Fleiß ward mißachtet, und manche Werke der Nazarener erſchienen ſo leer und kahl wie die Kloſterzellen von S. Iſidoro ſelber. Scharf abwehrend trat der Dichter dieſer Richtung entgegen; ſogar die Widmung der Cornelius- ſchen Zeichnungen zum Fauſt würdigte er keiner Antwort; denn er fühlte, daß der große Maler nur die eine Seite des Gedichtes verſtanden, die claſſiſchen Ideen aber, die nachher im zweiten Theile ihre Entfaltung finden ſollten, noch kaum bemerkt hatte.
Vor Allem entſetzte den freien Geiſt des alten Claſſikers „die Kin- derpäpſtelei“, das erkünſtelte neukatholiſche Weſen der verfallenden Ro- mantik. Es wurde verhängnißvoll für den ganzen Verlauf der deutſchen Geſittung bis zum heutigen Tage, daß Goethe eine freie, geiſtvolle Form des poſitiven chriſtlichen Glaubens eigentlich niemals kennen lernte. In ſeiner Jugend verkehrte er eine Zeit lang mit den ſchönen Seelen des Pietismus, jedoch der enge Geſichtskreis dieſer Stillen im Lande ver- mochte den Genius nicht zu feſſeln. Im Alter trat er mit den Beken- nern jenes tiefſinnigen, weitherzigen und hochgebildeten Chriſtenthums,
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II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Wie wenig kannten ſie dieſen allſeitigen Geiſt, der eben damals mit
ruhigem Selbſtgefühle ſagte: Wer nicht von dreitauſend Jahren ſich weiß
Rechenſchaft zu geben, bleib’ im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu
Tage leben! Wenn Goethe den berechtigten Kern der deutſchen Romantik
unbefangen anerkannte, ſo war er doch mit nichten gemeint im hohen
Alter zu dem Gedankenkreiſe ſeines Götz von Berlichingen zurückzukehren.
Er blieb der Claſſiker, der den Benvenuto Cellini überſetzt und in ſeiner
Schrift über Winckelmann das Evangelium der deutſchen Renaiſſance ver-
kündet hatte; war ihm doch Dürer nur darum ſo lieb, weil dieſer heitere
Genius gleich ihm ſelber germaniſchen Gedankenreichthum mit ſüdländi-
ſcher Formenſchönheit verband. Der Welterfahrene, der ſich ſelbſt oft-
mals demüthig „ein bornirtes Individuum“ nannte, wußte nur zu wohl,
wie leicht die Anforderungen des Lebens den Handelnden zur unwillkür-
lichen Einſeitigkeit verführen, und ſah daher mit Entrüſtung, wie die bewußte
und gewollte Einſeitigkeit des Teutonenthums den Deutſchen ihr beſtes
Gut, die freie Weltanſicht, die unbefangene Empfänglichkeit zu verküm-
mern drohte. Wenn das junge Volk ſich gar unterſtand, ihm ſeine ge-
liebte Sprache durch anmaßliche Reinigung zu verderben, ſie des befruch-
tenden Verkehres mit fremder Cultur zu berauben, dann brauſte er auf
in hellem Titanenzorne. Die „malcontente, determinirte, zuſchreitende“
Art des neuen Geſchlechts widerte ihn an, dies plumpe, ungekämmte Weſen,
dieſe aus natürlicher Germanenderbheit und gemachtem Jacobinertrotz ſo
ſeltſam gemiſchte Formloſigkeit. Namentlich an den jungen Malern, die
in dem Kloſter auf dem Quirinal ihre Werkſtatt aufgeſchlagen hatten,
bemerkte Goethe bald jene Dürftigkeit, die allem Fanatismus eigen iſt.
Die fruchtbaren erſten Jahre der mittelalterlichen Schwärmerei waren
vorüber. Jetzt hieß die Loſung „Frömmigkeit und Genie!“; der Fleiß
ward mißachtet, und manche Werke der Nazarener erſchienen ſo leer und
kahl wie die Kloſterzellen von S. Iſidoro ſelber. Scharf abwehrend trat
der Dichter dieſer Richtung entgegen; ſogar die Widmung der Cornelius-
ſchen Zeichnungen zum Fauſt würdigte er keiner Antwort; denn er fühlte,
daß der große Maler nur die eine Seite des Gedichtes verſtanden, die
claſſiſchen Ideen aber, die nachher im zweiten Theile ihre Entfaltung
finden ſollten, noch kaum bemerkt hatte.
Vor Allem entſetzte den freien Geiſt des alten Claſſikers „die Kin-
derpäpſtelei“, das erkünſtelte neukatholiſche Weſen der verfallenden Ro-
mantik. Es wurde verhängnißvoll für den ganzen Verlauf der deutſchen
Geſittung bis zum heutigen Tage, daß Goethe eine freie, geiſtvolle Form
des poſitiven chriſtlichen Glaubens eigentlich niemals kennen lernte. In
ſeiner Jugend verkehrte er eine Zeit lang mit den ſchönen Seelen des
Pietismus, jedoch der enge Geſichtskreis dieſer Stillen im Lande ver-
mochte den Genius nicht zu feſſeln. Im Alter trat er mit den Beken-
nern jenes tiefſinnigen, weitherzigen und hochgebildeten Chriſtenthums,
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/52>, abgerufen am 22.11.2024.
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