Das mächtige Selbstbewußtsein, das sich in diesen Blättern aussprach, war die heitere Ruhe eines ganz mit sich einigen Geistes, die glückliche Unbefangenheit eines Dichters, der sein Leben lang nur Bekenntnisse ge- schrieben hatte und längst gewohnt war den Tadlern und den Neidern gelassen zu antworten: ich habe mich nicht selbst gemacht.
Immer wenn er in das deutsche Leben hineingriff hatte er sein Höch- stes geleistet; so waren denn auch die Gestalten, die er jetzt aus der Er- innerung heraufbeschwor, von einer Seelenwärme durchleuchtet wie nur die schönsten seiner freien Dichtergebilde. Aus dem Pfarrhause von Sesen- heim drang ein Strahl der Liebe in die Jugendträume jedes deutschen Herzens, und wenn ein Deutscher an die seligen Tage seiner eigenen Kindheit zurückdachte, so stand mit einem male das winklige alte Haus am Hirschgraben und der fließende Brunnen im Hofe vor ihm und er schaute der glücklichen Frau Rath in die tiefen lachenden Augen. Der Dichter sagte mit seinen Alten: in der Gestalt wie der Mensch die Erde verläßt, wandelt er unter den Schatten. Ihm selber fiel ein anderes Loos; denn so mächtig war der Zauber dieses Buches, daß noch heute, wenn Goethes Name genannt wird, fast Jedermann zuerst an den könig- lichen Jüngling denkt; seine Mannesjahre, die er selbst nicht mehr ge- schildert hat, scheinen neben dem sonnigen Glanze dieser Jugendgeschichte wie im Schatten zu liegen.
Wie Rousseau die Zeitgeschichte mit der Erzählung seines Lebens verwoben hatte, so gab auch Goethe, nur ungleich tiefsinniger und gründ- licher, ein umfassendes Geschichtsbild von dem geistigen Leben der fride- ricianischen Zeit. Noch einmal aufflammend in jugendlichem Feuer schil- derte der Greis jene hoffnungsfrohen Frühlingstage der deutschen Kunst: wie Alles keimte und drängte, wie der frische Duft des Erdreichs aus den neu umgebrochenen Aeckern die Luft erfüllte, wie der eine Baum noch kahl stand und andere schon Blätter trugen. Wie oft hatten Nie- buhr und andere Zeitgenossen dem Dichter den historischen Sinn abge- sprochen, weil er sich so gern in die Natur versenkte. Er aber löste jetzt die beiden höchsten Aufgaben des Geschichtschreibers, die künstlerische und die wissenschaftliche, und zeigte durch die That, daß beide in Eines zu- sammenfallen: indem er die Vergangenheit den Lesern so lebendig ver- gegenwärtigte, daß sie Alles mitzuerleben glaubten, ließ er sie zugleich das Geschehene verstehen, die Nothwendigkeit der Thatsachen erkennen. Das Werk war entstanden in den Tagen der napoleonischen Weltherr- schaft, da der Dichter selbst an der politischen Auferstehung seines Vater- landes zu verzweifeln schien, und gleichwohl sprach aus jedem Satze die zuversichtliche, hoffnungsfrohe Stimmung des fridericianischen Zeitalters. Kein Wort ließ errathen, daß der Dichter nach den jüngsten Niederlagen den Glauben an Deutschlands große Zukunft aufgegeben hätte. Eben jetzt, da alle Welt den preußischen Staat verloren gab und selbst die
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Dichtung und Wahrheit.
Das mächtige Selbſtbewußtſein, das ſich in dieſen Blättern ausſprach, war die heitere Ruhe eines ganz mit ſich einigen Geiſtes, die glückliche Unbefangenheit eines Dichters, der ſein Leben lang nur Bekenntniſſe ge- ſchrieben hatte und längſt gewohnt war den Tadlern und den Neidern gelaſſen zu antworten: ich habe mich nicht ſelbſt gemacht.
Immer wenn er in das deutſche Leben hineingriff hatte er ſein Höch- ſtes geleiſtet; ſo waren denn auch die Geſtalten, die er jetzt aus der Er- innerung heraufbeſchwor, von einer Seelenwärme durchleuchtet wie nur die ſchönſten ſeiner freien Dichtergebilde. Aus dem Pfarrhauſe von Seſen- heim drang ein Strahl der Liebe in die Jugendträume jedes deutſchen Herzens, und wenn ein Deutſcher an die ſeligen Tage ſeiner eigenen Kindheit zurückdachte, ſo ſtand mit einem male das winklige alte Haus am Hirſchgraben und der fließende Brunnen im Hofe vor ihm und er ſchaute der glücklichen Frau Rath in die tiefen lachenden Augen. Der Dichter ſagte mit ſeinen Alten: in der Geſtalt wie der Menſch die Erde verläßt, wandelt er unter den Schatten. Ihm ſelber fiel ein anderes Loos; denn ſo mächtig war der Zauber dieſes Buches, daß noch heute, wenn Goethes Name genannt wird, faſt Jedermann zuerſt an den könig- lichen Jüngling denkt; ſeine Mannesjahre, die er ſelbſt nicht mehr ge- ſchildert hat, ſcheinen neben dem ſonnigen Glanze dieſer Jugendgeſchichte wie im Schatten zu liegen.
Wie Rouſſeau die Zeitgeſchichte mit der Erzählung ſeines Lebens verwoben hatte, ſo gab auch Goethe, nur ungleich tiefſinniger und gründ- licher, ein umfaſſendes Geſchichtsbild von dem geiſtigen Leben der fride- ricianiſchen Zeit. Noch einmal aufflammend in jugendlichem Feuer ſchil- derte der Greis jene hoffnungsfrohen Frühlingstage der deutſchen Kunſt: wie Alles keimte und drängte, wie der friſche Duft des Erdreichs aus den neu umgebrochenen Aeckern die Luft erfüllte, wie der eine Baum noch kahl ſtand und andere ſchon Blätter trugen. Wie oft hatten Nie- buhr und andere Zeitgenoſſen dem Dichter den hiſtoriſchen Sinn abge- ſprochen, weil er ſich ſo gern in die Natur verſenkte. Er aber löſte jetzt die beiden höchſten Aufgaben des Geſchichtſchreibers, die künſtleriſche und die wiſſenſchaftliche, und zeigte durch die That, daß beide in Eines zu- ſammenfallen: indem er die Vergangenheit den Leſern ſo lebendig ver- gegenwärtigte, daß ſie Alles mitzuerleben glaubten, ließ er ſie zugleich das Geſchehene verſtehen, die Nothwendigkeit der Thatſachen erkennen. Das Werk war entſtanden in den Tagen der napoleoniſchen Weltherr- ſchaft, da der Dichter ſelbſt an der politiſchen Auferſtehung ſeines Vater- landes zu verzweifeln ſchien, und gleichwohl ſprach aus jedem Satze die zuverſichtliche, hoffnungsfrohe Stimmung des fridericianiſchen Zeitalters. Kein Wort ließ errathen, daß der Dichter nach den jüngſten Niederlagen den Glauben an Deutſchlands große Zukunft aufgegeben hätte. Eben jetzt, da alle Welt den preußiſchen Staat verloren gab und ſelbſt die
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Dichtung und Wahrheit.
Das mächtige Selbſtbewußtſein, das ſich in dieſen Blättern ausſprach,
war die heitere Ruhe eines ganz mit ſich einigen Geiſtes, die glückliche
Unbefangenheit eines Dichters, der ſein Leben lang nur Bekenntniſſe ge-
ſchrieben hatte und längſt gewohnt war den Tadlern und den Neidern
gelaſſen zu antworten: ich habe mich nicht ſelbſt gemacht.
Immer wenn er in das deutſche Leben hineingriff hatte er ſein Höch-
ſtes geleiſtet; ſo waren denn auch die Geſtalten, die er jetzt aus der Er-
innerung heraufbeſchwor, von einer Seelenwärme durchleuchtet wie nur
die ſchönſten ſeiner freien Dichtergebilde. Aus dem Pfarrhauſe von Seſen-
heim drang ein Strahl der Liebe in die Jugendträume jedes deutſchen
Herzens, und wenn ein Deutſcher an die ſeligen Tage ſeiner eigenen
Kindheit zurückdachte, ſo ſtand mit einem male das winklige alte Haus
am Hirſchgraben und der fließende Brunnen im Hofe vor ihm und er
ſchaute der glücklichen Frau Rath in die tiefen lachenden Augen. Der
Dichter ſagte mit ſeinen Alten: in der Geſtalt wie der Menſch die Erde
verläßt, wandelt er unter den Schatten. Ihm ſelber fiel ein anderes
Loos; denn ſo mächtig war der Zauber dieſes Buches, daß noch heute,
wenn Goethes Name genannt wird, faſt Jedermann zuerſt an den könig-
lichen Jüngling denkt; ſeine Mannesjahre, die er ſelbſt nicht mehr ge-
ſchildert hat, ſcheinen neben dem ſonnigen Glanze dieſer Jugendgeſchichte
wie im Schatten zu liegen.
Wie Rouſſeau die Zeitgeſchichte mit der Erzählung ſeines Lebens
verwoben hatte, ſo gab auch Goethe, nur ungleich tiefſinniger und gründ-
licher, ein umfaſſendes Geſchichtsbild von dem geiſtigen Leben der fride-
ricianiſchen Zeit. Noch einmal aufflammend in jugendlichem Feuer ſchil-
derte der Greis jene hoffnungsfrohen Frühlingstage der deutſchen Kunſt:
wie Alles keimte und drängte, wie der friſche Duft des Erdreichs aus
den neu umgebrochenen Aeckern die Luft erfüllte, wie der eine Baum
noch kahl ſtand und andere ſchon Blätter trugen. Wie oft hatten Nie-
buhr und andere Zeitgenoſſen dem Dichter den hiſtoriſchen Sinn abge-
ſprochen, weil er ſich ſo gern in die Natur verſenkte. Er aber löſte jetzt
die beiden höchſten Aufgaben des Geſchichtſchreibers, die künſtleriſche und
die wiſſenſchaftliche, und zeigte durch die That, daß beide in Eines zu-
ſammenfallen: indem er die Vergangenheit den Leſern ſo lebendig ver-
gegenwärtigte, daß ſie Alles mitzuerleben glaubten, ließ er ſie zugleich
das Geſchehene verſtehen, die Nothwendigkeit der Thatſachen erkennen.
Das Werk war entſtanden in den Tagen der napoleoniſchen Weltherr-
ſchaft, da der Dichter ſelbſt an der politiſchen Auferſtehung ſeines Vater-
landes zu verzweifeln ſchien, und gleichwohl ſprach aus jedem Satze die
zuverſichtliche, hoffnungsfrohe Stimmung des fridericianiſchen Zeitalters.
Kein Wort ließ errathen, daß der Dichter nach den jüngſten Niederlagen
den Glauben an Deutſchlands große Zukunft aufgegeben hätte. Eben
jetzt, da alle Welt den preußiſchen Staat verloren gab und ſelbſt die
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/49>, abgerufen am 22.11.2024.
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