Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

II. 8. Der Aachener Congreß.
gart, die Russen binnen drei Monaten um Mainz versammelt sein. Von
den belgischen Festungen besetzt England die westlichen, Ostende, Ypern
und einige der Scheldeplätze, Preußen die Plätze an der Maas und
Sambre, Namur, Charleroi, Marienburg u. s. w. Die kleinen deutschen
Contingente dachte man wieder wie im Jahre 1815 nach der geographi-
schen Lage unter die verschiedenen Armeen zu vertheilen, da ein Bundes-
heer noch immer nicht bestand. Dies Protokoll ward genehmigt, und dann
mußte Wellington auf Preußens Andringen auch noch die Zustimmung
des Königs der Niederlande einholen.*)

Den preußischen Generalen war mit Alledem noch nicht genug ge-
schehen. Sie täuschten sich nicht über die vollkommene Unbrauchbarkeit des
gerühmten niederländischen "Polsterkissens", das nach der Absicht des
Wiener Congresses den ersten Stoß der französischen Heere auffangen
sollte; sie kannten den kläglichen Zustand der niederländischen Armee und
wußten, daß sie nicht ausreichte, um auch nur die Hälfte von jenen
fünfzig Festungen und Forts zu bewachen, welche Wellington soeben mit
Hilfe der französischen Contributionsgelder an der belgischen Grenze aus-
bauen ließ. Preußen beabsichtigte daher als der zunächst bedrohte Nach-
barstaat am Niederrhein ein stehendes Observationscorps aufzustellen, das
gegebenen Falls noch vor der Kriegserklärung gradeswegs in Belgien ein-
rücken sollte. Um mit dem niederländischen Hofe das Nähere zu ver-
abreden, wurde General Müffling von Aachen aus nach Brüssel gesendet;
aber eine solche Schmälerung seiner Souveränität wollte König Wilhelm
schlechterdings nicht zugeben. Schon seit Jahren hatte der Oranier, der
seinen Thron den Waffen der Verbündeten verdankte, seine Vorliebe für
Frankreich, seinen Haß gegen Preußen deutlich bekundet. Jetzt grollte er,
weil König Friedrich Wilhelm ihn nicht von Aachen aus besucht hatte,
und mehr noch weil Preußen, den Verträgen gemäß, den Oberbefehl
in der Bundesfestung Luxemburg beanspruchte; und als der preußische
Unterhändler nun gar auf die schwierige Stimmung der Belgier warnend
hinwies, da fühlte sich der Brüsseler Hof tief beleidigt. Er wollte nichts
wissen von dem furchtbaren, täglich wachsenden Grolle der katholischen
Belgier wider die holländischen Ketzer und sah sich in seinem verblendeten
Hochmuth bestärkt durch den englischen Gesandten Lord Clancarty, der dies
künstliche Königreich, dies Meisterwerk englischer Staatsweisheit nicht
genug bewundern konnte. Der Hochtory fand die Zustände in Belgien
ganz vortrefflich und rieth dem Berliner Hofe mit englischer Bescheiden-
heit: möge nur Preußen dem guten Beispiel, das die Holländer in Bel-
gien geben, folgen und seine neuen Provinzen ebenso musterhaft regieren;
dann wird für die preußischen Rheinlande nichts mehr zu fürchten sein!

*) Protocole militaire vom 15. November. Bernstorff an Lottum 9. November.
Wolzogens Denkschrift 17. Okt. Boyens Denkschrift 15. Nov. 1818.

II. 8. Der Aachener Congreß.
gart, die Ruſſen binnen drei Monaten um Mainz verſammelt ſein. Von
den belgiſchen Feſtungen beſetzt England die weſtlichen, Oſtende, Ypern
und einige der Scheldeplätze, Preußen die Plätze an der Maas und
Sambre, Namur, Charleroi, Marienburg u. ſ. w. Die kleinen deutſchen
Contingente dachte man wieder wie im Jahre 1815 nach der geographi-
ſchen Lage unter die verſchiedenen Armeen zu vertheilen, da ein Bundes-
heer noch immer nicht beſtand. Dies Protokoll ward genehmigt, und dann
mußte Wellington auf Preußens Andringen auch noch die Zuſtimmung
des Königs der Niederlande einholen.*)

Den preußiſchen Generalen war mit Alledem noch nicht genug ge-
ſchehen. Sie täuſchten ſich nicht über die vollkommene Unbrauchbarkeit des
gerühmten niederländiſchen „Polſterkiſſens“, das nach der Abſicht des
Wiener Congreſſes den erſten Stoß der franzöſiſchen Heere auffangen
ſollte; ſie kannten den kläglichen Zuſtand der niederländiſchen Armee und
wußten, daß ſie nicht ausreichte, um auch nur die Hälfte von jenen
fünfzig Feſtungen und Forts zu bewachen, welche Wellington ſoeben mit
Hilfe der franzöſiſchen Contributionsgelder an der belgiſchen Grenze aus-
bauen ließ. Preußen beabſichtigte daher als der zunächſt bedrohte Nach-
barſtaat am Niederrhein ein ſtehendes Obſervationscorps aufzuſtellen, das
gegebenen Falls noch vor der Kriegserklärung gradeswegs in Belgien ein-
rücken ſollte. Um mit dem niederländiſchen Hofe das Nähere zu ver-
abreden, wurde General Müffling von Aachen aus nach Brüſſel geſendet;
aber eine ſolche Schmälerung ſeiner Souveränität wollte König Wilhelm
ſchlechterdings nicht zugeben. Schon ſeit Jahren hatte der Oranier, der
ſeinen Thron den Waffen der Verbündeten verdankte, ſeine Vorliebe für
Frankreich, ſeinen Haß gegen Preußen deutlich bekundet. Jetzt grollte er,
weil König Friedrich Wilhelm ihn nicht von Aachen aus beſucht hatte,
und mehr noch weil Preußen, den Verträgen gemäß, den Oberbefehl
in der Bundesfeſtung Luxemburg beanſpruchte; und als der preußiſche
Unterhändler nun gar auf die ſchwierige Stimmung der Belgier warnend
hinwies, da fühlte ſich der Brüſſeler Hof tief beleidigt. Er wollte nichts
wiſſen von dem furchtbaren, täglich wachſenden Grolle der katholiſchen
Belgier wider die holländiſchen Ketzer und ſah ſich in ſeinem verblendeten
Hochmuth beſtärkt durch den engliſchen Geſandten Lord Clancarty, der dies
künſtliche Königreich, dies Meiſterwerk engliſcher Staatsweisheit nicht
genug bewundern konnte. Der Hochtory fand die Zuſtände in Belgien
ganz vortrefflich und rieth dem Berliner Hofe mit engliſcher Beſcheiden-
heit: möge nur Preußen dem guten Beiſpiel, das die Holländer in Bel-
gien geben, folgen und ſeine neuen Provinzen ebenſo muſterhaft regieren;
dann wird für die preußiſchen Rheinlande nichts mehr zu fürchten ſein!

*) Protocole militaire vom 15. November. Bernſtorff an Lottum 9. November.
Wolzogens Denkſchrift 17. Okt. Boyens Denkſchrift 15. Nov. 1818.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0486" n="472"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 8. Der Aachener Congreß.</fw><lb/>
gart, die Ru&#x017F;&#x017F;en binnen drei Monaten um Mainz ver&#x017F;ammelt &#x017F;ein. Von<lb/>
den belgi&#x017F;chen Fe&#x017F;tungen be&#x017F;etzt England die we&#x017F;tlichen, O&#x017F;tende, Ypern<lb/>
und einige der Scheldeplätze, Preußen die Plätze an der Maas und<lb/>
Sambre, Namur, Charleroi, Marienburg u. &#x017F;. w. Die kleinen deut&#x017F;chen<lb/>
Contingente dachte man wieder wie im Jahre 1815 nach der geographi-<lb/>
&#x017F;chen Lage unter die ver&#x017F;chiedenen Armeen zu vertheilen, da ein Bundes-<lb/>
heer noch immer nicht be&#x017F;tand. Dies Protokoll ward genehmigt, und dann<lb/>
mußte Wellington auf Preußens Andringen auch noch die Zu&#x017F;timmung<lb/>
des Königs der Niederlande einholen.<note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">Protocole militaire</hi> vom 15. November. Bern&#x017F;torff an Lottum 9. November.<lb/>
Wolzogens Denk&#x017F;chrift 17. Okt. Boyens Denk&#x017F;chrift 15. Nov. 1818.</note></p><lb/>
          <p>Den preußi&#x017F;chen Generalen war mit Alledem noch nicht genug ge-<lb/>
&#x017F;chehen. Sie täu&#x017F;chten &#x017F;ich nicht über die vollkommene Unbrauchbarkeit des<lb/>
gerühmten niederländi&#x017F;chen &#x201E;Pol&#x017F;terki&#x017F;&#x017F;ens&#x201C;, das nach der Ab&#x017F;icht des<lb/>
Wiener Congre&#x017F;&#x017F;es den er&#x017F;ten Stoß der franzö&#x017F;i&#x017F;chen Heere auffangen<lb/>
&#x017F;ollte; &#x017F;ie kannten den kläglichen Zu&#x017F;tand der niederländi&#x017F;chen Armee und<lb/>
wußten, daß &#x017F;ie nicht ausreichte, um auch nur die Hälfte von jenen<lb/>
fünfzig Fe&#x017F;tungen und Forts zu bewachen, welche Wellington &#x017F;oeben mit<lb/>
Hilfe der franzö&#x017F;i&#x017F;chen Contributionsgelder an der belgi&#x017F;chen Grenze aus-<lb/>
bauen ließ. Preußen beab&#x017F;ichtigte daher als der zunäch&#x017F;t bedrohte Nach-<lb/>
bar&#x017F;taat am Niederrhein ein &#x017F;tehendes Ob&#x017F;ervationscorps aufzu&#x017F;tellen, das<lb/>
gegebenen Falls noch vor der Kriegserklärung gradeswegs in Belgien ein-<lb/>
rücken &#x017F;ollte. Um mit dem niederländi&#x017F;chen Hofe das Nähere zu ver-<lb/>
abreden, wurde General Müffling von Aachen aus nach Brü&#x017F;&#x017F;el ge&#x017F;endet;<lb/>
aber eine &#x017F;olche Schmälerung &#x017F;einer Souveränität wollte König Wilhelm<lb/>
&#x017F;chlechterdings nicht zugeben. Schon &#x017F;eit Jahren hatte der Oranier, der<lb/>
&#x017F;einen Thron den Waffen der Verbündeten verdankte, &#x017F;eine Vorliebe für<lb/>
Frankreich, &#x017F;einen Haß gegen Preußen deutlich bekundet. Jetzt grollte er,<lb/>
weil König Friedrich Wilhelm ihn nicht von Aachen aus be&#x017F;ucht hatte,<lb/>
und mehr noch weil Preußen, den Verträgen gemäß, den Oberbefehl<lb/>
in der Bundesfe&#x017F;tung Luxemburg bean&#x017F;pruchte; und als der preußi&#x017F;che<lb/>
Unterhändler nun gar auf die &#x017F;chwierige Stimmung der Belgier warnend<lb/>
hinwies, da fühlte &#x017F;ich der Brü&#x017F;&#x017F;eler Hof tief beleidigt. Er wollte nichts<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en von dem furchtbaren, täglich wach&#x017F;enden Grolle der katholi&#x017F;chen<lb/>
Belgier wider die holländi&#x017F;chen Ketzer und &#x017F;ah &#x017F;ich in &#x017F;einem verblendeten<lb/>
Hochmuth be&#x017F;tärkt durch den engli&#x017F;chen Ge&#x017F;andten Lord Clancarty, der dies<lb/>
kün&#x017F;tliche Königreich, dies Mei&#x017F;terwerk engli&#x017F;cher Staatsweisheit nicht<lb/>
genug bewundern konnte. Der Hochtory fand die Zu&#x017F;tände in Belgien<lb/>
ganz vortrefflich und rieth dem Berliner Hofe mit engli&#x017F;cher Be&#x017F;cheiden-<lb/>
heit: möge nur Preußen dem guten Bei&#x017F;piel, das die Holländer in Bel-<lb/>
gien geben, folgen und &#x017F;eine neuen Provinzen eben&#x017F;o mu&#x017F;terhaft regieren;<lb/>
dann wird für die preußi&#x017F;chen Rheinlande nichts mehr zu fürchten &#x017F;ein!<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[472/0486] II. 8. Der Aachener Congreß. gart, die Ruſſen binnen drei Monaten um Mainz verſammelt ſein. Von den belgiſchen Feſtungen beſetzt England die weſtlichen, Oſtende, Ypern und einige der Scheldeplätze, Preußen die Plätze an der Maas und Sambre, Namur, Charleroi, Marienburg u. ſ. w. Die kleinen deutſchen Contingente dachte man wieder wie im Jahre 1815 nach der geographi- ſchen Lage unter die verſchiedenen Armeen zu vertheilen, da ein Bundes- heer noch immer nicht beſtand. Dies Protokoll ward genehmigt, und dann mußte Wellington auf Preußens Andringen auch noch die Zuſtimmung des Königs der Niederlande einholen. *) Den preußiſchen Generalen war mit Alledem noch nicht genug ge- ſchehen. Sie täuſchten ſich nicht über die vollkommene Unbrauchbarkeit des gerühmten niederländiſchen „Polſterkiſſens“, das nach der Abſicht des Wiener Congreſſes den erſten Stoß der franzöſiſchen Heere auffangen ſollte; ſie kannten den kläglichen Zuſtand der niederländiſchen Armee und wußten, daß ſie nicht ausreichte, um auch nur die Hälfte von jenen fünfzig Feſtungen und Forts zu bewachen, welche Wellington ſoeben mit Hilfe der franzöſiſchen Contributionsgelder an der belgiſchen Grenze aus- bauen ließ. Preußen beabſichtigte daher als der zunächſt bedrohte Nach- barſtaat am Niederrhein ein ſtehendes Obſervationscorps aufzuſtellen, das gegebenen Falls noch vor der Kriegserklärung gradeswegs in Belgien ein- rücken ſollte. Um mit dem niederländiſchen Hofe das Nähere zu ver- abreden, wurde General Müffling von Aachen aus nach Brüſſel geſendet; aber eine ſolche Schmälerung ſeiner Souveränität wollte König Wilhelm ſchlechterdings nicht zugeben. Schon ſeit Jahren hatte der Oranier, der ſeinen Thron den Waffen der Verbündeten verdankte, ſeine Vorliebe für Frankreich, ſeinen Haß gegen Preußen deutlich bekundet. Jetzt grollte er, weil König Friedrich Wilhelm ihn nicht von Aachen aus beſucht hatte, und mehr noch weil Preußen, den Verträgen gemäß, den Oberbefehl in der Bundesfeſtung Luxemburg beanſpruchte; und als der preußiſche Unterhändler nun gar auf die ſchwierige Stimmung der Belgier warnend hinwies, da fühlte ſich der Brüſſeler Hof tief beleidigt. Er wollte nichts wiſſen von dem furchtbaren, täglich wachſenden Grolle der katholiſchen Belgier wider die holländiſchen Ketzer und ſah ſich in ſeinem verblendeten Hochmuth beſtärkt durch den engliſchen Geſandten Lord Clancarty, der dies künſtliche Königreich, dies Meiſterwerk engliſcher Staatsweisheit nicht genug bewundern konnte. Der Hochtory fand die Zuſtände in Belgien ganz vortrefflich und rieth dem Berliner Hofe mit engliſcher Beſcheiden- heit: möge nur Preußen dem guten Beiſpiel, das die Holländer in Bel- gien geben, folgen und ſeine neuen Provinzen ebenſo muſterhaft regieren; dann wird für die preußiſchen Rheinlande nichts mehr zu fürchten ſein! *) Protocole militaire vom 15. November. Bernſtorff an Lottum 9. November. Wolzogens Denkſchrift 17. Okt. Boyens Denkſchrift 15. Nov. 1818.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/486
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/486>, abgerufen am 22.11.2024.