Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 8. Der Aachener Congreß. Adler nach einem halben Jahrhundert wiedersehen sollte. In den Tuilerienzeigte der Czar wieder seine schauspielerischen Künste; er blieb nur einen Tag und hielt, sobald sein preußischer Freund ins Theater gefahren war, mit König Ludwig eine lange feierliche Unterredung, wobei es an pathe- tischen Worten und gönnerhaftem Wohlwollen nicht fehlte. Aber bindende Zusagen gab er dem Könige nicht, und als er am 31. Oktober nach Aachen zurückkehrte, fand er die Staatsmänner in einer Stimmung, welche für Frankreich nichts Gutes verhieß. Die soeben vollzogenen Ergänzungswahlen für die französischen Kam- Am 15. unterzeichneten sodann die nunmehr vereinigten fünf Mächte *) Protokoll der 22. Sitzung vom 4. Nov. Metternichs Apercu de la situation,
1. Nov. 1818. Das in Metternichs nachgelassenen Papieren III. 161 abgedruckte Akten- stück ist nur das erste Concept dieser nachher noch stark umgearbeiteten Denkschrift. II. 8. Der Aachener Congreß. Adler nach einem halben Jahrhundert wiederſehen ſollte. In den Tuilerienzeigte der Czar wieder ſeine ſchauſpieleriſchen Künſte; er blieb nur einen Tag und hielt, ſobald ſein preußiſcher Freund ins Theater gefahren war, mit König Ludwig eine lange feierliche Unterredung, wobei es an pathe- tiſchen Worten und gönnerhaftem Wohlwollen nicht fehlte. Aber bindende Zuſagen gab er dem Könige nicht, und als er am 31. Oktober nach Aachen zurückkehrte, fand er die Staatsmänner in einer Stimmung, welche für Frankreich nichts Gutes verhieß. Die ſoeben vollzogenen Ergänzungswahlen für die franzöſiſchen Kam- Am 15. unterzeichneten ſodann die nunmehr vereinigten fünf Mächte *) Protokoll der 22. Sitzung vom 4. Nov. Metternichs Aperçu de la situation,
1. Nov. 1818. Das in Metternichs nachgelaſſenen Papieren III. 161 abgedruckte Akten- ſtück iſt nur das erſte Concept dieſer nachher noch ſtark umgearbeiteten Denkſchrift. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0484" n="470"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 8. Der Aachener Congreß.</fw><lb/> Adler nach einem halben Jahrhundert wiederſehen ſollte. In den Tuilerien<lb/> zeigte der Czar wieder ſeine ſchauſpieleriſchen Künſte; er blieb nur einen<lb/> Tag und hielt, ſobald ſein preußiſcher Freund ins Theater gefahren war,<lb/> mit König Ludwig eine lange feierliche Unterredung, wobei es an pathe-<lb/> tiſchen Worten und gönnerhaftem Wohlwollen nicht fehlte. Aber bindende<lb/> Zuſagen gab er dem Könige nicht, und als er am 31. Oktober nach<lb/> Aachen zurückkehrte, fand er die Staatsmänner in einer Stimmung, welche<lb/> für Frankreich nichts Gutes verhieß.</p><lb/> <p>Die ſoeben vollzogenen Ergänzungswahlen für die franzöſiſchen Kam-<lb/> mern hatten keinem einzigen Ultraroyaliſten ein Mandat gebracht, da-<lb/> gegen waren ſelbſt in den Hochburgen der legitimiſtiſchen Partei, in der<lb/> Bretagne und der Vendee erklärte Demokraten wie Lafayette und Manuel<lb/> gewählt; und zudem die beunruhigenden Nachrichten von der Pariſer Börſe.<lb/> Frankreichs Zukunft erſchien Allen unſicherer denn je, und mit Nachdruck<lb/> hob Metternich in einer Denkſchrift vom 1. November hervor, daß dieſes<lb/> Land ſich noch immer nicht in der gleichen Lage befinde wie die übrigen<lb/> Mächte. Niemand wolle das ruhige und conſtitutionelle Frankreich be-<lb/> drohen; aber dieſer Staat ſei aus einer Revolution hervorgegangen und<lb/> von Parteien zerriſſen; es beſtehe zwiſchen den vier Mächten eine Ver-<lb/> pflichtung ihn zu beobachten, ob er wieder in revolutionäre Zuckungen<lb/> verfallen ſollte, „eine Verpflichtung, welche gegen keinen anderen Staat<lb/> beſteht“; deshalb könne Frankreich nicht in einen förmlichen Bund ein-<lb/> treten, zumal da es an einem <hi rendition="#aq">casus foederis</hi> fehle, ſondern nur zur<lb/> Theilnahme an den Berathungen der vier Mächte aufgefordert werden.<lb/> Dieſe Anſicht drang durch, obwohl Rußland einige mehr gegen die Form<lb/> als gegen die Sache gerichtete Einwendungen erhob<note place="foot" n="*)">Protokoll der 22. Sitzung vom 4. Nov. Metternichs <hi rendition="#aq">Aperçu de la situation,</hi><lb/> 1. Nov. 1818. Das in Metternichs nachgelaſſenen Papieren <hi rendition="#aq">III.</hi> 161 abgedruckte Akten-<lb/> ſtück iſt nur das erſte Concept dieſer nachher noch ſtark umgearbeiteten Denkſchrift.</note>, und hierauf wurde<lb/> der Allerchriſtlichſte König durch eine ſchmeichelhafte Note der vier Mächte<lb/> an Richelieu vom 4. Novbr. eingeladen, fortan ſeine Rathſchläge mit den<lb/> ihrigen zu vereinigen. Am 12. erklärte der franzöſiſche Miniſter in einer<lb/> Antwortsnote die lebhafte Dankbarkeit ſeines Königs für dieſen neuen<lb/> Beweis von Vertrauen und Freundſchaft und verſprach, daß Frankreich<lb/> ſich „mit der ihm eigenthümlichen Ehrlichkeit“ an die Union der Mächte<lb/> anſchließen werde.</p><lb/> <p>Am 15. unterzeichneten ſodann die nunmehr vereinigten fünf Mächte<lb/> ein Protokoll, worin ſie den Beitritt Frankreichs zu dem Syſteme des<lb/> allgemeinen Friedens feierlich ausſprachen und zugleich ſich verpflichteten,<lb/> von Zeit zu Zeit, nach Vereinbarung, perſönliche Zuſammenkünfte zur<lb/> gemeinſamen Berathung ihrer Angelegenheiten zu halten; ſollten auf<lb/> dieſen Zuſammenkünften die Intereſſen anderer Mächte zur Verhandlung<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [470/0484]
II. 8. Der Aachener Congreß.
Adler nach einem halben Jahrhundert wiederſehen ſollte. In den Tuilerien
zeigte der Czar wieder ſeine ſchauſpieleriſchen Künſte; er blieb nur einen
Tag und hielt, ſobald ſein preußiſcher Freund ins Theater gefahren war,
mit König Ludwig eine lange feierliche Unterredung, wobei es an pathe-
tiſchen Worten und gönnerhaftem Wohlwollen nicht fehlte. Aber bindende
Zuſagen gab er dem Könige nicht, und als er am 31. Oktober nach
Aachen zurückkehrte, fand er die Staatsmänner in einer Stimmung, welche
für Frankreich nichts Gutes verhieß.
Die ſoeben vollzogenen Ergänzungswahlen für die franzöſiſchen Kam-
mern hatten keinem einzigen Ultraroyaliſten ein Mandat gebracht, da-
gegen waren ſelbſt in den Hochburgen der legitimiſtiſchen Partei, in der
Bretagne und der Vendee erklärte Demokraten wie Lafayette und Manuel
gewählt; und zudem die beunruhigenden Nachrichten von der Pariſer Börſe.
Frankreichs Zukunft erſchien Allen unſicherer denn je, und mit Nachdruck
hob Metternich in einer Denkſchrift vom 1. November hervor, daß dieſes
Land ſich noch immer nicht in der gleichen Lage befinde wie die übrigen
Mächte. Niemand wolle das ruhige und conſtitutionelle Frankreich be-
drohen; aber dieſer Staat ſei aus einer Revolution hervorgegangen und
von Parteien zerriſſen; es beſtehe zwiſchen den vier Mächten eine Ver-
pflichtung ihn zu beobachten, ob er wieder in revolutionäre Zuckungen
verfallen ſollte, „eine Verpflichtung, welche gegen keinen anderen Staat
beſteht“; deshalb könne Frankreich nicht in einen förmlichen Bund ein-
treten, zumal da es an einem casus foederis fehle, ſondern nur zur
Theilnahme an den Berathungen der vier Mächte aufgefordert werden.
Dieſe Anſicht drang durch, obwohl Rußland einige mehr gegen die Form
als gegen die Sache gerichtete Einwendungen erhob *), und hierauf wurde
der Allerchriſtlichſte König durch eine ſchmeichelhafte Note der vier Mächte
an Richelieu vom 4. Novbr. eingeladen, fortan ſeine Rathſchläge mit den
ihrigen zu vereinigen. Am 12. erklärte der franzöſiſche Miniſter in einer
Antwortsnote die lebhafte Dankbarkeit ſeines Königs für dieſen neuen
Beweis von Vertrauen und Freundſchaft und verſprach, daß Frankreich
ſich „mit der ihm eigenthümlichen Ehrlichkeit“ an die Union der Mächte
anſchließen werde.
Am 15. unterzeichneten ſodann die nunmehr vereinigten fünf Mächte
ein Protokoll, worin ſie den Beitritt Frankreichs zu dem Syſteme des
allgemeinen Friedens feierlich ausſprachen und zugleich ſich verpflichteten,
von Zeit zu Zeit, nach Vereinbarung, perſönliche Zuſammenkünfte zur
gemeinſamen Berathung ihrer Angelegenheiten zu halten; ſollten auf
dieſen Zuſammenkünften die Intereſſen anderer Mächte zur Verhandlung
*) Protokoll der 22. Sitzung vom 4. Nov. Metternichs Aperçu de la situation,
1. Nov. 1818. Das in Metternichs nachgelaſſenen Papieren III. 161 abgedruckte Akten-
ſtück iſt nur das erſte Concept dieſer nachher noch ſtark umgearbeiteten Denkſchrift.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |