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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Frankreichs Eintritt in die Allianz.
Mächte Oesterreich und England vor Allem das Bestehende, den Vierbund
aufrechtzuhalten, etwa mit gelegentlicher Zuziehung Frankreichs; Metternich
wie Castlereagh konnten das Mißtrauen gegen Rußlands Ehrgeiz und die
Furcht vor jeder Neuerung nicht überwinden. Ueberdies befürchtete Lord
Liverpool heftige Kämpfe mit den Whigs, falls seine Amtsgenossen einen
förmlichen Vertrag unterschrieben, und verbarg seine Angst hinter der
hochtrabenden Mahnung: "die Verbündeten mögen nicht vergessen, daß
die allgemeine und europäische Erörterung dieser Fragen im englischen
Parlamente stattfinden wird." Im Schooße seines eigenen Cabinets erhob
sich bereits eine Stimme des Widerspruchs; das jüngste Mitglied des
Ministeriums, Georg Canning, vertrat schon die Ansicht, daß der Insel-
staat den Angelegenheiten des Festlandes, soweit sie nicht den englischen
Handel berührten, fern bleiben solle. Preußen stand zwischen beiden Par-
teien in der Mitte und bemühte sich um einen Ausgleich, dessen Be-
dingungen in der That nahe lagen. Der Vierbund bestand unzweifelhaft
noch zu Recht; ihn aufzuheben war jetzt nicht rathsam, da der Zustand
Frankreichs so wenig Vertrauen erweckte und in dem Königreich der Nieder-
lande bereits ein Kampf zwischen Nord und Süd entbrannt war, der den
Zerfall dieses künstlichen Staatsgebildes anzukündigen schien. Anderer-
seits ließ sich dem Tuilerienhofe, nachdem er alle Bedingungen des Frie-
dens erfüllt hatte, die Theilnahme an den Berathungen der europäischen
Mächte billigerweise nicht mehr versagen. Gab es kein Mittel, um beide
Zwecke zugleich zu erreichen, um Frankreich in das europäische Concert
aufzunehmen und zugleich den Bund der Vier von Neuem zu befestigen?

Auf dies zweifache Ziel war Preußens Vermittlung gerichtet, und
schon nach wenigen Tagen hatten sich die beiden Parteien einander ge-
nähert. Am 14. Oktober schlug Kapodistrias in einer neuen Denkschrift
vor: es solle durch ein geheimes Protokoll der vier Mächte der Vierbund
abermals bestätigt und die Rüstung für den Fall des Krieges gegen
Frankreich im Einzelnen verabredet werden; hierauf sei Frankreich zum
Anschluß an die Union der Mächte einzuladen und der vollzogene Beitritt
den übrigen Staaten Europas anzuzeigen als ein Beweis "der Einheit,
der brüderlichen und christlichen Freundschaft" der Monarchen*). Damit
waren die Grundlagen für die Verständigung bereits gegeben. Indeß ge-
riethen die Verhandlungen für einige Tage ins Stocken, weil der Czar und
der König auf Richelieus dringende Bitten einen Abstecher nach Paris
unternahmen; der greise Bourbone wünschte seiner Nation zu zeigen, daß
die Verbündeten ihn als einen völlig gleichberechtigten Bundesgenossen be-
trachteten. Unterwegs wurde bei Sedan eine Heerschau über das preußische
Besatzungscorps abgehalten, auf demselben Gefilde, das die schwarzen

*) Memoire sur l'application des traites de 1815 aux circonstances actuelles.
14. Okt. 1818.

Frankreichs Eintritt in die Allianz.
Mächte Oeſterreich und England vor Allem das Beſtehende, den Vierbund
aufrechtzuhalten, etwa mit gelegentlicher Zuziehung Frankreichs; Metternich
wie Caſtlereagh konnten das Mißtrauen gegen Rußlands Ehrgeiz und die
Furcht vor jeder Neuerung nicht überwinden. Ueberdies befürchtete Lord
Liverpool heftige Kämpfe mit den Whigs, falls ſeine Amtsgenoſſen einen
förmlichen Vertrag unterſchrieben, und verbarg ſeine Angſt hinter der
hochtrabenden Mahnung: „die Verbündeten mögen nicht vergeſſen, daß
die allgemeine und europäiſche Erörterung dieſer Fragen im engliſchen
Parlamente ſtattfinden wird.“ Im Schooße ſeines eigenen Cabinets erhob
ſich bereits eine Stimme des Widerſpruchs; das jüngſte Mitglied des
Miniſteriums, Georg Canning, vertrat ſchon die Anſicht, daß der Inſel-
ſtaat den Angelegenheiten des Feſtlandes, ſoweit ſie nicht den engliſchen
Handel berührten, fern bleiben ſolle. Preußen ſtand zwiſchen beiden Par-
teien in der Mitte und bemühte ſich um einen Ausgleich, deſſen Be-
dingungen in der That nahe lagen. Der Vierbund beſtand unzweifelhaft
noch zu Recht; ihn aufzuheben war jetzt nicht rathſam, da der Zuſtand
Frankreichs ſo wenig Vertrauen erweckte und in dem Königreich der Nieder-
lande bereits ein Kampf zwiſchen Nord und Süd entbrannt war, der den
Zerfall dieſes künſtlichen Staatsgebildes anzukündigen ſchien. Anderer-
ſeits ließ ſich dem Tuilerienhofe, nachdem er alle Bedingungen des Frie-
dens erfüllt hatte, die Theilnahme an den Berathungen der europäiſchen
Mächte billigerweiſe nicht mehr verſagen. Gab es kein Mittel, um beide
Zwecke zugleich zu erreichen, um Frankreich in das europäiſche Concert
aufzunehmen und zugleich den Bund der Vier von Neuem zu befeſtigen?

Auf dies zweifache Ziel war Preußens Vermittlung gerichtet, und
ſchon nach wenigen Tagen hatten ſich die beiden Parteien einander ge-
nähert. Am 14. Oktober ſchlug Kapodiſtrias in einer neuen Denkſchrift
vor: es ſolle durch ein geheimes Protokoll der vier Mächte der Vierbund
abermals beſtätigt und die Rüſtung für den Fall des Krieges gegen
Frankreich im Einzelnen verabredet werden; hierauf ſei Frankreich zum
Anſchluß an die Union der Mächte einzuladen und der vollzogene Beitritt
den übrigen Staaten Europas anzuzeigen als ein Beweis „der Einheit,
der brüderlichen und chriſtlichen Freundſchaft“ der Monarchen*). Damit
waren die Grundlagen für die Verſtändigung bereits gegeben. Indeß ge-
riethen die Verhandlungen für einige Tage ins Stocken, weil der Czar und
der König auf Richelieus dringende Bitten einen Abſtecher nach Paris
unternahmen; der greiſe Bourbone wünſchte ſeiner Nation zu zeigen, daß
die Verbündeten ihn als einen völlig gleichberechtigten Bundesgenoſſen be-
trachteten. Unterwegs wurde bei Sedan eine Heerſchau über das preußiſche
Beſatzungscorps abgehalten, auf demſelben Gefilde, das die ſchwarzen

*) Mémoire sur l’application des traités de 1815 aux circonstances actuelles.
14. Okt. 1818.
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[469/0483] Frankreichs Eintritt in die Allianz. Mächte Oeſterreich und England vor Allem das Beſtehende, den Vierbund aufrechtzuhalten, etwa mit gelegentlicher Zuziehung Frankreichs; Metternich wie Caſtlereagh konnten das Mißtrauen gegen Rußlands Ehrgeiz und die Furcht vor jeder Neuerung nicht überwinden. Ueberdies befürchtete Lord Liverpool heftige Kämpfe mit den Whigs, falls ſeine Amtsgenoſſen einen förmlichen Vertrag unterſchrieben, und verbarg ſeine Angſt hinter der hochtrabenden Mahnung: „die Verbündeten mögen nicht vergeſſen, daß die allgemeine und europäiſche Erörterung dieſer Fragen im engliſchen Parlamente ſtattfinden wird.“ Im Schooße ſeines eigenen Cabinets erhob ſich bereits eine Stimme des Widerſpruchs; das jüngſte Mitglied des Miniſteriums, Georg Canning, vertrat ſchon die Anſicht, daß der Inſel- ſtaat den Angelegenheiten des Feſtlandes, ſoweit ſie nicht den engliſchen Handel berührten, fern bleiben ſolle. Preußen ſtand zwiſchen beiden Par- teien in der Mitte und bemühte ſich um einen Ausgleich, deſſen Be- dingungen in der That nahe lagen. Der Vierbund beſtand unzweifelhaft noch zu Recht; ihn aufzuheben war jetzt nicht rathſam, da der Zuſtand Frankreichs ſo wenig Vertrauen erweckte und in dem Königreich der Nieder- lande bereits ein Kampf zwiſchen Nord und Süd entbrannt war, der den Zerfall dieſes künſtlichen Staatsgebildes anzukündigen ſchien. Anderer- ſeits ließ ſich dem Tuilerienhofe, nachdem er alle Bedingungen des Frie- dens erfüllt hatte, die Theilnahme an den Berathungen der europäiſchen Mächte billigerweiſe nicht mehr verſagen. Gab es kein Mittel, um beide Zwecke zugleich zu erreichen, um Frankreich in das europäiſche Concert aufzunehmen und zugleich den Bund der Vier von Neuem zu befeſtigen? Auf dies zweifache Ziel war Preußens Vermittlung gerichtet, und ſchon nach wenigen Tagen hatten ſich die beiden Parteien einander ge- nähert. Am 14. Oktober ſchlug Kapodiſtrias in einer neuen Denkſchrift vor: es ſolle durch ein geheimes Protokoll der vier Mächte der Vierbund abermals beſtätigt und die Rüſtung für den Fall des Krieges gegen Frankreich im Einzelnen verabredet werden; hierauf ſei Frankreich zum Anſchluß an die Union der Mächte einzuladen und der vollzogene Beitritt den übrigen Staaten Europas anzuzeigen als ein Beweis „der Einheit, der brüderlichen und chriſtlichen Freundſchaft“ der Monarchen *). Damit waren die Grundlagen für die Verſtändigung bereits gegeben. Indeß ge- riethen die Verhandlungen für einige Tage ins Stocken, weil der Czar und der König auf Richelieus dringende Bitten einen Abſtecher nach Paris unternahmen; der greiſe Bourbone wünſchte ſeiner Nation zu zeigen, daß die Verbündeten ihn als einen völlig gleichberechtigten Bundesgenoſſen be- trachteten. Unterwegs wurde bei Sedan eine Heerſchau über das preußiſche Beſatzungscorps abgehalten, auf demſelben Gefilde, das die ſchwarzen *) Mémoire sur l’application des traités de 1815 aux circonstances actuelles. 14. Okt. 1818.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/483>, abgerufen am 22.11.2024.