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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 8. Der Aachener Congreß.
Mit dieser Adresse erschien Görres am 12. Januar 1818 bei Hardenberg,
hinter ihm ein wundersamer Aufzug, nicht unähnlich jenen verkleideten
Chinesen und Chaldäern, welche der tolle Anacharsis Cloots einst als
"Deputation des Menschengeschlechts" der französischen Nationalversamm-
lung vorführte. Die Coblenzer Deputation wollte "eine Ständeversamm-
lung im Kleinen" vorstellen; Geistliche und Lehrer vertraten den Lehr-
stand, Edelleute, Landwehrmänner und Richter den Wehrstand, ein
Landrath nebst mehreren Bürgern und Bauern den Nährstand. Der
Staatskanzler hörte den Redner, der in pathetischen Worten das Lob der
alten kurtrier'schen Landtage sang, den merkwürdigen Nährstands-Landrath
sowie die übrigen Mitglieder freundlich an; er verhehlte jedoch den Ab-
geordneten nicht, daß er selber weit liberaler denke als sie: die einfache
Wiederherstellung überwundener Zustände sei nicht möglich. Nachher
erzählte Görres die Geschichte dieser Audienz -- dieses "Maifeldes des
Frankenstammes" -- in einer musterhaft ungeschickten Flugschrift, und mit
schmetternden Fanfaren feierte die liberale Presse den großen Tribunen:
nun habe das freie Rheinland der Krone Preußen seine Magna Charta
überreicht!

Hardenberg, der seinen Mann kannte, nahm die Blätter dankend
an. Am Hofe aber regte sich die reaktionäre Partei, um den Vorfall
gegen den abwesenden Staatskanzler auszubeuten. Der schreiende Ton
der Schrift mißfiel dem Könige, nicht minder die gehässigen Anklagen
wider den preußischen Staat und der widerwärtige rheinländische Dünkel,
der die alten Provinzen wegwerfend als halbbarbarische Kolonistenlande
behandelte. Der Kronprinz ließ die Flugschrift mit einigen tadelnden
Worten ihrem Verfasser zurückschicken, und auf Befehl des Monarchen
wurde eine Untersuchung eingeleitet. Es stellte sich heraus, daß die
Adresse durch die Schöffen in den Gemeinden des Regierungsbezirks ver-
breitet worden war. Nur zwei der befragten Gemeinden hatten die
Theilnahme verweigert: die Bürgerschaft von Hatzenport an der Mosel,
weil sie mit der gegenwärtigen Verfassung zufrieden sei, und ein Ort
auf dem Hunsrücken, weil die Bauern dort mit gutem Grunde befürch-
teten, daß die Adresse mit der alten trier'schen Verfassung auch die
Zehnten zurückbringen würde. Als ein Landrath eingeschritten war, hatte
ihn die Regierung in Coblenz zurückgewiesen, da "wir nicht verhindern
wollen, daß Unterthanen ihre Wünsche dem Landesherrn vortragen";
sie "schmeichelte sich damit" -- wie ihre Rechtfertigungsschrift sagte --
"ganz im Geiste der liberalen Gesinnungen unseres Gouvernements ge-
handelt zu haben".*)

Der König dachte anders; er zeigte sich sehr aufgebracht, denn er wollte
die alte fridericianische Vorschrift, die nur dem Einzelnen das Recht der

*) Eingabe der Coblenzer Regierung vom 20. Mai 1818.

II. 8. Der Aachener Congreß.
Mit dieſer Adreſſe erſchien Görres am 12. Januar 1818 bei Hardenberg,
hinter ihm ein wunderſamer Aufzug, nicht unähnlich jenen verkleideten
Chineſen und Chaldäern, welche der tolle Anacharſis Cloots einſt als
„Deputation des Menſchengeſchlechts“ der franzöſiſchen Nationalverſamm-
lung vorführte. Die Coblenzer Deputation wollte „eine Ständeverſamm-
lung im Kleinen“ vorſtellen; Geiſtliche und Lehrer vertraten den Lehr-
ſtand, Edelleute, Landwehrmänner und Richter den Wehrſtand, ein
Landrath nebſt mehreren Bürgern und Bauern den Nährſtand. Der
Staatskanzler hörte den Redner, der in pathetiſchen Worten das Lob der
alten kurtrier’ſchen Landtage ſang, den merkwürdigen Nährſtands-Landrath
ſowie die übrigen Mitglieder freundlich an; er verhehlte jedoch den Ab-
geordneten nicht, daß er ſelber weit liberaler denke als ſie: die einfache
Wiederherſtellung überwundener Zuſtände ſei nicht möglich. Nachher
erzählte Görres die Geſchichte dieſer Audienz — dieſes „Maifeldes des
Frankenſtammes“ — in einer muſterhaft ungeſchickten Flugſchrift, und mit
ſchmetternden Fanfaren feierte die liberale Preſſe den großen Tribunen:
nun habe das freie Rheinland der Krone Preußen ſeine Magna Charta
überreicht!

Hardenberg, der ſeinen Mann kannte, nahm die Blätter dankend
an. Am Hofe aber regte ſich die reaktionäre Partei, um den Vorfall
gegen den abweſenden Staatskanzler auszubeuten. Der ſchreiende Ton
der Schrift mißfiel dem Könige, nicht minder die gehäſſigen Anklagen
wider den preußiſchen Staat und der widerwärtige rheinländiſche Dünkel,
der die alten Provinzen wegwerfend als halbbarbariſche Koloniſtenlande
behandelte. Der Kronprinz ließ die Flugſchrift mit einigen tadelnden
Worten ihrem Verfaſſer zurückſchicken, und auf Befehl des Monarchen
wurde eine Unterſuchung eingeleitet. Es ſtellte ſich heraus, daß die
Adreſſe durch die Schöffen in den Gemeinden des Regierungsbezirks ver-
breitet worden war. Nur zwei der befragten Gemeinden hatten die
Theilnahme verweigert: die Bürgerſchaft von Hatzenport an der Moſel,
weil ſie mit der gegenwärtigen Verfaſſung zufrieden ſei, und ein Ort
auf dem Hunsrücken, weil die Bauern dort mit gutem Grunde befürch-
teten, daß die Adreſſe mit der alten trier’ſchen Verfaſſung auch die
Zehnten zurückbringen würde. Als ein Landrath eingeſchritten war, hatte
ihn die Regierung in Coblenz zurückgewieſen, da „wir nicht verhindern
wollen, daß Unterthanen ihre Wünſche dem Landesherrn vortragen“;
ſie „ſchmeichelte ſich damit“ — wie ihre Rechtfertigungsſchrift ſagte —
„ganz im Geiſte der liberalen Geſinnungen unſeres Gouvernements ge-
handelt zu haben“.*)

Der König dachte anders; er zeigte ſich ſehr aufgebracht, denn er wollte
die alte fridericianiſche Vorſchrift, die nur dem Einzelnen das Recht der

*) Eingabe der Coblenzer Regierung vom 20. Mai 1818.
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[456/0470] II. 8. Der Aachener Congreß. Mit dieſer Adreſſe erſchien Görres am 12. Januar 1818 bei Hardenberg, hinter ihm ein wunderſamer Aufzug, nicht unähnlich jenen verkleideten Chineſen und Chaldäern, welche der tolle Anacharſis Cloots einſt als „Deputation des Menſchengeſchlechts“ der franzöſiſchen Nationalverſamm- lung vorführte. Die Coblenzer Deputation wollte „eine Ständeverſamm- lung im Kleinen“ vorſtellen; Geiſtliche und Lehrer vertraten den Lehr- ſtand, Edelleute, Landwehrmänner und Richter den Wehrſtand, ein Landrath nebſt mehreren Bürgern und Bauern den Nährſtand. Der Staatskanzler hörte den Redner, der in pathetiſchen Worten das Lob der alten kurtrier’ſchen Landtage ſang, den merkwürdigen Nährſtands-Landrath ſowie die übrigen Mitglieder freundlich an; er verhehlte jedoch den Ab- geordneten nicht, daß er ſelber weit liberaler denke als ſie: die einfache Wiederherſtellung überwundener Zuſtände ſei nicht möglich. Nachher erzählte Görres die Geſchichte dieſer Audienz — dieſes „Maifeldes des Frankenſtammes“ — in einer muſterhaft ungeſchickten Flugſchrift, und mit ſchmetternden Fanfaren feierte die liberale Preſſe den großen Tribunen: nun habe das freie Rheinland der Krone Preußen ſeine Magna Charta überreicht! Hardenberg, der ſeinen Mann kannte, nahm die Blätter dankend an. Am Hofe aber regte ſich die reaktionäre Partei, um den Vorfall gegen den abweſenden Staatskanzler auszubeuten. Der ſchreiende Ton der Schrift mißfiel dem Könige, nicht minder die gehäſſigen Anklagen wider den preußiſchen Staat und der widerwärtige rheinländiſche Dünkel, der die alten Provinzen wegwerfend als halbbarbariſche Koloniſtenlande behandelte. Der Kronprinz ließ die Flugſchrift mit einigen tadelnden Worten ihrem Verfaſſer zurückſchicken, und auf Befehl des Monarchen wurde eine Unterſuchung eingeleitet. Es ſtellte ſich heraus, daß die Adreſſe durch die Schöffen in den Gemeinden des Regierungsbezirks ver- breitet worden war. Nur zwei der befragten Gemeinden hatten die Theilnahme verweigert: die Bürgerſchaft von Hatzenport an der Moſel, weil ſie mit der gegenwärtigen Verfaſſung zufrieden ſei, und ein Ort auf dem Hunsrücken, weil die Bauern dort mit gutem Grunde befürch- teten, daß die Adreſſe mit der alten trier’ſchen Verfaſſung auch die Zehnten zurückbringen würde. Als ein Landrath eingeſchritten war, hatte ihn die Regierung in Coblenz zurückgewieſen, da „wir nicht verhindern wollen, daß Unterthanen ihre Wünſche dem Landesherrn vortragen“; ſie „ſchmeichelte ſich damit“ — wie ihre Rechtfertigungsſchrift ſagte — „ganz im Geiſte der liberalen Geſinnungen unſeres Gouvernements ge- handelt zu haben“. *) Der König dachte anders; er zeigte ſich ſehr aufgebracht, denn er wollte die alte fridericianiſche Vorſchrift, die nur dem Einzelnen das Recht der *) Eingabe der Coblenzer Regierung vom 20. Mai 1818.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/470>, abgerufen am 22.11.2024.