fand Hilfe bald beim Reichshofrath, bald bei dem Hause Oesterreich, das sich seinen Erbanspruch auf Württemberg nicht verscherzen wollte, bis endlich England, Preußen und Dänemark die förmliche Bürgschaft für den letzten großen Freiheitsbrief des Landes, den Erbvergleich von 1770 übernahmen.
Auch die Kirche verwaltete völlig selbständig ihren reichen Kirchen- kasten, der über die Einkünfte von 450 Ortschaften gebot; sie allein unter allen den lutherischen Landeskirchen Deutschlands hatte sich das gesammte Besitzthum der alten Kirche ungeschmälert erhalten. Und nicht blos darum hieß Württemberg unter den lutherischen Theologen der Aug- apfel Gottes. Das kleine Land war der lebendige Mittelpunkt des Pro- testantismus in Oberdeutschland. Mit der ganzen Innigkeit seines tiefen Gemüths hatte das Volk sich einst freiwillig dem evangelischen Glauben zugewendet und ihn dann unter schweren Prüfungen standhaft behauptet, während die Heere der Habsburger dreimal das Land überschwemmten und seine Selbständigkeit zu vernichten drohten. Die also in Kampf und Leiden bewährte Kirche bestimmte die gesammte Bildung des Volks, sie schenkte dem Lande früh ein leidlich geordnetes Volksschulwesen und hielt unter den Erwachsenen durch die gefürchteten Vermahnungen "ab der Kanzel" eine puritanische Sittenzucht aufrecht. Die drei hochberühmten Klosterschulen in den stillen Waldthälern von Urach, Blaubeuren, Maul- bronn, wo die Söhne des Herrenstandes ihre Bildung empfingen, trugen noch ganz das Gepräge geistlicher Lehranstalten. Auch an der Tübinger Universität gab das theologische Stift den Ton an; der Stiftler, so hieß es, war zu jedem Amte zu gebrauchen. Die Prälatengeschlechter der Andreä, Osiander, Bidenbach theilten sich mit den Bürgermeisterfamilien in die Beherrschung des Landtags.
Die großen Tage dieser bürgerlich-theologischen Oligarchie fielen in die stille Zeit nach dem Augsburger Frieden, da das gesammte deutsche Leben von der Theologie beherrscht wurde. Damals, unter dem guten Herzog Christoph und dem frommen Ludwig, der seine Zeit so stillver- gnügt zwischen dem Bierkrug und den symbolischen Büchern theilte, galt Württemberg als das Musterbild eines lutherischen Territoriums. Aber sobald die aufkommenden stehenden Heere der modernen Politik neue Aufgaben stellten, offenbarte sich auch hier wie überall die Unfruchtbar- keit des altständischen Staates. Der kunstvolle Bau dieser wohlgesicher- ten Ständeherrschaft war auf den ewigen Stillstand der menschlichen Dinge berechnet, die Macht des Landesherrn so unnatürlich eingeengt, daß Altwürttemberg nur die Sünden, niemals die schöpferische Kraft der Monarchie kennen lernte. Dem Volke erschien der Herzog nur als ein lästiger Dränger und Heischer, da er von dem murrenden Ausschuß beständig neue Steuern und Rekruten forderte. Das überspannte fürstliche Selbstgefühl, das im achtzehnten Jahrhundert auch diese Dynastie ergriff, konnte sich
Die Landſtände und der Kirchenkaſten.
fand Hilfe bald beim Reichshofrath, bald bei dem Hauſe Oeſterreich, das ſich ſeinen Erbanſpruch auf Württemberg nicht verſcherzen wollte, bis endlich England, Preußen und Dänemark die förmliche Bürgſchaft für den letzten großen Freiheitsbrief des Landes, den Erbvergleich von 1770 übernahmen.
Auch die Kirche verwaltete völlig ſelbſtändig ihren reichen Kirchen- kaſten, der über die Einkünfte von 450 Ortſchaften gebot; ſie allein unter allen den lutheriſchen Landeskirchen Deutſchlands hatte ſich das geſammte Beſitzthum der alten Kirche ungeſchmälert erhalten. Und nicht blos darum hieß Württemberg unter den lutheriſchen Theologen der Aug- apfel Gottes. Das kleine Land war der lebendige Mittelpunkt des Pro- teſtantismus in Oberdeutſchland. Mit der ganzen Innigkeit ſeines tiefen Gemüths hatte das Volk ſich einſt freiwillig dem evangeliſchen Glauben zugewendet und ihn dann unter ſchweren Prüfungen ſtandhaft behauptet, während die Heere der Habsburger dreimal das Land überſchwemmten und ſeine Selbſtändigkeit zu vernichten drohten. Die alſo in Kampf und Leiden bewährte Kirche beſtimmte die geſammte Bildung des Volks, ſie ſchenkte dem Lande früh ein leidlich geordnetes Volksſchulweſen und hielt unter den Erwachſenen durch die gefürchteten Vermahnungen „ab der Kanzel“ eine puritaniſche Sittenzucht aufrecht. Die drei hochberühmten Kloſterſchulen in den ſtillen Waldthälern von Urach, Blaubeuren, Maul- bronn, wo die Söhne des Herrenſtandes ihre Bildung empfingen, trugen noch ganz das Gepräge geiſtlicher Lehranſtalten. Auch an der Tübinger Univerſität gab das theologiſche Stift den Ton an; der Stiftler, ſo hieß es, war zu jedem Amte zu gebrauchen. Die Prälatengeſchlechter der Andreä, Oſiander, Bidenbach theilten ſich mit den Bürgermeiſterfamilien in die Beherrſchung des Landtags.
Die großen Tage dieſer bürgerlich-theologiſchen Oligarchie fielen in die ſtille Zeit nach dem Augsburger Frieden, da das geſammte deutſche Leben von der Theologie beherrſcht wurde. Damals, unter dem guten Herzog Chriſtoph und dem frommen Ludwig, der ſeine Zeit ſo ſtillver- gnügt zwiſchen dem Bierkrug und den ſymboliſchen Büchern theilte, galt Württemberg als das Muſterbild eines lutheriſchen Territoriums. Aber ſobald die aufkommenden ſtehenden Heere der modernen Politik neue Aufgaben ſtellten, offenbarte ſich auch hier wie überall die Unfruchtbar- keit des altſtändiſchen Staates. Der kunſtvolle Bau dieſer wohlgeſicher- ten Ständeherrſchaft war auf den ewigen Stillſtand der menſchlichen Dinge berechnet, die Macht des Landesherrn ſo unnatürlich eingeengt, daß Altwürttemberg nur die Sünden, niemals die ſchöpferiſche Kraft der Monarchie kennen lernte. Dem Volke erſchien der Herzog nur als ein läſtiger Dränger und Heiſcher, da er von dem murrenden Ausſchuß beſtändig neue Steuern und Rekruten forderte. Das überſpannte fürſtliche Selbſtgefühl, das im achtzehnten Jahrhundert auch dieſe Dynaſtie ergriff, konnte ſich
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Die Landſtände und der Kirchenkaſten.
fand Hilfe bald beim Reichshofrath, bald bei dem Hauſe Oeſterreich, das
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endlich England, Preußen und Dänemark die förmliche Bürgſchaft für
den letzten großen Freiheitsbrief des Landes, den Erbvergleich von 1770
übernahmen.
Auch die Kirche verwaltete völlig ſelbſtändig ihren reichen Kirchen-
kaſten, der über die Einkünfte von 450 Ortſchaften gebot; ſie allein
unter allen den lutheriſchen Landeskirchen Deutſchlands hatte ſich das
geſammte Beſitzthum der alten Kirche ungeſchmälert erhalten. Und nicht
blos darum hieß Württemberg unter den lutheriſchen Theologen der Aug-
apfel Gottes. Das kleine Land war der lebendige Mittelpunkt des Pro-
teſtantismus in Oberdeutſchland. Mit der ganzen Innigkeit ſeines tiefen
Gemüths hatte das Volk ſich einſt freiwillig dem evangeliſchen Glauben
zugewendet und ihn dann unter ſchweren Prüfungen ſtandhaft behauptet,
während die Heere der Habsburger dreimal das Land überſchwemmten
und ſeine Selbſtändigkeit zu vernichten drohten. Die alſo in Kampf und
Leiden bewährte Kirche beſtimmte die geſammte Bildung des Volks, ſie
ſchenkte dem Lande früh ein leidlich geordnetes Volksſchulweſen und hielt
unter den Erwachſenen durch die gefürchteten Vermahnungen „ab der
Kanzel“ eine puritaniſche Sittenzucht aufrecht. Die drei hochberühmten
Kloſterſchulen in den ſtillen Waldthälern von Urach, Blaubeuren, Maul-
bronn, wo die Söhne des Herrenſtandes ihre Bildung empfingen, trugen
noch ganz das Gepräge geiſtlicher Lehranſtalten. Auch an der Tübinger
Univerſität gab das theologiſche Stift den Ton an; der Stiftler, ſo hieß
es, war zu jedem Amte zu gebrauchen. Die Prälatengeſchlechter der
Andreä, Oſiander, Bidenbach theilten ſich mit den Bürgermeiſterfamilien
in die Beherrſchung des Landtags.
Die großen Tage dieſer bürgerlich-theologiſchen Oligarchie fielen in
die ſtille Zeit nach dem Augsburger Frieden, da das geſammte deutſche
Leben von der Theologie beherrſcht wurde. Damals, unter dem guten
Herzog Chriſtoph und dem frommen Ludwig, der ſeine Zeit ſo ſtillver-
gnügt zwiſchen dem Bierkrug und den ſymboliſchen Büchern theilte, galt
Württemberg als das Muſterbild eines lutheriſchen Territoriums. Aber
ſobald die aufkommenden ſtehenden Heere der modernen Politik neue
Aufgaben ſtellten, offenbarte ſich auch hier wie überall die Unfruchtbar-
keit des altſtändiſchen Staates. Der kunſtvolle Bau dieſer wohlgeſicher-
ten Ständeherrſchaft war auf den ewigen Stillſtand der menſchlichen
Dinge berechnet, die Macht des Landesherrn ſo unnatürlich eingeengt,
daß Altwürttemberg nur die Sünden, niemals die ſchöpferiſche Kraft der
Monarchie kennen lernte. Dem Volke erſchien der Herzog nur als ein läſtiger
Dränger und Heiſcher, da er von dem murrenden Ausſchuß beſtändig neue
Steuern und Rekruten forderte. Das überſpannte fürſtliche Selbſtgefühl,
das im achtzehnten Jahrhundert auch dieſe Dynaſtie ergriff, konnte ſich
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/313>, abgerufen am 23.11.2024.
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