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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Die Verordnung vom 22. Mai 1815.
seitigt, der Bau der neuen Verfassungen erhob sich hier auf einer kahlen
Fläche; nur in Württemberg versuchten die aufgehobenen Stände ihre
Rechte wiederzuerlangen. In Preußen aber hatten sich fast überall noch
schwache Reste der alten Territoriallandtage erhalten. Da rief plötzlich
die vieldeutige königliche Verheißung uralte längstvergessene Ansprüche in
den kraftlosen Körpern wach; der Schutt und Moder der Jahrhunderte
stäubte durch die Luft. Der Kampf der Staatseinheit gegen die Klein-
staaterei, nahezu ausgefochten auf dem Gebiete der Verwaltung erneuerte
sich in der Verfassungsfrage. Während die Masse des Volkes in tiefer
Abspannung verharrte, fanden allein die altständischen Ansprüche rührige,
thatkräftige Vertheidiger, und da den Völkern nur geschenkt wird, was sie
sich selbst verdienen, so erschienen die alten Landstände mächtiger als sie
waren und errangen schließlich noch einen halben Erfolg.

Welch ein Abstand, wenn man hinüberblickte von der monarchischen Ver-
waltung Preußens zu seinen Landständen! Dort Alles Einheit, Ordnung,
Klarheit, hier ein unübersehbares Durcheinander, fast jedes Recht bestritten.
Die ständischen Landschaften deckten sich nirgends mit den Verwaltungs-
bezirken des Staats; ihre Verfassung ruhte durchgängig auf den privat-
rechtlichen Gedanken des Patrimonialstaats, war von den Rechtsbegriffen
des modernen Staats durch eine weite Kluft getrennt; nirgends bestand
eine Vertretung aller Klassen. Die Befugnisse der Stände beschränkten
sich zumeist auf die Verwaltung der ritterschaftlichen Creditanstalten und
Feuersocietäten, auf die Repartition einiger Steuern u. dgl. Weitaus am
kräftigsten hatte sich das alte Ständewesen in Ostpreußen behauptet, weil
hier doch ein Theil der Bauern, die Kölmer, im Landtage vertreten war.
Noch im Frühjahr 1813 hatte der Königsberger Landtag seine Tüchtigkeit
erprobt, und recht aus dem Herzen ihrer Landsleute erklärten die Stände
des Mohrunger Kreises dem Staatskanzler: diese alte von den Vorfahren
ererbte Verfassung sei allein dem deutschen Nationalgeist angemessen.*)
In Westpreußen dagegen waren alle ständischen Befugnisse zweifelhaft.
Nachdem Friedrich der Große die alten polnischen Stände aufgehoben, hatte
sein Nachfolger in seinem Gnadenjahre eine Verordnung über die stän-
dischen Rechte erlassen. Sie blieb unausgeführt. Während der Kriegs-
jahre berief die Regierung mehrmals ständische Versammlungen, deren
Zusammensetzung sie selber bestimmte. Was in Wahrheit zu Recht be-
stehe, wußte Niemand zu sagen, noch weniger, ob Danzig und die War-
schauer Landestheile, die jetzt zu der Provinz hinzutraten, einen Antheil
an den ständischen Rechten beanspruchen durften.

In Pommern bestanden noch dem Namen nach die hinterpommersche
und die vorpommersche Landstube, eine Vertretung der Prälaten, der Ritter-
schaft und der Immediatstädte, ohne jede Theilnahme der Bauern und

*) Eingabe der Mohrunger Kreisstände, 4. Sept. 1816.

Die Verordnung vom 22. Mai 1815.
ſeitigt, der Bau der neuen Verfaſſungen erhob ſich hier auf einer kahlen
Fläche; nur in Württemberg verſuchten die aufgehobenen Stände ihre
Rechte wiederzuerlangen. In Preußen aber hatten ſich faſt überall noch
ſchwache Reſte der alten Territoriallandtage erhalten. Da rief plötzlich
die vieldeutige königliche Verheißung uralte längſtvergeſſene Anſprüche in
den kraftloſen Körpern wach; der Schutt und Moder der Jahrhunderte
ſtäubte durch die Luft. Der Kampf der Staatseinheit gegen die Klein-
ſtaaterei, nahezu ausgefochten auf dem Gebiete der Verwaltung erneuerte
ſich in der Verfaſſungsfrage. Während die Maſſe des Volkes in tiefer
Abſpannung verharrte, fanden allein die altſtändiſchen Anſprüche rührige,
thatkräftige Vertheidiger, und da den Völkern nur geſchenkt wird, was ſie
ſich ſelbſt verdienen, ſo erſchienen die alten Landſtände mächtiger als ſie
waren und errangen ſchließlich noch einen halben Erfolg.

Welch ein Abſtand, wenn man hinüberblickte von der monarchiſchen Ver-
waltung Preußens zu ſeinen Landſtänden! Dort Alles Einheit, Ordnung,
Klarheit, hier ein unüberſehbares Durcheinander, faſt jedes Recht beſtritten.
Die ſtändiſchen Landſchaften deckten ſich nirgends mit den Verwaltungs-
bezirken des Staats; ihre Verfaſſung ruhte durchgängig auf den privat-
rechtlichen Gedanken des Patrimonialſtaats, war von den Rechtsbegriffen
des modernen Staats durch eine weite Kluft getrennt; nirgends beſtand
eine Vertretung aller Klaſſen. Die Befugniſſe der Stände beſchränkten
ſich zumeiſt auf die Verwaltung der ritterſchaftlichen Creditanſtalten und
Feuerſocietäten, auf die Repartition einiger Steuern u. dgl. Weitaus am
kräftigſten hatte ſich das alte Ständeweſen in Oſtpreußen behauptet, weil
hier doch ein Theil der Bauern, die Kölmer, im Landtage vertreten war.
Noch im Frühjahr 1813 hatte der Königsberger Landtag ſeine Tüchtigkeit
erprobt, und recht aus dem Herzen ihrer Landsleute erklärten die Stände
des Mohrunger Kreiſes dem Staatskanzler: dieſe alte von den Vorfahren
ererbte Verfaſſung ſei allein dem deutſchen Nationalgeiſt angemeſſen.*)
In Weſtpreußen dagegen waren alle ſtändiſchen Befugniſſe zweifelhaft.
Nachdem Friedrich der Große die alten polniſchen Stände aufgehoben, hatte
ſein Nachfolger in ſeinem Gnadenjahre eine Verordnung über die ſtän-
diſchen Rechte erlaſſen. Sie blieb unausgeführt. Während der Kriegs-
jahre berief die Regierung mehrmals ſtändiſche Verſammlungen, deren
Zuſammenſetzung ſie ſelber beſtimmte. Was in Wahrheit zu Recht be-
ſtehe, wußte Niemand zu ſagen, noch weniger, ob Danzig und die War-
ſchauer Landestheile, die jetzt zu der Provinz hinzutraten, einen Antheil
an den ſtändiſchen Rechten beanſpruchen durften.

In Pommern beſtanden noch dem Namen nach die hinterpommerſche
und die vorpommerſche Landſtube, eine Vertretung der Prälaten, der Ritter-
ſchaft und der Immediatſtädte, ohne jede Theilnahme der Bauern und

*) Eingabe der Mohrunger Kreisſtände, 4. Sept. 1816.
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[281/0295] Die Verordnung vom 22. Mai 1815. ſeitigt, der Bau der neuen Verfaſſungen erhob ſich hier auf einer kahlen Fläche; nur in Württemberg verſuchten die aufgehobenen Stände ihre Rechte wiederzuerlangen. In Preußen aber hatten ſich faſt überall noch ſchwache Reſte der alten Territoriallandtage erhalten. Da rief plötzlich die vieldeutige königliche Verheißung uralte längſtvergeſſene Anſprüche in den kraftloſen Körpern wach; der Schutt und Moder der Jahrhunderte ſtäubte durch die Luft. Der Kampf der Staatseinheit gegen die Klein- ſtaaterei, nahezu ausgefochten auf dem Gebiete der Verwaltung erneuerte ſich in der Verfaſſungsfrage. Während die Maſſe des Volkes in tiefer Abſpannung verharrte, fanden allein die altſtändiſchen Anſprüche rührige, thatkräftige Vertheidiger, und da den Völkern nur geſchenkt wird, was ſie ſich ſelbſt verdienen, ſo erſchienen die alten Landſtände mächtiger als ſie waren und errangen ſchließlich noch einen halben Erfolg. Welch ein Abſtand, wenn man hinüberblickte von der monarchiſchen Ver- waltung Preußens zu ſeinen Landſtänden! Dort Alles Einheit, Ordnung, Klarheit, hier ein unüberſehbares Durcheinander, faſt jedes Recht beſtritten. Die ſtändiſchen Landſchaften deckten ſich nirgends mit den Verwaltungs- bezirken des Staats; ihre Verfaſſung ruhte durchgängig auf den privat- rechtlichen Gedanken des Patrimonialſtaats, war von den Rechtsbegriffen des modernen Staats durch eine weite Kluft getrennt; nirgends beſtand eine Vertretung aller Klaſſen. Die Befugniſſe der Stände beſchränkten ſich zumeiſt auf die Verwaltung der ritterſchaftlichen Creditanſtalten und Feuerſocietäten, auf die Repartition einiger Steuern u. dgl. Weitaus am kräftigſten hatte ſich das alte Ständeweſen in Oſtpreußen behauptet, weil hier doch ein Theil der Bauern, die Kölmer, im Landtage vertreten war. Noch im Frühjahr 1813 hatte der Königsberger Landtag ſeine Tüchtigkeit erprobt, und recht aus dem Herzen ihrer Landsleute erklärten die Stände des Mohrunger Kreiſes dem Staatskanzler: dieſe alte von den Vorfahren ererbte Verfaſſung ſei allein dem deutſchen Nationalgeiſt angemeſſen. *) In Weſtpreußen dagegen waren alle ſtändiſchen Befugniſſe zweifelhaft. Nachdem Friedrich der Große die alten polniſchen Stände aufgehoben, hatte ſein Nachfolger in ſeinem Gnadenjahre eine Verordnung über die ſtän- diſchen Rechte erlaſſen. Sie blieb unausgeführt. Während der Kriegs- jahre berief die Regierung mehrmals ſtändiſche Verſammlungen, deren Zuſammenſetzung ſie ſelber beſtimmte. Was in Wahrheit zu Recht be- ſtehe, wußte Niemand zu ſagen, noch weniger, ob Danzig und die War- ſchauer Landestheile, die jetzt zu der Provinz hinzutraten, einen Antheil an den ſtändiſchen Rechten beanſpruchen durften. In Pommern beſtanden noch dem Namen nach die hinterpommerſche und die vorpommerſche Landſtube, eine Vertretung der Prälaten, der Ritter- ſchaft und der Immediatſtädte, ohne jede Theilnahme der Bauern und *) Eingabe der Mohrunger Kreisſtände, 4. Sept. 1816.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/295>, abgerufen am 23.11.2024.