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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
sogar das reiche Wupperthal besaß zu Anfang des Jahrhunderts keine
einzige Buchhandlung; jetzt bildete sich in Bonn ein neuer Mittelpunkt
für den literarischen Verkehr, und der rührige Perthes knüpfte sogleich
seine Geschäftsfreundschaften an. Die alten Kölner Patricier sprachen,
wie die Straßburger heute, in Gesellschaft französisch, unter sich im Dialekt;
die jungen mußten nun doch ein verständliches Hochdeutsch lernen. Manches
Jahr ernsten Kampfes und gehässiger gegenseitiger Verkennung sollte noch
dahingehen, bis die neue Provinz ihres Staates froh wurde. Wer aber
die geistreichen, erregbaren, bildsamen, für alles Fremde empfänglichen
Rheinfranken so gründlich kannte wie der treue Arndt, der bezweifelte schon
jetzt nicht, daß diesem Volke die Berührung mit dem scharfen altpreußischen
Wesen zum Heile gereichen mußte. Nur die Fäulniß seines Staates, nur
die Unnatur der Theokratie und der Fremdherrschaft hatte diesen hoch-
begabten Stamm so tief herabgebracht; nur ein starker Staat konnte ihn
emporheben, und das schönste und älteste aller deutschen Lande wieder
mit der rüstigen Kraft des neuen nationalen Lebens befruchten. --


Dergestalt befand sich das halbe, oder im Grunde das gesammte
Staatsgebiet in einem Zustande der Umbildung. Der Staat bedurfte für
einige Jahre der monarchischen Dictatur. Gewiß konnte das Werk der
Verwaltungsreform seinen Abschluß nur in der Reichsverfassung finden,
deren Nothwendigkeit der König selbst in so vielen Kabinetsordres aner-
kannt hatte; gewiß konnten die unzähligen widerstrebenden Elemente des
Staates nur durch die anhaltende Gemeinschaft politischer Arbeit und
Parteiung zu lebendiger Staatsgesinnung erzogen werden; aber die Grund-
lagen der Verwaltung mußten doch erst feststehen, ehe man die Krone mit
parlamentarischen Formen umgab. Diese Millionen schwedischer und pol-
nischer, sächsischer und französischer Herzen bedurften der Zeit, um ihren
Kummer auszuweinen, in die neuen Verhältnisse sich zu finden. Wer
durfte es verantworten, die particularistischen Vorurtheile, die tausend ver-
letzten örtlichen Interessen eines politisch noch gänzlich ungeschulten Volkes
sogleich im parlamentarischen Kampfe auf einander platzen zu lassen? die
allgemeine Wehrpflicht, die Steuergesetze, die Eintheilung der Provinzen
jetzt schon den Angriffen einer Opposition auszusetzen, die von den Lebens-
bedingungen eines großen Staates nichts ahnte und zum Theil offenbar
landesverrätherische Absichten hegte?

Zu Preußens Unheil war der König nicht mehr in der Lage, den
Zeitpunkt für die Begründung der Verfassung frei zu wählen. Er
selber hatte sich der Freiheit beraubt, als er jene unselige Verordnung
vom 22. Mai 1815 unterschrieb, welche die Berufung einer aus den Pro-
vinzialständen gewählten Repräsentation des Volkes verhieß. Im selben

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
ſogar das reiche Wupperthal beſaß zu Anfang des Jahrhunderts keine
einzige Buchhandlung; jetzt bildete ſich in Bonn ein neuer Mittelpunkt
für den literariſchen Verkehr, und der rührige Perthes knüpfte ſogleich
ſeine Geſchäftsfreundſchaften an. Die alten Kölner Patricier ſprachen,
wie die Straßburger heute, in Geſellſchaft franzöſiſch, unter ſich im Dialekt;
die jungen mußten nun doch ein verſtändliches Hochdeutſch lernen. Manches
Jahr ernſten Kampfes und gehäſſiger gegenſeitiger Verkennung ſollte noch
dahingehen, bis die neue Provinz ihres Staates froh wurde. Wer aber
die geiſtreichen, erregbaren, bildſamen, für alles Fremde empfänglichen
Rheinfranken ſo gründlich kannte wie der treue Arndt, der bezweifelte ſchon
jetzt nicht, daß dieſem Volke die Berührung mit dem ſcharfen altpreußiſchen
Weſen zum Heile gereichen mußte. Nur die Fäulniß ſeines Staates, nur
die Unnatur der Theokratie und der Fremdherrſchaft hatte dieſen hoch-
begabten Stamm ſo tief herabgebracht; nur ein ſtarker Staat konnte ihn
emporheben, und das ſchönſte und älteſte aller deutſchen Lande wieder
mit der rüſtigen Kraft des neuen nationalen Lebens befruchten. —


Dergeſtalt befand ſich das halbe, oder im Grunde das geſammte
Staatsgebiet in einem Zuſtande der Umbildung. Der Staat bedurfte für
einige Jahre der monarchiſchen Dictatur. Gewiß konnte das Werk der
Verwaltungsreform ſeinen Abſchluß nur in der Reichsverfaſſung finden,
deren Nothwendigkeit der König ſelbſt in ſo vielen Kabinetsordres aner-
kannt hatte; gewiß konnten die unzähligen widerſtrebenden Elemente des
Staates nur durch die anhaltende Gemeinſchaft politiſcher Arbeit und
Parteiung zu lebendiger Staatsgeſinnung erzogen werden; aber die Grund-
lagen der Verwaltung mußten doch erſt feſtſtehen, ehe man die Krone mit
parlamentariſchen Formen umgab. Dieſe Millionen ſchwediſcher und pol-
niſcher, ſächſiſcher und franzöſiſcher Herzen bedurften der Zeit, um ihren
Kummer auszuweinen, in die neuen Verhältniſſe ſich zu finden. Wer
durfte es verantworten, die particulariſtiſchen Vorurtheile, die tauſend ver-
letzten örtlichen Intereſſen eines politiſch noch gänzlich ungeſchulten Volkes
ſogleich im parlamentariſchen Kampfe auf einander platzen zu laſſen? die
allgemeine Wehrpflicht, die Steuergeſetze, die Eintheilung der Provinzen
jetzt ſchon den Angriffen einer Oppoſition auszuſetzen, die von den Lebens-
bedingungen eines großen Staates nichts ahnte und zum Theil offenbar
landesverrätheriſche Abſichten hegte?

Zu Preußens Unheil war der König nicht mehr in der Lage, den
Zeitpunkt für die Begründung der Verfaſſung frei zu wählen. Er
ſelber hatte ſich der Freiheit beraubt, als er jene unſelige Verordnung
vom 22. Mai 1815 unterſchrieb, welche die Berufung einer aus den Pro-
vinzialſtänden gewählten Repräſentation des Volkes verhieß. Im ſelben

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[278/0292] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. ſogar das reiche Wupperthal beſaß zu Anfang des Jahrhunderts keine einzige Buchhandlung; jetzt bildete ſich in Bonn ein neuer Mittelpunkt für den literariſchen Verkehr, und der rührige Perthes knüpfte ſogleich ſeine Geſchäftsfreundſchaften an. Die alten Kölner Patricier ſprachen, wie die Straßburger heute, in Geſellſchaft franzöſiſch, unter ſich im Dialekt; die jungen mußten nun doch ein verſtändliches Hochdeutſch lernen. Manches Jahr ernſten Kampfes und gehäſſiger gegenſeitiger Verkennung ſollte noch dahingehen, bis die neue Provinz ihres Staates froh wurde. Wer aber die geiſtreichen, erregbaren, bildſamen, für alles Fremde empfänglichen Rheinfranken ſo gründlich kannte wie der treue Arndt, der bezweifelte ſchon jetzt nicht, daß dieſem Volke die Berührung mit dem ſcharfen altpreußiſchen Weſen zum Heile gereichen mußte. Nur die Fäulniß ſeines Staates, nur die Unnatur der Theokratie und der Fremdherrſchaft hatte dieſen hoch- begabten Stamm ſo tief herabgebracht; nur ein ſtarker Staat konnte ihn emporheben, und das ſchönſte und älteſte aller deutſchen Lande wieder mit der rüſtigen Kraft des neuen nationalen Lebens befruchten. — Dergeſtalt befand ſich das halbe, oder im Grunde das geſammte Staatsgebiet in einem Zuſtande der Umbildung. Der Staat bedurfte für einige Jahre der monarchiſchen Dictatur. Gewiß konnte das Werk der Verwaltungsreform ſeinen Abſchluß nur in der Reichsverfaſſung finden, deren Nothwendigkeit der König ſelbſt in ſo vielen Kabinetsordres aner- kannt hatte; gewiß konnten die unzähligen widerſtrebenden Elemente des Staates nur durch die anhaltende Gemeinſchaft politiſcher Arbeit und Parteiung zu lebendiger Staatsgeſinnung erzogen werden; aber die Grund- lagen der Verwaltung mußten doch erſt feſtſtehen, ehe man die Krone mit parlamentariſchen Formen umgab. Dieſe Millionen ſchwediſcher und pol- niſcher, ſächſiſcher und franzöſiſcher Herzen bedurften der Zeit, um ihren Kummer auszuweinen, in die neuen Verhältniſſe ſich zu finden. Wer durfte es verantworten, die particulariſtiſchen Vorurtheile, die tauſend ver- letzten örtlichen Intereſſen eines politiſch noch gänzlich ungeſchulten Volkes ſogleich im parlamentariſchen Kampfe auf einander platzen zu laſſen? die allgemeine Wehrpflicht, die Steuergeſetze, die Eintheilung der Provinzen jetzt ſchon den Angriffen einer Oppoſition auszuſetzen, die von den Lebens- bedingungen eines großen Staates nichts ahnte und zum Theil offenbar landesverrätheriſche Abſichten hegte? Zu Preußens Unheil war der König nicht mehr in der Lage, den Zeitpunkt für die Begründung der Verfaſſung frei zu wählen. Er ſelber hatte ſich der Freiheit beraubt, als er jene unſelige Verordnung vom 22. Mai 1815 unterſchrieb, welche die Berufung einer aus den Pro- vinzialſtänden gewählten Repräſentation des Volkes verhieß. Im ſelben

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/292>, abgerufen am 23.11.2024.