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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Der rheinische Adel.
rheinische Freiheit, und wer nur auf die losen Worte der Schoppenstecher
hörte mochte leicht an dem Lande verzweifeln. Als der treffliche Land-
wirth Schwerz im Auftrage der Regierung die rheinischen Landgüter be-
reiste, vernahm er in seiner Vaterstadt Coblenz eine solche Fülle von
Zornreden, daß er dem Staatskanzler gestand: "kein Mensch ist mehr
hier, der nicht Gott auf den Knien danken würde, wenn das Land wieder
unter französischer Botmäßigkeit stünde." Andere wohlmeinende Beobachter
verglichen die Provinz einem Vulkane, der jederzeit ausbrechen könne.*)

Erschreckt durch so düstere Berichte glaubte Hardenberg eine Zeit lang
ernstlich an einen möglichen Abfall. In Wahrheit wurde die Wiederver-
einigung mit Frankreich nur von einer kleinen Minderheit am Rhein auf-
richtig gewünscht. Die Rheinländer wußten wohl wie kräftig ihr Wohlstand
jetzt wieder aufwuchs, und dies Band der wirthschaftlichen Interessen erwies
sich stärker als die französischen Sympathien. Von geheimen Verschwö-
rungen stand hier ohnehin nichts zu fürchten; dafür bürgte die beste Tugend
des rheinfränkischen Volks, sein offenherziger Gradsinn. Das Tadeln
und Schelten freilich über "die Revolution", wie man den neuen Herr-
schaftswechsel nannte, nahm in den nächsten Jahren stets zu. Denn das
ältere Geschlecht kannte noch aus Erfahrung die Plünderungen der republi-
kanischen Löffelgarde; die Jungen aber, die jetzt heranwuchsen, hatten einst
im Lyceum am Napoleonstage und am Austerlitztage die Festreden auf
die Glorie der weltbeherrschenden Tricolore mit angehört, sie hatten in
den Jahren, welche der Mehrzahl der Menschen das Leben bestimmen,
den großen Kaiser gesehen, wie er in der Poppelsdorfer Allee seine präch-
tigen Kürassiere musterte. Und da nun der Liberalismus überall die fran-
zösische Freiheit wieder zu bewundern begann, so prunkte gerade dies Ge-
schlecht, das in den zwanziger und dreißiger Jahren die Stimmung am
Rhein beherrschte, gern mit seiner französischen Bildung; der wälsche
Befehl "Dutzwitt" klang ihm vornehmer als das deutsche "rasch", die
Landsmannschaften der Rhenanen auf den westdeutschen Universitäten
trugen allesammt die französischen Farben, und die alten landläufigen Ge-
schichten von den Schandthaten der Sansculotten wurden jetzt den Ko-
saken nachgesagt.

Das Mißtrauen der Provinz gegen die Regierung fand stets neue
Nahrung an den Sonderbestrebungen der rheinischen Ritterschaft. Nir-
gends im Reiche hatte der Adel schwerere Einbußen erlitten. Vor einem
Menschenalter beherrschte er noch das Land durch seine Domcapitel, fast
zwei Drittel des Bodens gehörten der Ritterschaft und der Kirche. Jetzt war
der Großgrundbesitz so vollständig vernichtet, daß ein Gut von 50 Morgen
schon zu den großen Gütern gerechnet wurde. Im trier'schen Regierungs-

*) Regierungsrath Schwerz an Hardenberg, Coblenz August 1816. Bericht eines
kölnischen Grundbesitzers an Klewiz, Januar 1817. Oberstltnt, v. Romberg an den
Staatskanzler 24. August 1817 u. s. w.
Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 18

Der rheiniſche Adel.
rheiniſche Freiheit, und wer nur auf die loſen Worte der Schoppenſtecher
hörte mochte leicht an dem Lande verzweifeln. Als der treffliche Land-
wirth Schwerz im Auftrage der Regierung die rheiniſchen Landgüter be-
reiſte, vernahm er in ſeiner Vaterſtadt Coblenz eine ſolche Fülle von
Zornreden, daß er dem Staatskanzler geſtand: „kein Menſch iſt mehr
hier, der nicht Gott auf den Knien danken würde, wenn das Land wieder
unter franzöſiſcher Botmäßigkeit ſtünde.“ Andere wohlmeinende Beobachter
verglichen die Provinz einem Vulkane, der jederzeit ausbrechen könne.*)

Erſchreckt durch ſo düſtere Berichte glaubte Hardenberg eine Zeit lang
ernſtlich an einen möglichen Abfall. In Wahrheit wurde die Wiederver-
einigung mit Frankreich nur von einer kleinen Minderheit am Rhein auf-
richtig gewünſcht. Die Rheinländer wußten wohl wie kräftig ihr Wohlſtand
jetzt wieder aufwuchs, und dies Band der wirthſchaftlichen Intereſſen erwies
ſich ſtärker als die franzöſiſchen Sympathien. Von geheimen Verſchwö-
rungen ſtand hier ohnehin nichts zu fürchten; dafür bürgte die beſte Tugend
des rheinfränkiſchen Volks, ſein offenherziger Gradſinn. Das Tadeln
und Schelten freilich über „die Revolution“, wie man den neuen Herr-
ſchaftswechſel nannte, nahm in den nächſten Jahren ſtets zu. Denn das
ältere Geſchlecht kannte noch aus Erfahrung die Plünderungen der republi-
kaniſchen Löffelgarde; die Jungen aber, die jetzt heranwuchſen, hatten einſt
im Lyceum am Napoleonstage und am Auſterlitztage die Feſtreden auf
die Glorie der weltbeherrſchenden Tricolore mit angehört, ſie hatten in
den Jahren, welche der Mehrzahl der Menſchen das Leben beſtimmen,
den großen Kaiſer geſehen, wie er in der Poppelsdorfer Allee ſeine präch-
tigen Küraſſiere muſterte. Und da nun der Liberalismus überall die fran-
zöſiſche Freiheit wieder zu bewundern begann, ſo prunkte gerade dies Ge-
ſchlecht, das in den zwanziger und dreißiger Jahren die Stimmung am
Rhein beherrſchte, gern mit ſeiner franzöſiſchen Bildung; der wälſche
Befehl „Dutzwitt“ klang ihm vornehmer als das deutſche „raſch“, die
Landsmannſchaften der Rhenanen auf den weſtdeutſchen Univerſitäten
trugen alleſammt die franzöſiſchen Farben, und die alten landläufigen Ge-
ſchichten von den Schandthaten der Sansculotten wurden jetzt den Ko-
ſaken nachgeſagt.

Das Mißtrauen der Provinz gegen die Regierung fand ſtets neue
Nahrung an den Sonderbeſtrebungen der rheiniſchen Ritterſchaft. Nir-
gends im Reiche hatte der Adel ſchwerere Einbußen erlitten. Vor einem
Menſchenalter beherrſchte er noch das Land durch ſeine Domcapitel, faſt
zwei Drittel des Bodens gehörten der Ritterſchaft und der Kirche. Jetzt war
der Großgrundbeſitz ſo vollſtändig vernichtet, daß ein Gut von 50 Morgen
ſchon zu den großen Gütern gerechnet wurde. Im trier’ſchen Regierungs-

*) Regierungsrath Schwerz an Hardenberg, Coblenz Auguſt 1816. Bericht eines
kölniſchen Grundbeſitzers an Klewiz, Januar 1817. Oberſtltnt, v. Romberg an den
Staatskanzler 24. Auguſt 1817 u. ſ. w.
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[273/0287] Der rheiniſche Adel. rheiniſche Freiheit, und wer nur auf die loſen Worte der Schoppenſtecher hörte mochte leicht an dem Lande verzweifeln. Als der treffliche Land- wirth Schwerz im Auftrage der Regierung die rheiniſchen Landgüter be- reiſte, vernahm er in ſeiner Vaterſtadt Coblenz eine ſolche Fülle von Zornreden, daß er dem Staatskanzler geſtand: „kein Menſch iſt mehr hier, der nicht Gott auf den Knien danken würde, wenn das Land wieder unter franzöſiſcher Botmäßigkeit ſtünde.“ Andere wohlmeinende Beobachter verglichen die Provinz einem Vulkane, der jederzeit ausbrechen könne. *) Erſchreckt durch ſo düſtere Berichte glaubte Hardenberg eine Zeit lang ernſtlich an einen möglichen Abfall. In Wahrheit wurde die Wiederver- einigung mit Frankreich nur von einer kleinen Minderheit am Rhein auf- richtig gewünſcht. Die Rheinländer wußten wohl wie kräftig ihr Wohlſtand jetzt wieder aufwuchs, und dies Band der wirthſchaftlichen Intereſſen erwies ſich ſtärker als die franzöſiſchen Sympathien. Von geheimen Verſchwö- rungen ſtand hier ohnehin nichts zu fürchten; dafür bürgte die beſte Tugend des rheinfränkiſchen Volks, ſein offenherziger Gradſinn. Das Tadeln und Schelten freilich über „die Revolution“, wie man den neuen Herr- ſchaftswechſel nannte, nahm in den nächſten Jahren ſtets zu. Denn das ältere Geſchlecht kannte noch aus Erfahrung die Plünderungen der republi- kaniſchen Löffelgarde; die Jungen aber, die jetzt heranwuchſen, hatten einſt im Lyceum am Napoleonstage und am Auſterlitztage die Feſtreden auf die Glorie der weltbeherrſchenden Tricolore mit angehört, ſie hatten in den Jahren, welche der Mehrzahl der Menſchen das Leben beſtimmen, den großen Kaiſer geſehen, wie er in der Poppelsdorfer Allee ſeine präch- tigen Küraſſiere muſterte. Und da nun der Liberalismus überall die fran- zöſiſche Freiheit wieder zu bewundern begann, ſo prunkte gerade dies Ge- ſchlecht, das in den zwanziger und dreißiger Jahren die Stimmung am Rhein beherrſchte, gern mit ſeiner franzöſiſchen Bildung; der wälſche Befehl „Dutzwitt“ klang ihm vornehmer als das deutſche „raſch“, die Landsmannſchaften der Rhenanen auf den weſtdeutſchen Univerſitäten trugen alleſammt die franzöſiſchen Farben, und die alten landläufigen Ge- ſchichten von den Schandthaten der Sansculotten wurden jetzt den Ko- ſaken nachgeſagt. Das Mißtrauen der Provinz gegen die Regierung fand ſtets neue Nahrung an den Sonderbeſtrebungen der rheiniſchen Ritterſchaft. Nir- gends im Reiche hatte der Adel ſchwerere Einbußen erlitten. Vor einem Menſchenalter beherrſchte er noch das Land durch ſeine Domcapitel, faſt zwei Drittel des Bodens gehörten der Ritterſchaft und der Kirche. Jetzt war der Großgrundbeſitz ſo vollſtändig vernichtet, daß ein Gut von 50 Morgen ſchon zu den großen Gütern gerechnet wurde. Im trier’ſchen Regierungs- *) Regierungsrath Schwerz an Hardenberg, Coblenz Auguſt 1816. Bericht eines kölniſchen Grundbeſitzers an Klewiz, Januar 1817. Oberſtltnt, v. Romberg an den Staatskanzler 24. Auguſt 1817 u. ſ. w. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 18

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/287>, abgerufen am 24.11.2024.