Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.Klagen der Rheinländer. schrift des liberalen Publicisten J. Weitzel erklärte dem Staatskanzler mitnaivem Selbstgefühl: die Gerechtigkeit fordert, daß Jeder von Seines- gleichen gerichtet werde; am Rhein ist diese Wahrheit bereits allgemein anerkannt, "weil es hier eine öffentliche Meinung unter aufgeklärten Men- schen giebt", daher dürfen im Rheinlande nur bürgerliche Beamte wirken. Gleichwohl kamen Fälle der Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit jetzt un- gleich seltener vor als unter der französischen Regierung, die doch den Ungehorsam weit strenger bestrafte als das preußische Gesetz. Mochte man beim Schoppen über die steifen Preußen klagen, denen die liebens- würdige rheinische Kunst des Lebens und Lebenlassens noch so fremd war: die Natur forderte doch ihr Recht, im Stillen that es diesen deutschen Menschen doch wohl, daß sie mit ihren Beamten wieder in der Mutter- sprache reden konnten. Unter dem Krummstabe wie unter den Präfekten glaubte alle Welt, jedes Gesetz könne durch List oder Gunst umgangen werden. Bequem war es nicht, daß die Rheinländer diese Meinung jetzt aufgeben und der Majestät des Rechtes sich beugen mußten; aber die makellose Rechtschaffenheit des Beamtenthums und seine trotz vereinzelter Mißgriffe unbestreitbare Einsicht erzwangen sich endlich die Achtung des Volks. Unter vier Augen hörte man schon zuweilen das halb widerwillige Geständniß: "herb ist der Preuß, aber gerecht." Oeffentlich durfte der Preuße freilich nicht gelobt werden. Die Unzufriedenheit galt gleichsam als das Stammesvorrecht des *) Kabinetsordre an Sack, 14. Septbr. 1815.
Klagen der Rheinländer. ſchrift des liberalen Publiciſten J. Weitzel erklärte dem Staatskanzler mitnaivem Selbſtgefühl: die Gerechtigkeit fordert, daß Jeder von Seines- gleichen gerichtet werde; am Rhein iſt dieſe Wahrheit bereits allgemein anerkannt, „weil es hier eine öffentliche Meinung unter aufgeklärten Men- ſchen giebt“, daher dürfen im Rheinlande nur bürgerliche Beamte wirken. Gleichwohl kamen Fälle der Widerſetzlichkeit gegen die Obrigkeit jetzt un- gleich ſeltener vor als unter der franzöſiſchen Regierung, die doch den Ungehorſam weit ſtrenger beſtrafte als das preußiſche Geſetz. Mochte man beim Schoppen über die ſteifen Preußen klagen, denen die liebens- würdige rheiniſche Kunſt des Lebens und Lebenlaſſens noch ſo fremd war: die Natur forderte doch ihr Recht, im Stillen that es dieſen deutſchen Menſchen doch wohl, daß ſie mit ihren Beamten wieder in der Mutter- ſprache reden konnten. Unter dem Krummſtabe wie unter den Präfekten glaubte alle Welt, jedes Geſetz könne durch Liſt oder Gunſt umgangen werden. Bequem war es nicht, daß die Rheinländer dieſe Meinung jetzt aufgeben und der Majeſtät des Rechtes ſich beugen mußten; aber die makelloſe Rechtſchaffenheit des Beamtenthums und ſeine trotz vereinzelter Mißgriffe unbeſtreitbare Einſicht erzwangen ſich endlich die Achtung des Volks. Unter vier Augen hörte man ſchon zuweilen das halb widerwillige Geſtändniß: „herb iſt der Preuß, aber gerecht.“ Oeffentlich durfte der Preuße freilich nicht gelobt werden. Die Unzufriedenheit galt gleichſam als das Stammesvorrecht des *) Kabinetsordre an Sack, 14. Septbr. 1815.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0285" n="271"/><fw place="top" type="header">Klagen der Rheinländer.</fw><lb/> ſchrift des liberalen Publiciſten J. Weitzel erklärte dem Staatskanzler mit<lb/> naivem Selbſtgefühl: die Gerechtigkeit fordert, daß Jeder von Seines-<lb/> gleichen gerichtet werde; am Rhein iſt dieſe Wahrheit bereits allgemein<lb/> anerkannt, „weil es hier eine öffentliche Meinung unter aufgeklärten Men-<lb/> ſchen giebt“, daher dürfen im Rheinlande nur bürgerliche Beamte wirken.<lb/> Gleichwohl kamen Fälle der Widerſetzlichkeit gegen die Obrigkeit jetzt un-<lb/> gleich ſeltener vor als unter der franzöſiſchen Regierung, die doch den<lb/> Ungehorſam weit ſtrenger beſtrafte als das preußiſche Geſetz. Mochte<lb/> man beim Schoppen über die ſteifen Preußen klagen, denen die liebens-<lb/> würdige rheiniſche Kunſt des Lebens und Lebenlaſſens noch ſo fremd war:<lb/> die Natur forderte doch ihr Recht, im Stillen that es dieſen deutſchen<lb/> Menſchen doch wohl, daß ſie mit ihren Beamten wieder in der Mutter-<lb/> ſprache reden konnten. Unter dem Krummſtabe wie unter den Präfekten<lb/> glaubte alle Welt, jedes Geſetz könne durch Liſt oder Gunſt umgangen<lb/> werden. Bequem war es nicht, daß die Rheinländer dieſe Meinung jetzt<lb/> aufgeben und der Majeſtät des Rechtes ſich beugen mußten; aber die<lb/> makelloſe Rechtſchaffenheit des Beamtenthums und ſeine trotz vereinzelter<lb/> Mißgriffe unbeſtreitbare Einſicht erzwangen ſich endlich die Achtung des<lb/> Volks. Unter vier Augen hörte man ſchon zuweilen das halb widerwillige<lb/> Geſtändniß: „herb iſt der Preuß, aber gerecht.“ Oeffentlich durfte der<lb/> Preuße freilich nicht gelobt werden.</p><lb/> <p>Die Unzufriedenheit galt gleichſam als das Stammesvorrecht des<lb/> echten Rheinländers, und ſie ward beſtändig genährt durch die Klagen über<lb/> den unerhörten Steuerdruck. Die Kirchenzehnten hatte das gläubige Volk<lb/> der Krummſtabslande willig entrichtet, weil Jeder dadurch mit dem Himmel<lb/> abrechnete; die franzöſiſchen Steuern galten als Kriegslaſten, man zahlte<lb/> ſchweigend weil man mußte. Dem proteſtantiſchen Könige aber zählte man<lb/> jeden Biſſen am Munde nach, und den Meiſten erſchien es noch wie eine<lb/> Ueberhebung, daß der weltliche Arm in Friedenszeiten Abgaben forderte. Als<lb/> nun gar unbeſtimmte Gerüchte von der Grundſteuerfreiheit der altländiſchen<lb/> Rittergüter an den Rhein drangen, da wuchs der Groll, und ein Menſchen-<lb/> alter hindurch glaubten faſt alle Rheinländer unerſchütterlich, ihr Land<lb/> werde zum Vortheil des Oſtens ausgebeutet. In Wahrheit befolgte Harden-<lb/> berg den Grundſatz, die ſchwierige Provinz durch Milde zu gewinnen. In<lb/> ſcharfen Worten befahl der König den Behörden, bei der Eintreibung rück-<lb/> ſtändiger Zahlungen Nachſicht zu zeigen, damit nicht um eines Geldge-<lb/> winnes willen „die vertrauende Anhänglichkeit“ des Volks verſcherzt werde.<note place="foot" n="*)">Kabinetsordre an Sack, 14. Septbr. 1815.</note><lb/> Während der erſten Jahre erfreuten ſich die Rheinländer im Steuerweſen<lb/> offenbarer Begünſtigung; denn ſtand die Grundſteuer hier etwas höher<lb/> als im Oſten, ſo blieb man dafür, nach Aufhebung der <hi rendition="#aq">droits réunis,</hi><lb/> von indirekten Abgaben faſt ganz befreit. Auch als die neuen Zoll- und<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [271/0285]
Klagen der Rheinländer.
ſchrift des liberalen Publiciſten J. Weitzel erklärte dem Staatskanzler mit
naivem Selbſtgefühl: die Gerechtigkeit fordert, daß Jeder von Seines-
gleichen gerichtet werde; am Rhein iſt dieſe Wahrheit bereits allgemein
anerkannt, „weil es hier eine öffentliche Meinung unter aufgeklärten Men-
ſchen giebt“, daher dürfen im Rheinlande nur bürgerliche Beamte wirken.
Gleichwohl kamen Fälle der Widerſetzlichkeit gegen die Obrigkeit jetzt un-
gleich ſeltener vor als unter der franzöſiſchen Regierung, die doch den
Ungehorſam weit ſtrenger beſtrafte als das preußiſche Geſetz. Mochte
man beim Schoppen über die ſteifen Preußen klagen, denen die liebens-
würdige rheiniſche Kunſt des Lebens und Lebenlaſſens noch ſo fremd war:
die Natur forderte doch ihr Recht, im Stillen that es dieſen deutſchen
Menſchen doch wohl, daß ſie mit ihren Beamten wieder in der Mutter-
ſprache reden konnten. Unter dem Krummſtabe wie unter den Präfekten
glaubte alle Welt, jedes Geſetz könne durch Liſt oder Gunſt umgangen
werden. Bequem war es nicht, daß die Rheinländer dieſe Meinung jetzt
aufgeben und der Majeſtät des Rechtes ſich beugen mußten; aber die
makelloſe Rechtſchaffenheit des Beamtenthums und ſeine trotz vereinzelter
Mißgriffe unbeſtreitbare Einſicht erzwangen ſich endlich die Achtung des
Volks. Unter vier Augen hörte man ſchon zuweilen das halb widerwillige
Geſtändniß: „herb iſt der Preuß, aber gerecht.“ Oeffentlich durfte der
Preuße freilich nicht gelobt werden.
Die Unzufriedenheit galt gleichſam als das Stammesvorrecht des
echten Rheinländers, und ſie ward beſtändig genährt durch die Klagen über
den unerhörten Steuerdruck. Die Kirchenzehnten hatte das gläubige Volk
der Krummſtabslande willig entrichtet, weil Jeder dadurch mit dem Himmel
abrechnete; die franzöſiſchen Steuern galten als Kriegslaſten, man zahlte
ſchweigend weil man mußte. Dem proteſtantiſchen Könige aber zählte man
jeden Biſſen am Munde nach, und den Meiſten erſchien es noch wie eine
Ueberhebung, daß der weltliche Arm in Friedenszeiten Abgaben forderte. Als
nun gar unbeſtimmte Gerüchte von der Grundſteuerfreiheit der altländiſchen
Rittergüter an den Rhein drangen, da wuchs der Groll, und ein Menſchen-
alter hindurch glaubten faſt alle Rheinländer unerſchütterlich, ihr Land
werde zum Vortheil des Oſtens ausgebeutet. In Wahrheit befolgte Harden-
berg den Grundſatz, die ſchwierige Provinz durch Milde zu gewinnen. In
ſcharfen Worten befahl der König den Behörden, bei der Eintreibung rück-
ſtändiger Zahlungen Nachſicht zu zeigen, damit nicht um eines Geldge-
winnes willen „die vertrauende Anhänglichkeit“ des Volks verſcherzt werde. *)
Während der erſten Jahre erfreuten ſich die Rheinländer im Steuerweſen
offenbarer Begünſtigung; denn ſtand die Grundſteuer hier etwas höher
als im Oſten, ſo blieb man dafür, nach Aufhebung der droits réunis,
von indirekten Abgaben faſt ganz befreit. Auch als die neuen Zoll- und
*) Kabinetsordre an Sack, 14. Septbr. 1815.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |