Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

L. v. Vincke.
schränkte Theilbarkeit der Landgüter und die radikale Aufhebung der Zünfte.
Aber seinen aristokratischen Neigungen hielt die streng monarchische Ge-
sinnung des Beamten stets die Wage; von altständischen Rechten, welche
die Einheit des Staatswillens gefährden könnten, wollte er nichts hören.
Die Patrimonialgerichte verwarf er als ein "großes Aergerniß", die ge-
plagten Unterthanen der Mediatisirten fanden bei ihm und seinem Re-
gierungsdirektor Keßler, einem erklärten Liberalen, jederzeit treuen Schutz,
und obgleich er in Berlin oft zu schonender Behandlung der Katholiken
mahnte, so trat er doch jeder Ueberhebung der Hierarchie mit rücksichts-
loser Strenge entgegen. Wenn der König mit jungen Referendaren sprach,
so pflegte er ihnen den westphälischen Oberpräsidenten als das Muster
der Pflichttreue vorzuhalten; denn unter allen den unermüdlichen Arbeitern
dieses Beamtenthums war Vincke der fleißigste. Wie oft sahen ihn die
Münsterer um Mittag im Sturmschritt nach Hause eilen, wo er dann
rasch sein einfaches Mahl verzehrte und sogleich wieder in die geliebten
Akten versank. Und doch verachtete dieser gefürchtete Nummerntöder aus
Herzensgrunde die Weisheit des grünen Tisches. All sein Wissen war
erwandert und erlebt; überall im Lande war er zu Haus, in den Hau-
bergen und Wiesengründen des Siegener Landes, in den Eisenwerken der
Grafschaft Mark und den einsamen Bauernhöfen der münsterschen Heiden.
Im blauen Kittel, die Pfeife im Munde, den Knotenstock in der Hand,
zog der ungestüme kleine Mann mit dem klugen Kindergesichte oft meilen-
weit über Land um bei seinen lieben Bauern nach dem Rechten zu sehen.
In der ersten Zeit widerfuhr es ihm einmal, daß eine Bauerfrau, die
er am Butterfasse traf, "dat Jüngesken" derweilen weiter buttern hieß,
bis sie den Schulzen draußen zwischen den Wallhecken auf dem Felde auf-
gefunden hätte; in späteren Jahren kannte jedes Kind den Vater West-
phalens.

Das Rheinland ausgenommen ist keine andere deutsche Landschaft
durch die Volkswirthschaft des neuen Jahrhunderts so von Grund aus
neu gestaltet worden, wie dies Westphalen, das beim Beginne der Friedens-
jahre noch übel berüchtigt war als ein ödes, unwirthliches Land von großen
Erinnerungen und armseliger Gegenwart. In dem mächtigen Soest, das
einst seine herrischen Aldermänner bis nach Gotland gesendet und den
meisten Städten Niederdeutschlands sein Stadtrecht geschenkt hatte, hauste
jetzt ein armes Völkchen kleiner Ackerbürger zwischen den Trümmern der
alten Prachtbauten. Stadtberge, die ehrwürdige Sachsenfeste Eresburg, war
fast verschwunden, nur die Rolandssäule, der Pranger und zwei verfallene
Kirchen schauten noch vom hohen Bergkegel auf das Diemelthal herab; und
dicht vor dem Thore der stolzen Hansestadt Dortmund lag der Freistuhl
des Vehmgerichts unter den alten Linden so einsam und weltverlassen, daß
der Freigraf jetzt am hellen Tage das nackte Schwert und die Weiden-
schlinge auf den Steintisch hätte legen können. Nur in den altpreußischen

L. v. Vincke.
ſchränkte Theilbarkeit der Landgüter und die radikale Aufhebung der Zünfte.
Aber ſeinen ariſtokratiſchen Neigungen hielt die ſtreng monarchiſche Ge-
ſinnung des Beamten ſtets die Wage; von altſtändiſchen Rechten, welche
die Einheit des Staatswillens gefährden könnten, wollte er nichts hören.
Die Patrimonialgerichte verwarf er als ein „großes Aergerniß“, die ge-
plagten Unterthanen der Mediatiſirten fanden bei ihm und ſeinem Re-
gierungsdirektor Keßler, einem erklärten Liberalen, jederzeit treuen Schutz,
und obgleich er in Berlin oft zu ſchonender Behandlung der Katholiken
mahnte, ſo trat er doch jeder Ueberhebung der Hierarchie mit rückſichts-
loſer Strenge entgegen. Wenn der König mit jungen Referendaren ſprach,
ſo pflegte er ihnen den weſtphäliſchen Oberpräſidenten als das Muſter
der Pflichttreue vorzuhalten; denn unter allen den unermüdlichen Arbeitern
dieſes Beamtenthums war Vincke der fleißigſte. Wie oft ſahen ihn die
Münſterer um Mittag im Sturmſchritt nach Hauſe eilen, wo er dann
raſch ſein einfaches Mahl verzehrte und ſogleich wieder in die geliebten
Akten verſank. Und doch verachtete dieſer gefürchtete Nummerntöder aus
Herzensgrunde die Weisheit des grünen Tiſches. All ſein Wiſſen war
erwandert und erlebt; überall im Lande war er zu Haus, in den Hau-
bergen und Wieſengründen des Siegener Landes, in den Eiſenwerken der
Grafſchaft Mark und den einſamen Bauernhöfen der münſterſchen Heiden.
Im blauen Kittel, die Pfeife im Munde, den Knotenſtock in der Hand,
zog der ungeſtüme kleine Mann mit dem klugen Kindergeſichte oft meilen-
weit über Land um bei ſeinen lieben Bauern nach dem Rechten zu ſehen.
In der erſten Zeit widerfuhr es ihm einmal, daß eine Bauerfrau, die
er am Butterfaſſe traf, „dat Jüngesken“ derweilen weiter buttern hieß,
bis ſie den Schulzen draußen zwiſchen den Wallhecken auf dem Felde auf-
gefunden hätte; in ſpäteren Jahren kannte jedes Kind den Vater Weſt-
phalens.

Das Rheinland ausgenommen iſt keine andere deutſche Landſchaft
durch die Volkswirthſchaft des neuen Jahrhunderts ſo von Grund aus
neu geſtaltet worden, wie dies Weſtphalen, das beim Beginne der Friedens-
jahre noch übel berüchtigt war als ein ödes, unwirthliches Land von großen
Erinnerungen und armſeliger Gegenwart. In dem mächtigen Soeſt, das
einſt ſeine herriſchen Aldermänner bis nach Gotland geſendet und den
meiſten Städten Niederdeutſchlands ſein Stadtrecht geſchenkt hatte, hauſte
jetzt ein armes Völkchen kleiner Ackerbürger zwiſchen den Trümmern der
alten Prachtbauten. Stadtberge, die ehrwürdige Sachſenfeſte Eresburg, war
faſt verſchwunden, nur die Rolandsſäule, der Pranger und zwei verfallene
Kirchen ſchauten noch vom hohen Bergkegel auf das Diemelthal herab; und
dicht vor dem Thore der ſtolzen Hanſeſtadt Dortmund lag der Freiſtuhl
des Vehmgerichts unter den alten Linden ſo einſam und weltverlaſſen, daß
der Freigraf jetzt am hellen Tage das nackte Schwert und die Weiden-
ſchlinge auf den Steintiſch hätte legen können. Nur in den altpreußiſchen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0277" n="263"/><fw place="top" type="header">L. v. Vincke.</fw><lb/>
&#x017F;chränkte Theilbarkeit der Landgüter und die radikale Aufhebung der Zünfte.<lb/>
Aber &#x017F;einen ari&#x017F;tokrati&#x017F;chen Neigungen hielt die &#x017F;treng monarchi&#x017F;che Ge-<lb/>
&#x017F;innung des Beamten &#x017F;tets die Wage; von alt&#x017F;tändi&#x017F;chen Rechten, welche<lb/>
die Einheit des Staatswillens gefährden könnten, wollte er nichts hören.<lb/>
Die Patrimonialgerichte verwarf er als ein &#x201E;großes Aergerniß&#x201C;, die ge-<lb/>
plagten Unterthanen der Mediati&#x017F;irten fanden bei ihm und &#x017F;einem Re-<lb/>
gierungsdirektor Keßler, einem erklärten Liberalen, jederzeit treuen Schutz,<lb/>
und obgleich er in Berlin oft zu &#x017F;chonender Behandlung der Katholiken<lb/>
mahnte, &#x017F;o trat er doch jeder Ueberhebung der Hierarchie mit rück&#x017F;ichts-<lb/>
lo&#x017F;er Strenge entgegen. Wenn der König mit jungen Referendaren &#x017F;prach,<lb/>
&#x017F;o pflegte er ihnen den we&#x017F;tphäli&#x017F;chen Oberprä&#x017F;identen als das Mu&#x017F;ter<lb/>
der Pflichttreue vorzuhalten; denn unter allen den unermüdlichen Arbeitern<lb/>
die&#x017F;es Beamtenthums war Vincke der fleißig&#x017F;te. Wie oft &#x017F;ahen ihn die<lb/>
Mün&#x017F;terer um Mittag im Sturm&#x017F;chritt nach Hau&#x017F;e eilen, wo er dann<lb/>
ra&#x017F;ch &#x017F;ein einfaches Mahl verzehrte und &#x017F;ogleich wieder in die geliebten<lb/>
Akten ver&#x017F;ank. Und doch verachtete die&#x017F;er gefürchtete Nummerntöder aus<lb/>
Herzensgrunde die Weisheit des grünen Ti&#x017F;ches. All &#x017F;ein Wi&#x017F;&#x017F;en war<lb/>
erwandert und erlebt; überall im Lande war er zu Haus, in den Hau-<lb/>
bergen und Wie&#x017F;engründen des Siegener Landes, in den Ei&#x017F;enwerken der<lb/>
Graf&#x017F;chaft Mark und den ein&#x017F;amen Bauernhöfen der mün&#x017F;ter&#x017F;chen Heiden.<lb/>
Im blauen Kittel, die Pfeife im Munde, den Knoten&#x017F;tock in der Hand,<lb/>
zog der unge&#x017F;tüme kleine Mann mit dem klugen Kinderge&#x017F;ichte oft meilen-<lb/>
weit über Land um bei &#x017F;einen lieben Bauern nach dem Rechten zu &#x017F;ehen.<lb/>
In der er&#x017F;ten Zeit widerfuhr es ihm einmal, daß eine Bauerfrau, die<lb/>
er am Butterfa&#x017F;&#x017F;e traf, &#x201E;dat Jüngesken&#x201C; derweilen weiter buttern hieß,<lb/>
bis &#x017F;ie den Schulzen draußen zwi&#x017F;chen den Wallhecken auf dem Felde auf-<lb/>
gefunden hätte; in &#x017F;päteren Jahren kannte jedes Kind den Vater We&#x017F;t-<lb/>
phalens.</p><lb/>
          <p>Das Rheinland ausgenommen i&#x017F;t keine andere deut&#x017F;che Land&#x017F;chaft<lb/>
durch die Volkswirth&#x017F;chaft des neuen Jahrhunderts &#x017F;o von Grund aus<lb/>
neu ge&#x017F;taltet worden, wie dies We&#x017F;tphalen, das beim Beginne der Friedens-<lb/>
jahre noch übel berüchtigt war als ein ödes, unwirthliches Land von großen<lb/>
Erinnerungen und arm&#x017F;eliger Gegenwart. In dem mächtigen Soe&#x017F;t, das<lb/>
ein&#x017F;t &#x017F;eine herri&#x017F;chen Aldermänner bis nach Gotland ge&#x017F;endet und den<lb/>
mei&#x017F;ten Städten Niederdeut&#x017F;chlands &#x017F;ein Stadtrecht ge&#x017F;chenkt hatte, hau&#x017F;te<lb/>
jetzt ein armes Völkchen kleiner Ackerbürger zwi&#x017F;chen den Trümmern der<lb/>
alten Prachtbauten. Stadtberge, die ehrwürdige Sach&#x017F;enfe&#x017F;te Eresburg, war<lb/>
fa&#x017F;t ver&#x017F;chwunden, nur die Rolands&#x017F;äule, der Pranger und zwei verfallene<lb/>
Kirchen &#x017F;chauten noch vom hohen Bergkegel auf das Diemelthal herab; und<lb/>
dicht vor dem Thore der &#x017F;tolzen Han&#x017F;e&#x017F;tadt Dortmund lag der Frei&#x017F;tuhl<lb/>
des Vehmgerichts unter den alten Linden &#x017F;o ein&#x017F;am und weltverla&#x017F;&#x017F;en, daß<lb/>
der Freigraf jetzt am hellen Tage das nackte Schwert und die Weiden-<lb/>
&#x017F;chlinge auf den Steinti&#x017F;ch hätte legen können. Nur in den altpreußi&#x017F;chen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[263/0277] L. v. Vincke. ſchränkte Theilbarkeit der Landgüter und die radikale Aufhebung der Zünfte. Aber ſeinen ariſtokratiſchen Neigungen hielt die ſtreng monarchiſche Ge- ſinnung des Beamten ſtets die Wage; von altſtändiſchen Rechten, welche die Einheit des Staatswillens gefährden könnten, wollte er nichts hören. Die Patrimonialgerichte verwarf er als ein „großes Aergerniß“, die ge- plagten Unterthanen der Mediatiſirten fanden bei ihm und ſeinem Re- gierungsdirektor Keßler, einem erklärten Liberalen, jederzeit treuen Schutz, und obgleich er in Berlin oft zu ſchonender Behandlung der Katholiken mahnte, ſo trat er doch jeder Ueberhebung der Hierarchie mit rückſichts- loſer Strenge entgegen. Wenn der König mit jungen Referendaren ſprach, ſo pflegte er ihnen den weſtphäliſchen Oberpräſidenten als das Muſter der Pflichttreue vorzuhalten; denn unter allen den unermüdlichen Arbeitern dieſes Beamtenthums war Vincke der fleißigſte. Wie oft ſahen ihn die Münſterer um Mittag im Sturmſchritt nach Hauſe eilen, wo er dann raſch ſein einfaches Mahl verzehrte und ſogleich wieder in die geliebten Akten verſank. Und doch verachtete dieſer gefürchtete Nummerntöder aus Herzensgrunde die Weisheit des grünen Tiſches. All ſein Wiſſen war erwandert und erlebt; überall im Lande war er zu Haus, in den Hau- bergen und Wieſengründen des Siegener Landes, in den Eiſenwerken der Grafſchaft Mark und den einſamen Bauernhöfen der münſterſchen Heiden. Im blauen Kittel, die Pfeife im Munde, den Knotenſtock in der Hand, zog der ungeſtüme kleine Mann mit dem klugen Kindergeſichte oft meilen- weit über Land um bei ſeinen lieben Bauern nach dem Rechten zu ſehen. In der erſten Zeit widerfuhr es ihm einmal, daß eine Bauerfrau, die er am Butterfaſſe traf, „dat Jüngesken“ derweilen weiter buttern hieß, bis ſie den Schulzen draußen zwiſchen den Wallhecken auf dem Felde auf- gefunden hätte; in ſpäteren Jahren kannte jedes Kind den Vater Weſt- phalens. Das Rheinland ausgenommen iſt keine andere deutſche Landſchaft durch die Volkswirthſchaft des neuen Jahrhunderts ſo von Grund aus neu geſtaltet worden, wie dies Weſtphalen, das beim Beginne der Friedens- jahre noch übel berüchtigt war als ein ödes, unwirthliches Land von großen Erinnerungen und armſeliger Gegenwart. In dem mächtigen Soeſt, das einſt ſeine herriſchen Aldermänner bis nach Gotland geſendet und den meiſten Städten Niederdeutſchlands ſein Stadtrecht geſchenkt hatte, hauſte jetzt ein armes Völkchen kleiner Ackerbürger zwiſchen den Trümmern der alten Prachtbauten. Stadtberge, die ehrwürdige Sachſenfeſte Eresburg, war faſt verſchwunden, nur die Rolandsſäule, der Pranger und zwei verfallene Kirchen ſchauten noch vom hohen Bergkegel auf das Diemelthal herab; und dicht vor dem Thore der ſtolzen Hanſeſtadt Dortmund lag der Freiſtuhl des Vehmgerichts unter den alten Linden ſo einſam und weltverlaſſen, daß der Freigraf jetzt am hellen Tage das nackte Schwert und die Weiden- ſchlinge auf den Steintiſch hätte legen können. Nur in den altpreußiſchen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/277
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/277>, abgerufen am 24.11.2024.