Zu diesem Bezirke gehörten jene ausgesogenen Striche Thüringens, welche einst unmittelbar unter Napoleons Verwaltung gestanden und, als ein unsicheres Besitzthum, die härteste Mißhandlung erfahren hatten. Hier ward denn rücksichtslos aufgeräumt was "der Schlendrianismus" der sächsischen, die Gewaltthätigkeit der französischen Behörden gesündigt hatte, der Unter- richt der Gymnasien wie der Volksschulen durch den wackeren Schulrath Hahn neu gestaltet, die Thätigkeit gemeinnütziger Vereine, auch der Turn- plätze, erweckt und gepflegt, das arme Volk des Eichsfeldes insoweit unter- stützt, daß die Hungerjahre von 1816 und 17 erträglich vorübergingen und Staatsrath Kunth auf seiner Dienstreise die einst so vernachlässigten Feldfluren kaum mehr wiedererkannte.
Ueberall freilich hemmte der unfertige Zustand der altpreußischen Ge- setzgebung. Da die dringend nöthige Revision der Stein'schen Städte- ordnung noch immer ausblieb, so half man sich mit vorläufigen Maß- regeln, führte die Stadtverordnetenwahlen nach preußischem Muster und die genaue Prüfung der städtischen Rechnungen ein, bewog die Stadt Naumburg, sich endlich mit ihrem Domhofe und ihren vier Vorstädten über eine gemeinsame Polizeiverwaltung zu verständigen, und als der kleine Jammer dieser mühseligen Verhandlungen überstanden war, begann das Volk allmählich zu fühlen, daß eine bessere Zeit in das Land ein- zog. Die Provinz holte mit einem Sprunge nach was das kursächsische Adelsregiment zwei Jahrhunderte hindurch versäumt hatte. Zuerst die Bürger und die Bauern, dann auch die Edelleute gewöhnten sich an die neuen Zustände und übertrugen die patriarchalische Verehrung, die sie bis- her für König Friedrich August gehegt, auf den neuen Fürsten. Und wie viel einfacher und zugänglicher als der alte erschien der neue Herr, der den grollenden Merseburgern beim ersten Einzuge mahnend zurief: "wir sind ja doch Alle Deutsche." Das Mißtrauen der vormaligen Kursachsen gegen ihre altmärkischen und magdeburgischen Mitbürger verschwand nach und nach; aber da der Deutsche nicht ohne nachbarlichen Haß leben konnte, so begannen jetzt die Sachsen im Königreiche die zufriedenen Torgauer und Eilenburger des Verrathes zu bezichtigen und die preußischen Sachsen als den Auswurf des "preußischen Stammes" zu verwünschen. Wenige Jahre nach der so schmerzlich beweinten Theilung sah man schon in manchen Grenzdörfern einen Sächsischen Hof und einen Preußischen Hof, beide in den Landesfarben prunkend, trutzig neben einander liegen. Die gewaltige Anziehungskraft des preußischen Staates fand, wie die Kenner des Landes schon auf dem Wiener Congresse vorausgesagt, nirgends leichteres Spiel als bei dem bildsamen obersächsischen Stamme. --
Ebenso mannichfaltige und doch einfachere Verhältnisse traten der neuen Verwaltung in der Provinz Westphalen entgegen. Trotz der Ver- schiedenheit ihrer politischen Schicksale hatten sich die Heimathlande des weißen Sachsenrosses zu allen Zeiten einen starken gemeinsamen Stammes-
Beruhigung der Kurſachſen.
Zu dieſem Bezirke gehörten jene ausgeſogenen Striche Thüringens, welche einſt unmittelbar unter Napoleons Verwaltung geſtanden und, als ein unſicheres Beſitzthum, die härteſte Mißhandlung erfahren hatten. Hier ward denn rückſichtslos aufgeräumt was „der Schlendrianismus“ der ſächſiſchen, die Gewaltthätigkeit der franzöſiſchen Behörden geſündigt hatte, der Unter- richt der Gymnaſien wie der Volksſchulen durch den wackeren Schulrath Hahn neu geſtaltet, die Thätigkeit gemeinnütziger Vereine, auch der Turn- plätze, erweckt und gepflegt, das arme Volk des Eichsfeldes inſoweit unter- ſtützt, daß die Hungerjahre von 1816 und 17 erträglich vorübergingen und Staatsrath Kunth auf ſeiner Dienſtreiſe die einſt ſo vernachläſſigten Feldfluren kaum mehr wiedererkannte.
Ueberall freilich hemmte der unfertige Zuſtand der altpreußiſchen Ge- ſetzgebung. Da die dringend nöthige Reviſion der Stein’ſchen Städte- ordnung noch immer ausblieb, ſo half man ſich mit vorläufigen Maß- regeln, führte die Stadtverordnetenwahlen nach preußiſchem Muſter und die genaue Prüfung der ſtädtiſchen Rechnungen ein, bewog die Stadt Naumburg, ſich endlich mit ihrem Domhofe und ihren vier Vorſtädten über eine gemeinſame Polizeiverwaltung zu verſtändigen, und als der kleine Jammer dieſer mühſeligen Verhandlungen überſtanden war, begann das Volk allmählich zu fühlen, daß eine beſſere Zeit in das Land ein- zog. Die Provinz holte mit einem Sprunge nach was das kurſächſiſche Adelsregiment zwei Jahrhunderte hindurch verſäumt hatte. Zuerſt die Bürger und die Bauern, dann auch die Edelleute gewöhnten ſich an die neuen Zuſtände und übertrugen die patriarchaliſche Verehrung, die ſie bis- her für König Friedrich Auguſt gehegt, auf den neuen Fürſten. Und wie viel einfacher und zugänglicher als der alte erſchien der neue Herr, der den grollenden Merſeburgern beim erſten Einzuge mahnend zurief: „wir ſind ja doch Alle Deutſche.“ Das Mißtrauen der vormaligen Kurſachſen gegen ihre altmärkiſchen und magdeburgiſchen Mitbürger verſchwand nach und nach; aber da der Deutſche nicht ohne nachbarlichen Haß leben konnte, ſo begannen jetzt die Sachſen im Königreiche die zufriedenen Torgauer und Eilenburger des Verrathes zu bezichtigen und die preußiſchen Sachſen als den Auswurf des „preußiſchen Stammes“ zu verwünſchen. Wenige Jahre nach der ſo ſchmerzlich beweinten Theilung ſah man ſchon in manchen Grenzdörfern einen Sächſiſchen Hof und einen Preußiſchen Hof, beide in den Landesfarben prunkend, trutzig neben einander liegen. Die gewaltige Anziehungskraft des preußiſchen Staates fand, wie die Kenner des Landes ſchon auf dem Wiener Congreſſe vorausgeſagt, nirgends leichteres Spiel als bei dem bildſamen oberſächſiſchen Stamme. —
Ebenſo mannichfaltige und doch einfachere Verhältniſſe traten der neuen Verwaltung in der Provinz Weſtphalen entgegen. Trotz der Ver- ſchiedenheit ihrer politiſchen Schickſale hatten ſich die Heimathlande des weißen Sachſenroſſes zu allen Zeiten einen ſtarken gemeinſamen Stammes-
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Beruhigung der Kurſachſen.
Zu dieſem Bezirke gehörten jene ausgeſogenen Striche Thüringens, welche
einſt unmittelbar unter Napoleons Verwaltung geſtanden und, als ein
unſicheres Beſitzthum, die härteſte Mißhandlung erfahren hatten. Hier ward
denn rückſichtslos aufgeräumt was „der Schlendrianismus“ der ſächſiſchen,
die Gewaltthätigkeit der franzöſiſchen Behörden geſündigt hatte, der Unter-
richt der Gymnaſien wie der Volksſchulen durch den wackeren Schulrath
Hahn neu geſtaltet, die Thätigkeit gemeinnütziger Vereine, auch der Turn-
plätze, erweckt und gepflegt, das arme Volk des Eichsfeldes inſoweit unter-
ſtützt, daß die Hungerjahre von 1816 und 17 erträglich vorübergingen
und Staatsrath Kunth auf ſeiner Dienſtreiſe die einſt ſo vernachläſſigten
Feldfluren kaum mehr wiedererkannte.
Ueberall freilich hemmte der unfertige Zuſtand der altpreußiſchen Ge-
ſetzgebung. Da die dringend nöthige Reviſion der Stein’ſchen Städte-
ordnung noch immer ausblieb, ſo half man ſich mit vorläufigen Maß-
regeln, führte die Stadtverordnetenwahlen nach preußiſchem Muſter und
die genaue Prüfung der ſtädtiſchen Rechnungen ein, bewog die Stadt
Naumburg, ſich endlich mit ihrem Domhofe und ihren vier Vorſtädten
über eine gemeinſame Polizeiverwaltung zu verſtändigen, und als der
kleine Jammer dieſer mühſeligen Verhandlungen überſtanden war, begann
das Volk allmählich zu fühlen, daß eine beſſere Zeit in das Land ein-
zog. Die Provinz holte mit einem Sprunge nach was das kurſächſiſche
Adelsregiment zwei Jahrhunderte hindurch verſäumt hatte. Zuerſt die
Bürger und die Bauern, dann auch die Edelleute gewöhnten ſich an die
neuen Zuſtände und übertrugen die patriarchaliſche Verehrung, die ſie bis-
her für König Friedrich Auguſt gehegt, auf den neuen Fürſten. Und
wie viel einfacher und zugänglicher als der alte erſchien der neue Herr,
der den grollenden Merſeburgern beim erſten Einzuge mahnend zurief: „wir
ſind ja doch Alle Deutſche.“ Das Mißtrauen der vormaligen Kurſachſen
gegen ihre altmärkiſchen und magdeburgiſchen Mitbürger verſchwand nach
und nach; aber da der Deutſche nicht ohne nachbarlichen Haß leben konnte,
ſo begannen jetzt die Sachſen im Königreiche die zufriedenen Torgauer
und Eilenburger des Verrathes zu bezichtigen und die preußiſchen Sachſen
als den Auswurf des „preußiſchen Stammes“ zu verwünſchen. Wenige
Jahre nach der ſo ſchmerzlich beweinten Theilung ſah man ſchon in manchen
Grenzdörfern einen Sächſiſchen Hof und einen Preußiſchen Hof, beide in
den Landesfarben prunkend, trutzig neben einander liegen. Die gewaltige
Anziehungskraft des preußiſchen Staates fand, wie die Kenner des Landes
ſchon auf dem Wiener Congreſſe vorausgeſagt, nirgends leichteres Spiel
als bei dem bildſamen oberſächſiſchen Stamme. —
Ebenſo mannichfaltige und doch einfachere Verhältniſſe traten der
neuen Verwaltung in der Provinz Weſtphalen entgegen. Trotz der Ver-
ſchiedenheit ihrer politiſchen Schickſale hatten ſich die Heimathlande des
weißen Sachſenroſſes zu allen Zeiten einen ſtarken gemeinſamen Stammes-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/275>, abgerufen am 12.05.2024.
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