II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
vermochte das innere Leben der Wissenschaft nicht zu stören. Obgleich jetzt fast alle deutschen Staaten in rühmlichem Wetteifer tüchtige Lehrkräfte an ihre Landesuniversitäten zu berufen suchten, so war doch in den Augen der Höfe und der Bureaukratie selbst ein Gelehrter von europäischem Rufe nichts weiter als ein Professor ohne Hofrang. Die Männer der Wissenschaft dagegen sahen mit dem ganzen Stolze des Idealismus auf die endlichen Zwecke des handelnden Lebens hernieder. Jeder Lehrer rieth den guten Köpfen unter seinen Schülern, sich ganz der Wissenschaft zu widmen; für die Handwerksarbeit des Soldaten und des Beamten, nun gar für die gründlich verachtete bürgerliche Geschäftswelt schien der Mittel- schlag gut genug. Ein unverhältnißmäßig großer Theil der geistigen Kräfte der Nation wendete sich der gelehrten Thätigkeit zu, und es bleibt ein schönes Zeugniß für die Fruchtbarkeit dieses Geschlechts, daß gleichwohl das Beamtenthum eben jetzt eine überraschende Fülle von Talenten in seinen Reihen zählte.
Es stand noch immer wie vor siebzig Jahren: das politische Leben der Nation floß in unzähligen Strömen und Bächen zertheilt dahin; allein die Schriftsteller und Gelehrten redeten unmittelbar zu der ge- sammten Nation. Darum fühlten sie sich auch als die berufenen Vertreter des Volkes und seiner höchsten Güter; nur sehr langsam gelangten neben ihnen einzelne politische Männer zu allgemeinem Ansehen. Das ganze Zeitalter trug noch in Art und Unart den Charakter einer literarischen Epoche. Auch jetzt noch erregte ein Gedicht von Goethe, eine scharfe Recen- sion oder eine gelehrte Fehde, wie sie zwischen den Symbolikern und den kritischen Philologen ausbrach, weit tiefere Theilnahme bei den führenden Geistern der Nation als irgend ein politisches Ereigniß. Recht aus dem Herzen der romantischen Zeit heraus gestand Karl Immermann: er ver- möge nicht einer parlamentarischen Debatte aufmerksam zu folgen, weil er sich von solchen Abstraktionen kein Bild machen könne. Die völlige Hingebung der freien Persönlichkeit in den Dienst des Staates blieb die- sem Geschlechte ebenso widerwärtig wie das politische Parteileben mit sei- ner freiwilligen Beschränktheit, seinem grundsätzlich ungerechten Hasse. Als höchster Lebenszweck galt dem Deutschen noch immer: sich selber aus- zuleben, sein Ich nach allen Seiten hin in freier Eigenart zu entfalten und, wie W. Humboldt sagte, mehr auf das Thun als auf die That zu sehen.
Obschon die herrschende Strömung der Zeit dem aufgeklärten Welt- bürgerthume der Jahre vor der Revolution geradeswegs zuwiderlief, so hatte sich doch dies romantische Geschlecht viele der menschlich liebenswür- digen Tugenden des philosophischen Jahrhunderts noch bewahrt. Mochten die jungen Teutonen prahlerisch wider den wälschen Tand eifern: die Häupter der Wissenschaft und Kunst begrüßten noch, nach der echten alten deutschen Art, dankbar und empfänglich jedes schöne Werk der Dichtung
II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
vermochte das innere Leben der Wiſſenſchaft nicht zu ſtören. Obgleich jetzt faſt alle deutſchen Staaten in rühmlichem Wetteifer tüchtige Lehrkräfte an ihre Landesuniverſitäten zu berufen ſuchten, ſo war doch in den Augen der Höfe und der Bureaukratie ſelbſt ein Gelehrter von europäiſchem Rufe nichts weiter als ein Profeſſor ohne Hofrang. Die Männer der Wiſſenſchaft dagegen ſahen mit dem ganzen Stolze des Idealismus auf die endlichen Zwecke des handelnden Lebens hernieder. Jeder Lehrer rieth den guten Köpfen unter ſeinen Schülern, ſich ganz der Wiſſenſchaft zu widmen; für die Handwerksarbeit des Soldaten und des Beamten, nun gar für die gründlich verachtete bürgerliche Geſchäftswelt ſchien der Mittel- ſchlag gut genug. Ein unverhältnißmäßig großer Theil der geiſtigen Kräfte der Nation wendete ſich der gelehrten Thätigkeit zu, und es bleibt ein ſchönes Zeugniß für die Fruchtbarkeit dieſes Geſchlechts, daß gleichwohl das Beamtenthum eben jetzt eine überraſchende Fülle von Talenten in ſeinen Reihen zählte.
Es ſtand noch immer wie vor ſiebzig Jahren: das politiſche Leben der Nation floß in unzähligen Strömen und Bächen zertheilt dahin; allein die Schriftſteller und Gelehrten redeten unmittelbar zu der ge- ſammten Nation. Darum fühlten ſie ſich auch als die berufenen Vertreter des Volkes und ſeiner höchſten Güter; nur ſehr langſam gelangten neben ihnen einzelne politiſche Männer zu allgemeinem Anſehen. Das ganze Zeitalter trug noch in Art und Unart den Charakter einer literariſchen Epoche. Auch jetzt noch erregte ein Gedicht von Goethe, eine ſcharfe Recen- ſion oder eine gelehrte Fehde, wie ſie zwiſchen den Symbolikern und den kritiſchen Philologen ausbrach, weit tiefere Theilnahme bei den führenden Geiſtern der Nation als irgend ein politiſches Ereigniß. Recht aus dem Herzen der romantiſchen Zeit heraus geſtand Karl Immermann: er ver- möge nicht einer parlamentariſchen Debatte aufmerkſam zu folgen, weil er ſich von ſolchen Abſtraktionen kein Bild machen könne. Die völlige Hingebung der freien Perſönlichkeit in den Dienſt des Staates blieb die- ſem Geſchlechte ebenſo widerwärtig wie das politiſche Parteileben mit ſei- ner freiwilligen Beſchränktheit, ſeinem grundſätzlich ungerechten Haſſe. Als höchſter Lebenszweck galt dem Deutſchen noch immer: ſich ſelber aus- zuleben, ſein Ich nach allen Seiten hin in freier Eigenart zu entfalten und, wie W. Humboldt ſagte, mehr auf das Thun als auf die That zu ſehen.
Obſchon die herrſchende Strömung der Zeit dem aufgeklärten Welt- bürgerthume der Jahre vor der Revolution geradeswegs zuwiderlief, ſo hatte ſich doch dies romantiſche Geſchlecht viele der menſchlich liebenswür- digen Tugenden des philoſophiſchen Jahrhunderts noch bewahrt. Mochten die jungen Teutonen prahleriſch wider den wälſchen Tand eifern: die Häupter der Wiſſenſchaft und Kunſt begrüßten noch, nach der echten alten deutſchen Art, dankbar und empfänglich jedes ſchöne Werk der Dichtung
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II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
vermochte das innere Leben der Wiſſenſchaft nicht zu ſtören. Obgleich jetzt
faſt alle deutſchen Staaten in rühmlichem Wetteifer tüchtige Lehrkräfte an
ihre Landesuniverſitäten zu berufen ſuchten, ſo war doch in den Augen
der Höfe und der Bureaukratie ſelbſt ein Gelehrter von europäiſchem
Rufe nichts weiter als ein Profeſſor ohne Hofrang. Die Männer der
Wiſſenſchaft dagegen ſahen mit dem ganzen Stolze des Idealismus auf
die endlichen Zwecke des handelnden Lebens hernieder. Jeder Lehrer rieth
den guten Köpfen unter ſeinen Schülern, ſich ganz der Wiſſenſchaft zu
widmen; für die Handwerksarbeit des Soldaten und des Beamten, nun
gar für die gründlich verachtete bürgerliche Geſchäftswelt ſchien der Mittel-
ſchlag gut genug. Ein unverhältnißmäßig großer Theil der geiſtigen Kräfte
der Nation wendete ſich der gelehrten Thätigkeit zu, und es bleibt ein
ſchönes Zeugniß für die Fruchtbarkeit dieſes Geſchlechts, daß gleichwohl
das Beamtenthum eben jetzt eine überraſchende Fülle von Talenten in
ſeinen Reihen zählte.
Es ſtand noch immer wie vor ſiebzig Jahren: das politiſche Leben
der Nation floß in unzähligen Strömen und Bächen zertheilt dahin;
allein die Schriftſteller und Gelehrten redeten unmittelbar zu der ge-
ſammten Nation. Darum fühlten ſie ſich auch als die berufenen Vertreter
des Volkes und ſeiner höchſten Güter; nur ſehr langſam gelangten neben
ihnen einzelne politiſche Männer zu allgemeinem Anſehen. Das ganze
Zeitalter trug noch in Art und Unart den Charakter einer literariſchen
Epoche. Auch jetzt noch erregte ein Gedicht von Goethe, eine ſcharfe Recen-
ſion oder eine gelehrte Fehde, wie ſie zwiſchen den Symbolikern und den
kritiſchen Philologen ausbrach, weit tiefere Theilnahme bei den führenden
Geiſtern der Nation als irgend ein politiſches Ereigniß. Recht aus dem
Herzen der romantiſchen Zeit heraus geſtand Karl Immermann: er ver-
möge nicht einer parlamentariſchen Debatte aufmerkſam zu folgen, weil
er ſich von ſolchen Abſtraktionen kein Bild machen könne. Die völlige
Hingebung der freien Perſönlichkeit in den Dienſt des Staates blieb die-
ſem Geſchlechte ebenſo widerwärtig wie das politiſche Parteileben mit ſei-
ner freiwilligen Beſchränktheit, ſeinem grundſätzlich ungerechten Haſſe.
Als höchſter Lebenszweck galt dem Deutſchen noch immer: ſich ſelber aus-
zuleben, ſein Ich nach allen Seiten hin in freier Eigenart zu entfalten
und, wie W. Humboldt ſagte, mehr auf das Thun als auf die That
zu ſehen.
Obſchon die herrſchende Strömung der Zeit dem aufgeklärten Welt-
bürgerthume der Jahre vor der Revolution geradeswegs zuwiderlief, ſo
hatte ſich doch dies romantiſche Geſchlecht viele der menſchlich liebenswür-
digen Tugenden des philoſophiſchen Jahrhunderts noch bewahrt. Mochten
die jungen Teutonen prahleriſch wider den wälſchen Tand eifern: die
Häupter der Wiſſenſchaft und Kunſt begrüßten noch, nach der echten alten
deutſchen Art, dankbar und empfänglich jedes ſchöne Werk der Dichtung
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/26>, abgerufen am 16.02.2025.
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