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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Lutheraner und Reformirte.

Auch für das innere Leben der deutschen protestantischen Kirche wurden
diese Friedensjahre eine Zeit der Verjüngung und Erneuerung, wesent-
lich durch das Verdienst der preußischen Krone. Der König erkannte,
gleich seinem russischen Freunde, in den Siegen der letzten Jahre die
Hand des lebendigen Gottes, ihm wollte er sich beugen; aber während
Czar Alexanders phantastischer Sinn durch die andächtige Stimmung der
Kriegszeit zu dem anspruchsvollen und doch leeren Plane der Heiligen
Allianz begeistert wurde, ging der nüchterne Friedrich Wilhelm an ein
unscheinbares und doch weit fruchtbareres Werk: er entschloß sich, die reife
Frucht einer zweihundertjährigen friedlichen Gedankenarbeit endlich zu
brechen, den frommen Lieblingsgedanken seiner Ahnen, die Union der evan-
gelischen Kirchen Deutschlands zu verwirklichen. Der alte unselige Haß
der beiden Schwesterkirchen des Protestantismus, der einst die Siege der
Gegenreformation, die große Verwüstung des dreißigjährigen Krieges so
mächtig gefördert hatte, erschien dem neuen Geschlechte schon längst fremd,
fast unbegreiflich. Im bürgerlichen Leben ward der Gegensatz kaum noch
bemerkt; die Mischehen zwischen Lutheranern und Reformirten, die noch
in den Tagen des Thomasius so viele Stürme theologischer Entrüstung
hervorgerufen, galten jetzt selbst in den Pfarrerfamilien für unbedenklich.
Die Rationalisten meinten allem Dogmenstreite entwachsen zu sein; die
Ausläufer des Pietismus betrachteten die ewige Liebe als den großen
Mittelpunkt des christlichen Glaubens, wie es einst der junge Goethe in
dem rührenden "Briefe eines Landgeistlichen" ausgesprochen hatte; auch
in den Kreisen der strengen Bibelgläubigen ward oft die Frage laut, ob
der Protestantismus nicht wieder zurückkehren könne zu jener ungebro-
chenen Einheit, die in den Jugendtagen der Reformation sein Glück und
sein Stolz gewesen war. Neuerdings, schon seit dem Jahre 1802, war
Schleiermacher als der wissenschaftliche Wortführer der Union aufgetreten.
Was den freiesten Köpfen des siebzehnten Jahrhunderts, Calixt und Pufen-
dorf, Spener und Leibniz noch halb verhüllt geblieben, war dem Jünger
der neuen Philosophie geläufig; er wußte, daß alles Wissen von der über-
sinnlichen Welt nur ein annäherndes Erkennen ist und mithin verschiedene
Annäherungsversuche im Frieden neben einander bestehen können falls sie
nur den Boden der evangelischen Freiheit nicht verlassen. Die reformirte
Kirche, der er angehörte, suchte das Wesen des Christenthums in der sitt-
lichen Gestaltung des Lebens und war darum dem Gedanken der "Ein-
heit des evangelischen Namens" von jeher zugänglicher gewesen als der
gemüthvolle dogmatische Tiefsinn des Lutherthums.

In Preußen hatte die Kirchenpolitik des Herrscherhauses seit Langem
bedachtsam die Wiedervereinigung vorbereitet. Die Hohenzollern rechneten
sich auch nach Johann Sigismunds Uebertritt immer zu den Augsburgi-
schen Confessionsverwandten und gaben das Kirchenregiment über die
lutherische Landeskirche nicht aus der Hand; blieb doch auch das Corpus

Lutheraner und Reformirte.

Auch für das innere Leben der deutſchen proteſtantiſchen Kirche wurden
dieſe Friedensjahre eine Zeit der Verjüngung und Erneuerung, weſent-
lich durch das Verdienſt der preußiſchen Krone. Der König erkannte,
gleich ſeinem ruſſiſchen Freunde, in den Siegen der letzten Jahre die
Hand des lebendigen Gottes, ihm wollte er ſich beugen; aber während
Czar Alexanders phantaſtiſcher Sinn durch die andächtige Stimmung der
Kriegszeit zu dem anſpruchsvollen und doch leeren Plane der Heiligen
Allianz begeiſtert wurde, ging der nüchterne Friedrich Wilhelm an ein
unſcheinbares und doch weit fruchtbareres Werk: er entſchloß ſich, die reife
Frucht einer zweihundertjährigen friedlichen Gedankenarbeit endlich zu
brechen, den frommen Lieblingsgedanken ſeiner Ahnen, die Union der evan-
geliſchen Kirchen Deutſchlands zu verwirklichen. Der alte unſelige Haß
der beiden Schweſterkirchen des Proteſtantismus, der einſt die Siege der
Gegenreformation, die große Verwüſtung des dreißigjährigen Krieges ſo
mächtig gefördert hatte, erſchien dem neuen Geſchlechte ſchon längſt fremd,
faſt unbegreiflich. Im bürgerlichen Leben ward der Gegenſatz kaum noch
bemerkt; die Miſchehen zwiſchen Lutheranern und Reformirten, die noch
in den Tagen des Thomaſius ſo viele Stürme theologiſcher Entrüſtung
hervorgerufen, galten jetzt ſelbſt in den Pfarrerfamilien für unbedenklich.
Die Rationaliſten meinten allem Dogmenſtreite entwachſen zu ſein; die
Ausläufer des Pietismus betrachteten die ewige Liebe als den großen
Mittelpunkt des chriſtlichen Glaubens, wie es einſt der junge Goethe in
dem rührenden „Briefe eines Landgeiſtlichen“ ausgeſprochen hatte; auch
in den Kreiſen der ſtrengen Bibelgläubigen ward oft die Frage laut, ob
der Proteſtantismus nicht wieder zurückkehren könne zu jener ungebro-
chenen Einheit, die in den Jugendtagen der Reformation ſein Glück und
ſein Stolz geweſen war. Neuerdings, ſchon ſeit dem Jahre 1802, war
Schleiermacher als der wiſſenſchaftliche Wortführer der Union aufgetreten.
Was den freieſten Köpfen des ſiebzehnten Jahrhunderts, Calixt und Pufen-
dorf, Spener und Leibniz noch halb verhüllt geblieben, war dem Jünger
der neuen Philoſophie geläufig; er wußte, daß alles Wiſſen von der über-
ſinnlichen Welt nur ein annäherndes Erkennen iſt und mithin verſchiedene
Annäherungsverſuche im Frieden neben einander beſtehen können falls ſie
nur den Boden der evangeliſchen Freiheit nicht verlaſſen. Die reformirte
Kirche, der er angehörte, ſuchte das Weſen des Chriſtenthums in der ſitt-
lichen Geſtaltung des Lebens und war darum dem Gedanken der „Ein-
heit des evangeliſchen Namens“ von jeher zugänglicher geweſen als der
gemüthvolle dogmatiſche Tiefſinn des Lutherthums.

In Preußen hatte die Kirchenpolitik des Herrſcherhauſes ſeit Langem
bedachtſam die Wiedervereinigung vorbereitet. Die Hohenzollern rechneten
ſich auch nach Johann Sigismunds Uebertritt immer zu den Augsburgi-
ſchen Confeſſionsverwandten und gaben das Kirchenregiment über die
lutheriſche Landeskirche nicht aus der Hand; blieb doch auch das Corpus

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[239/0253] Lutheraner und Reformirte. Auch für das innere Leben der deutſchen proteſtantiſchen Kirche wurden dieſe Friedensjahre eine Zeit der Verjüngung und Erneuerung, weſent- lich durch das Verdienſt der preußiſchen Krone. Der König erkannte, gleich ſeinem ruſſiſchen Freunde, in den Siegen der letzten Jahre die Hand des lebendigen Gottes, ihm wollte er ſich beugen; aber während Czar Alexanders phantaſtiſcher Sinn durch die andächtige Stimmung der Kriegszeit zu dem anſpruchsvollen und doch leeren Plane der Heiligen Allianz begeiſtert wurde, ging der nüchterne Friedrich Wilhelm an ein unſcheinbares und doch weit fruchtbareres Werk: er entſchloß ſich, die reife Frucht einer zweihundertjährigen friedlichen Gedankenarbeit endlich zu brechen, den frommen Lieblingsgedanken ſeiner Ahnen, die Union der evan- geliſchen Kirchen Deutſchlands zu verwirklichen. Der alte unſelige Haß der beiden Schweſterkirchen des Proteſtantismus, der einſt die Siege der Gegenreformation, die große Verwüſtung des dreißigjährigen Krieges ſo mächtig gefördert hatte, erſchien dem neuen Geſchlechte ſchon längſt fremd, faſt unbegreiflich. Im bürgerlichen Leben ward der Gegenſatz kaum noch bemerkt; die Miſchehen zwiſchen Lutheranern und Reformirten, die noch in den Tagen des Thomaſius ſo viele Stürme theologiſcher Entrüſtung hervorgerufen, galten jetzt ſelbſt in den Pfarrerfamilien für unbedenklich. Die Rationaliſten meinten allem Dogmenſtreite entwachſen zu ſein; die Ausläufer des Pietismus betrachteten die ewige Liebe als den großen Mittelpunkt des chriſtlichen Glaubens, wie es einſt der junge Goethe in dem rührenden „Briefe eines Landgeiſtlichen“ ausgeſprochen hatte; auch in den Kreiſen der ſtrengen Bibelgläubigen ward oft die Frage laut, ob der Proteſtantismus nicht wieder zurückkehren könne zu jener ungebro- chenen Einheit, die in den Jugendtagen der Reformation ſein Glück und ſein Stolz geweſen war. Neuerdings, ſchon ſeit dem Jahre 1802, war Schleiermacher als der wiſſenſchaftliche Wortführer der Union aufgetreten. Was den freieſten Köpfen des ſiebzehnten Jahrhunderts, Calixt und Pufen- dorf, Spener und Leibniz noch halb verhüllt geblieben, war dem Jünger der neuen Philoſophie geläufig; er wußte, daß alles Wiſſen von der über- ſinnlichen Welt nur ein annäherndes Erkennen iſt und mithin verſchiedene Annäherungsverſuche im Frieden neben einander beſtehen können falls ſie nur den Boden der evangeliſchen Freiheit nicht verlaſſen. Die reformirte Kirche, der er angehörte, ſuchte das Weſen des Chriſtenthums in der ſitt- lichen Geſtaltung des Lebens und war darum dem Gedanken der „Ein- heit des evangeliſchen Namens“ von jeher zugänglicher geweſen als der gemüthvolle dogmatiſche Tiefſinn des Lutherthums. In Preußen hatte die Kirchenpolitik des Herrſcherhauſes ſeit Langem bedachtſam die Wiedervereinigung vorbereitet. Die Hohenzollern rechneten ſich auch nach Johann Sigismunds Uebertritt immer zu den Augsburgi- ſchen Confeſſionsverwandten und gaben das Kirchenregiment über die lutheriſche Landeskirche nicht aus der Hand; blieb doch auch das Corpus

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/253>, abgerufen am 12.05.2024.