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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 2. Belle Alliance.
Anschauungen" der Preußen, die aus dem Kampfe gegen die Revolution
selbstsüchtig Vortheil ziehen wollten. Der von Stein und seinen Freunden
aufgeworfene Vorschlag, das Elsaß dem Erzherzog Karl zu geben, steigerte
nur den Widerwillen des Kaisers Franz, der gegen diesen Bruder stets
ein tiefes Mißtrauen hegte.

Zwischen den beiden Nebenbuhlern Rußland und England entspann
sich nun ein stürmischer Wettlauf um den Preis der Großmuth; beide
hofften sich für die drohende orientalische Verwicklung die Freundschaft
Frankreichs zu sichern. Bei den Briten wirkte auch noch die Erinnerung
an das Bündniß vom 3. Januar und die damals begründete entente
cordiale
mit, vor Allem aber die den Hochtorys eigenthümliche geistige
Beschränktheit. Zu großen Gesichtspunkten der festländischen Politik ver-
mochten sich diese Insulaner nicht zu erheben; Castlereagh sprach unbe-
fangen aus: "wenn man für fünf oder sieben Jahre Vorsichtsmaßregeln
ergriffe, so sei das Höchste geschehen, was die Diplomatie leisten könne."
Die Sieger beschlossen, die Unterhandlung mit der Krone Frankreich
erst dann zu beginnen, wenn sie sich unter einander geeinigt hätten.
Das unglückliche Land lag waffenlos zu den Füßen der Eroberer. Ueber-
all die Raserei des Parteihasses; in Paris tiefer Groll gegen den König,
den Schützling der Fremden; im Süden begann schon der Bürgerkrieg,
der wüthende Kampf des "weißen Schreckens". Ueberdies wurden die
Trümmer der napoleonischen Armee eben jetzt, auf Alexanders Rath,
aufgelöst, weil der Czar den Verbündeten beweisen wollte, daß ihnen kein
Feind mehr gegenüberstehe, daß die Stunde des Vergebens gekommen
sei. Das Land war außer Stande den Bedingungen der Sieger irgend
welchen Widerstand entgegenzustellen. Um so schwerer hielt die Verstän-
digung zwischen den Siegern selbst. So glatt und leicht die Verhandlungen
über den ersten Pariser Frieden verlaufen waren, ebenso stürmisch ge-
staltete sich diesmal die Berathung. Zwei volle Monate lang führten
die preußischen Staatsmänner den diplomatischen Kampf gegen das ge-
sammte Europa, bis sie endlich nachgeben mußten und dann, nach der
eigentlichen Entscheidung, die Friedensverhandlung mit Frankreich eröffnet
wurde.

Schon am 15. Juli hatte Castlereagh die Grundsätze aufgestellt, von
denen die Verbündeten ausgehen sollten*): "das Ansehen König Ludwigs
entehren oder schwächen heißt in der That die eigene Macht der Verbün-
deten verringern." Es ist auch die Pflicht der Mächte, die Nation mit
Nachsicht und Versöhnlichkeit zu behandeln, dagegen den König bei der
Neubildung des Heeres und der Unterdrückung der Verschwörer zu unter-
stützen. Im schärfsten Gegensatze zu dieser Ansicht, welche die Sieger
von Belle Alliance in der That nur als die ergebene Polizeimannschaft

*) Castlereaghs Memorandum v. 15. Juli 1815.

II. 2. Belle Alliance.
Anſchauungen“ der Preußen, die aus dem Kampfe gegen die Revolution
ſelbſtſüchtig Vortheil ziehen wollten. Der von Stein und ſeinen Freunden
aufgeworfene Vorſchlag, das Elſaß dem Erzherzog Karl zu geben, ſteigerte
nur den Widerwillen des Kaiſers Franz, der gegen dieſen Bruder ſtets
ein tiefes Mißtrauen hegte.

Zwiſchen den beiden Nebenbuhlern Rußland und England entſpann
ſich nun ein ſtürmiſcher Wettlauf um den Preis der Großmuth; beide
hofften ſich für die drohende orientaliſche Verwicklung die Freundſchaft
Frankreichs zu ſichern. Bei den Briten wirkte auch noch die Erinnerung
an das Bündniß vom 3. Januar und die damals begründete entente
cordiale
mit, vor Allem aber die den Hochtorys eigenthümliche geiſtige
Beſchränktheit. Zu großen Geſichtspunkten der feſtländiſchen Politik ver-
mochten ſich dieſe Inſulaner nicht zu erheben; Caſtlereagh ſprach unbe-
fangen aus: „wenn man für fünf oder ſieben Jahre Vorſichtsmaßregeln
ergriffe, ſo ſei das Höchſte geſchehen, was die Diplomatie leiſten könne.“
Die Sieger beſchloſſen, die Unterhandlung mit der Krone Frankreich
erſt dann zu beginnen, wenn ſie ſich unter einander geeinigt hätten.
Das unglückliche Land lag waffenlos zu den Füßen der Eroberer. Ueber-
all die Raſerei des Parteihaſſes; in Paris tiefer Groll gegen den König,
den Schützling der Fremden; im Süden begann ſchon der Bürgerkrieg,
der wüthende Kampf des „weißen Schreckens“. Ueberdies wurden die
Trümmer der napoleoniſchen Armee eben jetzt, auf Alexanders Rath,
aufgelöſt, weil der Czar den Verbündeten beweiſen wollte, daß ihnen kein
Feind mehr gegenüberſtehe, daß die Stunde des Vergebens gekommen
ſei. Das Land war außer Stande den Bedingungen der Sieger irgend
welchen Widerſtand entgegenzuſtellen. Um ſo ſchwerer hielt die Verſtän-
digung zwiſchen den Siegern ſelbſt. So glatt und leicht die Verhandlungen
über den erſten Pariſer Frieden verlaufen waren, ebenſo ſtürmiſch ge-
ſtaltete ſich diesmal die Berathung. Zwei volle Monate lang führten
die preußiſchen Staatsmänner den diplomatiſchen Kampf gegen das ge-
ſammte Europa, bis ſie endlich nachgeben mußten und dann, nach der
eigentlichen Entſcheidung, die Friedensverhandlung mit Frankreich eröffnet
wurde.

Schon am 15. Juli hatte Caſtlereagh die Grundſätze aufgeſtellt, von
denen die Verbündeten ausgehen ſollten*): „das Anſehen König Ludwigs
entehren oder ſchwächen heißt in der That die eigene Macht der Verbün-
deten verringern.“ Es iſt auch die Pflicht der Mächte, die Nation mit
Nachſicht und Verſöhnlichkeit zu behandeln, dagegen den König bei der
Neubildung des Heeres und der Unterdrückung der Verſchwörer zu unter-
ſtützen. Im ſchärfſten Gegenſatze zu dieſer Anſicht, welche die Sieger
von Belle Alliance in der That nur als die ergebene Polizeimannſchaft

*) Caſtlereaghs Memorandum v. 15. Juli 1815.
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[770/0786] II. 2. Belle Alliance. Anſchauungen“ der Preußen, die aus dem Kampfe gegen die Revolution ſelbſtſüchtig Vortheil ziehen wollten. Der von Stein und ſeinen Freunden aufgeworfene Vorſchlag, das Elſaß dem Erzherzog Karl zu geben, ſteigerte nur den Widerwillen des Kaiſers Franz, der gegen dieſen Bruder ſtets ein tiefes Mißtrauen hegte. Zwiſchen den beiden Nebenbuhlern Rußland und England entſpann ſich nun ein ſtürmiſcher Wettlauf um den Preis der Großmuth; beide hofften ſich für die drohende orientaliſche Verwicklung die Freundſchaft Frankreichs zu ſichern. Bei den Briten wirkte auch noch die Erinnerung an das Bündniß vom 3. Januar und die damals begründete entente cordiale mit, vor Allem aber die den Hochtorys eigenthümliche geiſtige Beſchränktheit. Zu großen Geſichtspunkten der feſtländiſchen Politik ver- mochten ſich dieſe Inſulaner nicht zu erheben; Caſtlereagh ſprach unbe- fangen aus: „wenn man für fünf oder ſieben Jahre Vorſichtsmaßregeln ergriffe, ſo ſei das Höchſte geſchehen, was die Diplomatie leiſten könne.“ Die Sieger beſchloſſen, die Unterhandlung mit der Krone Frankreich erſt dann zu beginnen, wenn ſie ſich unter einander geeinigt hätten. Das unglückliche Land lag waffenlos zu den Füßen der Eroberer. Ueber- all die Raſerei des Parteihaſſes; in Paris tiefer Groll gegen den König, den Schützling der Fremden; im Süden begann ſchon der Bürgerkrieg, der wüthende Kampf des „weißen Schreckens“. Ueberdies wurden die Trümmer der napoleoniſchen Armee eben jetzt, auf Alexanders Rath, aufgelöſt, weil der Czar den Verbündeten beweiſen wollte, daß ihnen kein Feind mehr gegenüberſtehe, daß die Stunde des Vergebens gekommen ſei. Das Land war außer Stande den Bedingungen der Sieger irgend welchen Widerſtand entgegenzuſtellen. Um ſo ſchwerer hielt die Verſtän- digung zwiſchen den Siegern ſelbſt. So glatt und leicht die Verhandlungen über den erſten Pariſer Frieden verlaufen waren, ebenſo ſtürmiſch ge- ſtaltete ſich diesmal die Berathung. Zwei volle Monate lang führten die preußiſchen Staatsmänner den diplomatiſchen Kampf gegen das ge- ſammte Europa, bis ſie endlich nachgeben mußten und dann, nach der eigentlichen Entſcheidung, die Friedensverhandlung mit Frankreich eröffnet wurde. Schon am 15. Juli hatte Caſtlereagh die Grundſätze aufgeſtellt, von denen die Verbündeten ausgehen ſollten *): „das Anſehen König Ludwigs entehren oder ſchwächen heißt in der That die eigene Macht der Verbün- deten verringern.“ Es iſt auch die Pflicht der Mächte, die Nation mit Nachſicht und Verſöhnlichkeit zu behandeln, dagegen den König bei der Neubildung des Heeres und der Unterdrückung der Verſchwörer zu unter- ſtützen. Im ſchärfſten Gegenſatze zu dieſer Anſicht, welche die Sieger von Belle Alliance in der That nur als die ergebene Polizeimannſchaft *) Caſtlereaghs Memorandum v. 15. Juli 1815.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 770. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/786>, abgerufen am 05.05.2024.