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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Treffen von Quatrebras.
Ney gegen 2 Uhr mit dem linken Flügel des französischen Heeres be-
fohlenermaßen auf der Brüsseler Straße nordwärts gegen Quatrebras
vorging, mußte er bald erfahren, daß die englische Macht ihm gegenüber
weit stärker war als Napoleon angenommen. Zwar im Anfang war er
den 7000 Nassauern und Niederländern, welche Wellington zur Stelle
hatte, um reichlich das Doppelte überlegen, und da er überdies sein Fuß-
volk durch den Wald von Bossu, der links vor seiner Fronte lag, unbe-
merkt dicht an den Gegner heranschieben konnte, so geriethen die Alliirten
eine Zeit lang in ernste Bedrängniß und waren bereits nahe daran den
wichtigen Kreuzungspunkt zu räumen. Da kamen zwischen 3 und 4
Uhr -- mehrere Stunden später als Wellington gerechnet hatte -- die
ersten Regimenter der Reserve von Brüssel heran: eine englische Division
unter General Picton, dann Herzog Wilhelm mit seinen schwarzen Braun-
schweigern. Ihnen gelang, das Gefecht auf dem linken Flügel wieder
herzustellen, und sie drangen schon über Quatrebras hinaus, als ein
mächtiger Reiterangriff der Franzosen sie in Verwirrung zurückschleuderte.
Wellington selbst entging nur durch die Schnelligkeit seines Rosses dem
Tode. Der tapfere Welfe aber ward inmitten seines Leibbataillons von
der tödlichen Kugel getroffen. Er starb zur rechten Zeit für seinen Ruhm;
denn nun lebte er fort im Gedächtniß seines treuen Volkes als ein Held
der Nation, als der Führer der schwarzen Schaar, und jene häßlichen
Züge welfischer Härte und Ueberhebung, die sich während der kurzen Mo-
nate seiner Regierung dem braunschweigischen Ländchen schon sehr fühlbar
gemacht hatten, wurden gern vergessen.

In diesem gefährlichen Augenblicke trafen die englischen und hanno-
verschen Regimenter des Generals Alten auf dem rechten Flügel der Ver-
bündeten ein; mehr als diese schwache Division wollte Wellington nicht
von Nivelles heranziehen, da ihn noch immer der Wahn beherrschte, Na-
poleon werde eine Umgehung im Westen versuchen. Die Division Alten be-
gann sich in dem Walde von Bossu auszubreiten, und mit ihrer Hilfe wurde
Neys zweiter Angriff abgeschlagen. Marschall Ney hoffte längst nicht mehr,
nach Ueberwältigung der englischen Streitkräfte sich auf das Schlachtfeld
von Ligny wenden zu können; genug wenn ihm nur gelang den Gegner
hier von der Brüsseler Straße zu verdrängen. Der sonst allen Anderen
durch unbekümmerten Soldatenmuth voranleuchtete, zeigte sich in diesem
Feldzuge immer fieberisch unruhig; die Erinnerung an den Eidbruch der
jüngsten Wochen, die Furcht vor einer schmachvollen Zukunft quälte ihn
sichtlich. In leidenschaftlicher Erregung beschwor er seinen tapferen elsaß-
lothringischen Landsmann Kellermann, wieder wie einst bei Marengo durch
einen wuchtigen Reiterangriff den Ausschlag zu geben: Frankreichs ganze
Zukunft stehe auf dem Spiele. Auch dieser dritte Versuch scheiterte, vor-
nehmlich an der Festigkeit der englischen Veteranen Pictons, die, wie einst
ihre Vorfahren bei Minden, das Gewehr zur Attake rechts nahmen und

Treffen von Quatrebras.
Ney gegen 2 Uhr mit dem linken Flügel des franzöſiſchen Heeres be-
fohlenermaßen auf der Brüſſeler Straße nordwärts gegen Quatrebras
vorging, mußte er bald erfahren, daß die engliſche Macht ihm gegenüber
weit ſtärker war als Napoleon angenommen. Zwar im Anfang war er
den 7000 Naſſauern und Niederländern, welche Wellington zur Stelle
hatte, um reichlich das Doppelte überlegen, und da er überdies ſein Fuß-
volk durch den Wald von Boſſu, der links vor ſeiner Fronte lag, unbe-
merkt dicht an den Gegner heranſchieben konnte, ſo geriethen die Alliirten
eine Zeit lang in ernſte Bedrängniß und waren bereits nahe daran den
wichtigen Kreuzungspunkt zu räumen. Da kamen zwiſchen 3 und 4
Uhr — mehrere Stunden ſpäter als Wellington gerechnet hatte — die
erſten Regimenter der Reſerve von Brüſſel heran: eine engliſche Diviſion
unter General Picton, dann Herzog Wilhelm mit ſeinen ſchwarzen Braun-
ſchweigern. Ihnen gelang, das Gefecht auf dem linken Flügel wieder
herzuſtellen, und ſie drangen ſchon über Quatrebras hinaus, als ein
mächtiger Reiterangriff der Franzoſen ſie in Verwirrung zurückſchleuderte.
Wellington ſelbſt entging nur durch die Schnelligkeit ſeines Roſſes dem
Tode. Der tapfere Welfe aber ward inmitten ſeines Leibbataillons von
der tödlichen Kugel getroffen. Er ſtarb zur rechten Zeit für ſeinen Ruhm;
denn nun lebte er fort im Gedächtniß ſeines treuen Volkes als ein Held
der Nation, als der Führer der ſchwarzen Schaar, und jene häßlichen
Züge welfiſcher Härte und Ueberhebung, die ſich während der kurzen Mo-
nate ſeiner Regierung dem braunſchweigiſchen Ländchen ſchon ſehr fühlbar
gemacht hatten, wurden gern vergeſſen.

In dieſem gefährlichen Augenblicke trafen die engliſchen und hanno-
verſchen Regimenter des Generals Alten auf dem rechten Flügel der Ver-
bündeten ein; mehr als dieſe ſchwache Diviſion wollte Wellington nicht
von Nivelles heranziehen, da ihn noch immer der Wahn beherrſchte, Na-
poleon werde eine Umgehung im Weſten verſuchen. Die Diviſion Alten be-
gann ſich in dem Walde von Boſſu auszubreiten, und mit ihrer Hilfe wurde
Neys zweiter Angriff abgeſchlagen. Marſchall Ney hoffte längſt nicht mehr,
nach Ueberwältigung der engliſchen Streitkräfte ſich auf das Schlachtfeld
von Ligny wenden zu können; genug wenn ihm nur gelang den Gegner
hier von der Brüſſeler Straße zu verdrängen. Der ſonſt allen Anderen
durch unbekümmerten Soldatenmuth voranleuchtete, zeigte ſich in dieſem
Feldzuge immer fieberiſch unruhig; die Erinnerung an den Eidbruch der
jüngſten Wochen, die Furcht vor einer ſchmachvollen Zukunft quälte ihn
ſichtlich. In leidenſchaftlicher Erregung beſchwor er ſeinen tapferen elſaß-
lothringiſchen Landsmann Kellermann, wieder wie einſt bei Marengo durch
einen wuchtigen Reiterangriff den Ausſchlag zu geben: Frankreichs ganze
Zukunft ſtehe auf dem Spiele. Auch dieſer dritte Verſuch ſcheiterte, vor-
nehmlich an der Feſtigkeit der engliſchen Veteranen Pictons, die, wie einſt
ihre Vorfahren bei Minden, das Gewehr zur Attake rechts nahmen und

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[743/0759] Treffen von Quatrebras. Ney gegen 2 Uhr mit dem linken Flügel des franzöſiſchen Heeres be- fohlenermaßen auf der Brüſſeler Straße nordwärts gegen Quatrebras vorging, mußte er bald erfahren, daß die engliſche Macht ihm gegenüber weit ſtärker war als Napoleon angenommen. Zwar im Anfang war er den 7000 Naſſauern und Niederländern, welche Wellington zur Stelle hatte, um reichlich das Doppelte überlegen, und da er überdies ſein Fuß- volk durch den Wald von Boſſu, der links vor ſeiner Fronte lag, unbe- merkt dicht an den Gegner heranſchieben konnte, ſo geriethen die Alliirten eine Zeit lang in ernſte Bedrängniß und waren bereits nahe daran den wichtigen Kreuzungspunkt zu räumen. Da kamen zwiſchen 3 und 4 Uhr — mehrere Stunden ſpäter als Wellington gerechnet hatte — die erſten Regimenter der Reſerve von Brüſſel heran: eine engliſche Diviſion unter General Picton, dann Herzog Wilhelm mit ſeinen ſchwarzen Braun- ſchweigern. Ihnen gelang, das Gefecht auf dem linken Flügel wieder herzuſtellen, und ſie drangen ſchon über Quatrebras hinaus, als ein mächtiger Reiterangriff der Franzoſen ſie in Verwirrung zurückſchleuderte. Wellington ſelbſt entging nur durch die Schnelligkeit ſeines Roſſes dem Tode. Der tapfere Welfe aber ward inmitten ſeines Leibbataillons von der tödlichen Kugel getroffen. Er ſtarb zur rechten Zeit für ſeinen Ruhm; denn nun lebte er fort im Gedächtniß ſeines treuen Volkes als ein Held der Nation, als der Führer der ſchwarzen Schaar, und jene häßlichen Züge welfiſcher Härte und Ueberhebung, die ſich während der kurzen Mo- nate ſeiner Regierung dem braunſchweigiſchen Ländchen ſchon ſehr fühlbar gemacht hatten, wurden gern vergeſſen. In dieſem gefährlichen Augenblicke trafen die engliſchen und hanno- verſchen Regimenter des Generals Alten auf dem rechten Flügel der Ver- bündeten ein; mehr als dieſe ſchwache Diviſion wollte Wellington nicht von Nivelles heranziehen, da ihn noch immer der Wahn beherrſchte, Na- poleon werde eine Umgehung im Weſten verſuchen. Die Diviſion Alten be- gann ſich in dem Walde von Boſſu auszubreiten, und mit ihrer Hilfe wurde Neys zweiter Angriff abgeſchlagen. Marſchall Ney hoffte längſt nicht mehr, nach Ueberwältigung der engliſchen Streitkräfte ſich auf das Schlachtfeld von Ligny wenden zu können; genug wenn ihm nur gelang den Gegner hier von der Brüſſeler Straße zu verdrängen. Der ſonſt allen Anderen durch unbekümmerten Soldatenmuth voranleuchtete, zeigte ſich in dieſem Feldzuge immer fieberiſch unruhig; die Erinnerung an den Eidbruch der jüngſten Wochen, die Furcht vor einer ſchmachvollen Zukunft quälte ihn ſichtlich. In leidenſchaftlicher Erregung beſchwor er ſeinen tapferen elſaß- lothringiſchen Landsmann Kellermann, wieder wie einſt bei Marengo durch einen wuchtigen Reiterangriff den Ausſchlag zu geben: Frankreichs ganze Zukunft ſtehe auf dem Spiele. Auch dieſer dritte Verſuch ſcheiterte, vor- nehmlich an der Feſtigkeit der engliſchen Veteranen Pictons, die, wie einſt ihre Vorfahren bei Minden, das Gewehr zur Attake rechts nahmen und

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 743. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/759>, abgerufen am 25.11.2024.