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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Schlacht von Ligny.
engen Raume lag die Entscheidung, und hier vermochte der linke Flügel
der Preußen gar nicht einzugreifen. Beide Heere fochten mit verzweifel-
tem Muthe, der Haß so vieler Jahre brach furchtbar aus. Kein Pardon
hüben und drüben; ein französischer General drohte Jeden erschießen zu
lassen, der ihm einen gefangenen Preußen brächte. Im Ganzen bewahr-
ten die französischen Truppen mehr Ruhe und Sicherheit; die Offiziere
behielten ihre Leute fest in der Hand, während die Leidenschaft ungestümer
Kampflust, die in dem deutschen Volksheere flammte, die preußischen Führer
oft zu vorzeitiger Vergeudung der Kräfte verleitete. Der wellige, erstarr-
ten Meereswogen gleichende Boden, die mit mannshohem Getreide und
dichtem Kartoffelkraut bestandenen Felder der üppigen Brabanter Ebene
boten Gelegenheit zu mannichfachen Ueberraschungen, denen die Kaltblü-
tigkeit der jungen preußischen Truppen, namentlich der Landwehr nicht
immer gewachsen war. Es war ein drückend heißer Tag. Bei stechender
Sonne und schwüler Gewitterlust mußte das preußische Fußvolk, das zum
Theil schon Tags zuvor gefochten hatte, zum Theil die Nacht hindurch
marschirt war, sechs Stunden lang fast ununterbrochen das Nahgefecht
um die Dörfer bestehen. Manchen stand der Schaum vor dem Munde
von der Wuth des Kampfes und der ungeheuren Anstrengung; hier
schlürfte Einer mit lechzenden Lippen das Kothwasser aus einer Mistlache,
dort brach ein Anderer, unverwundet, vor Erschöpfung todt zusammen.

Kurz vor 3 Uhr begann Vandamme den Angriff auf den rechten
Flügel der Preußen bei La Haye und nahm das Dorf nach zweistündigem
blutigem Ringen. Da führt Blücher selbst frische Truppen zum Angriff
vor, das Dorf wird zurückerobert, geht aber von Neuem verloren, da
eine Attake der preußischen Reiterei nebenan mißlingt. Gleichwohl kommt
das Gefecht hier zum Stehen, die Franzosen werden in dem Dorfe fest-
gehalten, gelangen keinen Schritt darüber hinaus. Vergeblich sendet Na-
poleon gegen Abend einen Theil seiner Garde zur Unterstützung Van-
dammes; das Corps Zietens behauptet sich sechs Stunden lang uner-
schütterlich. Trafen jetzt die Engländer zur Verstärkung des rechten Flügels
ein, so war der Sieg entschieden. Unterdessen war Gerard mit dem rechten
Flügel der Franzosen gegen das Dorf Ligny vorgegangen; dort hatten
die Preußen das Schloß und die Häuser zur Vertheidigung eingerichtet,
ihre Batterien bestrichen wirksam die Fläche vor der Front. Viermal
werden die Angreifenden zurückgeworfen, und als sie endlich in die Häuser-
zeile eindringen, gewinnen sie doch nur die Hälfte des Dorfes. In der
anderen Hälfte, jenseits des Baches behaupten sich die Preußen, und
nun entbrennt im Inneren des Dorfes ein Gefecht von unerhörter Hart-
näckigkeit, da beide Parteien aus den dichten Infanteriemassen in ihrem
Rücken beständig Verstärkungen an sich ziehen. Bald steht das Schloß
und ein großer Theil des Dorfes in Flammen; in der Dorfgasse thürmen
sich die Leichen auf; jedes Haus und jeder Stall wird zu einer kleinen

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Schlacht von Ligny.
engen Raume lag die Entſcheidung, und hier vermochte der linke Flügel
der Preußen gar nicht einzugreifen. Beide Heere fochten mit verzweifel-
tem Muthe, der Haß ſo vieler Jahre brach furchtbar aus. Kein Pardon
hüben und drüben; ein franzöſiſcher General drohte Jeden erſchießen zu
laſſen, der ihm einen gefangenen Preußen brächte. Im Ganzen bewahr-
ten die franzöſiſchen Truppen mehr Ruhe und Sicherheit; die Offiziere
behielten ihre Leute feſt in der Hand, während die Leidenſchaft ungeſtümer
Kampfluſt, die in dem deutſchen Volksheere flammte, die preußiſchen Führer
oft zu vorzeitiger Vergeudung der Kräfte verleitete. Der wellige, erſtarr-
ten Meereswogen gleichende Boden, die mit mannshohem Getreide und
dichtem Kartoffelkraut beſtandenen Felder der üppigen Brabanter Ebene
boten Gelegenheit zu mannichfachen Ueberraſchungen, denen die Kaltblü-
tigkeit der jungen preußiſchen Truppen, namentlich der Landwehr nicht
immer gewachſen war. Es war ein drückend heißer Tag. Bei ſtechender
Sonne und ſchwüler Gewitterluſt mußte das preußiſche Fußvolk, das zum
Theil ſchon Tags zuvor gefochten hatte, zum Theil die Nacht hindurch
marſchirt war, ſechs Stunden lang faſt ununterbrochen das Nahgefecht
um die Dörfer beſtehen. Manchen ſtand der Schaum vor dem Munde
von der Wuth des Kampfes und der ungeheuren Anſtrengung; hier
ſchlürfte Einer mit lechzenden Lippen das Kothwaſſer aus einer Miſtlache,
dort brach ein Anderer, unverwundet, vor Erſchöpfung todt zuſammen.

Kurz vor 3 Uhr begann Vandamme den Angriff auf den rechten
Flügel der Preußen bei La Haye und nahm das Dorf nach zweiſtündigem
blutigem Ringen. Da führt Blücher ſelbſt friſche Truppen zum Angriff
vor, das Dorf wird zurückerobert, geht aber von Neuem verloren, da
eine Attake der preußiſchen Reiterei nebenan mißlingt. Gleichwohl kommt
das Gefecht hier zum Stehen, die Franzoſen werden in dem Dorfe feſt-
gehalten, gelangen keinen Schritt darüber hinaus. Vergeblich ſendet Na-
poleon gegen Abend einen Theil ſeiner Garde zur Unterſtützung Van-
dammes; das Corps Zietens behauptet ſich ſechs Stunden lang uner-
ſchütterlich. Trafen jetzt die Engländer zur Verſtärkung des rechten Flügels
ein, ſo war der Sieg entſchieden. Unterdeſſen war Gerard mit dem rechten
Flügel der Franzoſen gegen das Dorf Ligny vorgegangen; dort hatten
die Preußen das Schloß und die Häuſer zur Vertheidigung eingerichtet,
ihre Batterien beſtrichen wirkſam die Fläche vor der Front. Viermal
werden die Angreifenden zurückgeworfen, und als ſie endlich in die Häuſer-
zeile eindringen, gewinnen ſie doch nur die Hälfte des Dorfes. In der
anderen Hälfte, jenſeits des Baches behaupten ſich die Preußen, und
nun entbrennt im Inneren des Dorfes ein Gefecht von unerhörter Hart-
näckigkeit, da beide Parteien aus den dichten Infanteriemaſſen in ihrem
Rücken beſtändig Verſtärkungen an ſich ziehen. Bald ſteht das Schloß
und ein großer Theil des Dorfes in Flammen; in der Dorfgaſſe thürmen
ſich die Leichen auf; jedes Haus und jeder Stall wird zu einer kleinen

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[739/0755] Schlacht von Ligny. engen Raume lag die Entſcheidung, und hier vermochte der linke Flügel der Preußen gar nicht einzugreifen. Beide Heere fochten mit verzweifel- tem Muthe, der Haß ſo vieler Jahre brach furchtbar aus. Kein Pardon hüben und drüben; ein franzöſiſcher General drohte Jeden erſchießen zu laſſen, der ihm einen gefangenen Preußen brächte. Im Ganzen bewahr- ten die franzöſiſchen Truppen mehr Ruhe und Sicherheit; die Offiziere behielten ihre Leute feſt in der Hand, während die Leidenſchaft ungeſtümer Kampfluſt, die in dem deutſchen Volksheere flammte, die preußiſchen Führer oft zu vorzeitiger Vergeudung der Kräfte verleitete. Der wellige, erſtarr- ten Meereswogen gleichende Boden, die mit mannshohem Getreide und dichtem Kartoffelkraut beſtandenen Felder der üppigen Brabanter Ebene boten Gelegenheit zu mannichfachen Ueberraſchungen, denen die Kaltblü- tigkeit der jungen preußiſchen Truppen, namentlich der Landwehr nicht immer gewachſen war. Es war ein drückend heißer Tag. Bei ſtechender Sonne und ſchwüler Gewitterluſt mußte das preußiſche Fußvolk, das zum Theil ſchon Tags zuvor gefochten hatte, zum Theil die Nacht hindurch marſchirt war, ſechs Stunden lang faſt ununterbrochen das Nahgefecht um die Dörfer beſtehen. Manchen ſtand der Schaum vor dem Munde von der Wuth des Kampfes und der ungeheuren Anſtrengung; hier ſchlürfte Einer mit lechzenden Lippen das Kothwaſſer aus einer Miſtlache, dort brach ein Anderer, unverwundet, vor Erſchöpfung todt zuſammen. Kurz vor 3 Uhr begann Vandamme den Angriff auf den rechten Flügel der Preußen bei La Haye und nahm das Dorf nach zweiſtündigem blutigem Ringen. Da führt Blücher ſelbſt friſche Truppen zum Angriff vor, das Dorf wird zurückerobert, geht aber von Neuem verloren, da eine Attake der preußiſchen Reiterei nebenan mißlingt. Gleichwohl kommt das Gefecht hier zum Stehen, die Franzoſen werden in dem Dorfe feſt- gehalten, gelangen keinen Schritt darüber hinaus. Vergeblich ſendet Na- poleon gegen Abend einen Theil ſeiner Garde zur Unterſtützung Van- dammes; das Corps Zietens behauptet ſich ſechs Stunden lang uner- ſchütterlich. Trafen jetzt die Engländer zur Verſtärkung des rechten Flügels ein, ſo war der Sieg entſchieden. Unterdeſſen war Gerard mit dem rechten Flügel der Franzoſen gegen das Dorf Ligny vorgegangen; dort hatten die Preußen das Schloß und die Häuſer zur Vertheidigung eingerichtet, ihre Batterien beſtrichen wirkſam die Fläche vor der Front. Viermal werden die Angreifenden zurückgeworfen, und als ſie endlich in die Häuſer- zeile eindringen, gewinnen ſie doch nur die Hälfte des Dorfes. In der anderen Hälfte, jenſeits des Baches behaupten ſich die Preußen, und nun entbrennt im Inneren des Dorfes ein Gefecht von unerhörter Hart- näckigkeit, da beide Parteien aus den dichten Infanteriemaſſen in ihrem Rücken beſtändig Verſtärkungen an ſich ziehen. Bald ſteht das Schloß und ein großer Theil des Dorfes in Flammen; in der Dorfgaſſe thürmen ſich die Leichen auf; jedes Haus und jeder Stall wird zu einer kleinen 47*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 739. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/755>, abgerufen am 22.11.2024.