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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 2. Belle Alliance.
geschlagen ward, bestärkte die Höfe in der Ueberzeugung, daß jede Ver-
handlung mit dem Bonapartismus unmöglich sei. Deutschland erschien,
was seit drei Jahrhunderten nicht mehr erlebt worden, schon beim Be-
ginne des großen Krieges vollkommen einig. Offenen Verrath wagte Nie-
mand mehr, obwohl sich die böse Gesinnung des Münchener und des
Stuttgarter Hofes wieder in tausend Zänkereien über das Verpflegungs-
wesen bekundete. Aber die Nation sollte schmerzlich genug erfahren, daß
Einigkeit nicht Einheit ist. Da der Deutsche Bund in dem Augenblicke
der Kriegserklärung noch nicht bestand, so konnten die deutschen Staaten
auch nur einzeln der Coalition beitreten; sie erhielten im Rathe der großen
Mächte keine Stimme und erprobten sogleich, wie werthlos jenes Recht
der selbständigen diplomatischen Vertretung war, das sie als die schönste
Zierde ihrer Kronen betrachteten.

Angesichts der ungeheuren Ueberlegenheit der Streitkräfte der Ver-
bündeten verhieß die alsbaldige Eröffnung des Feldzugs sicheres Gelingen;
fast alle namhaften Generale der Coalition, Blücher und Gneisenau, Wel-
lington, Toll und Diebitsch stimmten darin überein. Die Zögerung,
meinte Blücher, schafft Napoleon nur die Heere, die wir mit vielem Blute
bekämpfen müssen. Nach Gneisenaus Ansicht konnten am 1. Mai drei große
Armeen von je 200,000 Mann etwa am Ober-, Mittel- und Niederrhein
zum Einmarsch in Frankreich bereit stehen. Sein staatsmännischer Blick sah
voraus, was fast alle Uebrigen für unmöglich hielten, daß der Imperator
die Offensive ergreifen würde. Um so dringender rieth er den Alliirten
ihrerseits mit dem Angriff zuvorzukommen. Rückten die drei Armeen
gleichzeitig gegen Paris vor und versammelte sich unterdessen in ihrem
Rücken die vierte Armee, die aus Rußland herankam, dann konnte Napo-
leon nur einer von ihnen eine ebenbürtige Macht entgegenstellen; erlitt
das eine Heer durch die Feldherrnkunst des Gegners einen Unfall, so
zog es sich auf die große Reservearmee zurück, die beiden anderen aber
blieben im Vorgehen auf Paris. Wieder wie vor'm Jahre bezeichnete
Gneisenau die feindliche Hauptstadt als das einzig mögliche Ziel des
Kampfes, während selbst muthige Männer wie Humboldt bedenklich mein-
ten, die Geschichte kenne keine Wiederholungen. Und wieder wie damals
warnte er vor jeder Zersplitterung der Kräfte: mit dem Sturze Napo-
leons sei alles Andere, auch das Schicksal Italiens von selbst entschieden.

In der Hofburg dagegen ward der italienische Kriegsschauplatz als so
hochwichtig angesehen, daß selbst Radetzky erklärte: Oesterreich müsse die
Schweiz zum Mittelpunkte seiner Operationen wählen, um mit der ita-
lienischen Armee in Verbindung zu bleiben. Auf der Halbinsel begann
es zu gähren. Die Mailänder fingen schon an, die übereilte Revolution
des vergangenen Frühjahrs zu bereuen, murrten über die Herrschaft des
bastone tedesco. Die phantastischen Manifeste Murats, die von der
Einheit Italiens redeten, machten doch einigen Eindruck; auch die natür-

II. 2. Belle Alliance.
geſchlagen ward, beſtärkte die Höfe in der Ueberzeugung, daß jede Ver-
handlung mit dem Bonapartismus unmöglich ſei. Deutſchland erſchien,
was ſeit drei Jahrhunderten nicht mehr erlebt worden, ſchon beim Be-
ginne des großen Krieges vollkommen einig. Offenen Verrath wagte Nie-
mand mehr, obwohl ſich die böſe Geſinnung des Münchener und des
Stuttgarter Hofes wieder in tauſend Zänkereien über das Verpflegungs-
weſen bekundete. Aber die Nation ſollte ſchmerzlich genug erfahren, daß
Einigkeit nicht Einheit iſt. Da der Deutſche Bund in dem Augenblicke
der Kriegserklärung noch nicht beſtand, ſo konnten die deutſchen Staaten
auch nur einzeln der Coalition beitreten; ſie erhielten im Rathe der großen
Mächte keine Stimme und erprobten ſogleich, wie werthlos jenes Recht
der ſelbſtändigen diplomatiſchen Vertretung war, das ſie als die ſchönſte
Zierde ihrer Kronen betrachteten.

Angeſichts der ungeheuren Ueberlegenheit der Streitkräfte der Ver-
bündeten verhieß die alsbaldige Eröffnung des Feldzugs ſicheres Gelingen;
faſt alle namhaften Generale der Coalition, Blücher und Gneiſenau, Wel-
lington, Toll und Diebitſch ſtimmten darin überein. Die Zögerung,
meinte Blücher, ſchafft Napoleon nur die Heere, die wir mit vielem Blute
bekämpfen müſſen. Nach Gneiſenaus Anſicht konnten am 1. Mai drei große
Armeen von je 200,000 Mann etwa am Ober-, Mittel- und Niederrhein
zum Einmarſch in Frankreich bereit ſtehen. Sein ſtaatsmänniſcher Blick ſah
voraus, was faſt alle Uebrigen für unmöglich hielten, daß der Imperator
die Offenſive ergreifen würde. Um ſo dringender rieth er den Alliirten
ihrerſeits mit dem Angriff zuvorzukommen. Rückten die drei Armeen
gleichzeitig gegen Paris vor und verſammelte ſich unterdeſſen in ihrem
Rücken die vierte Armee, die aus Rußland herankam, dann konnte Napo-
leon nur einer von ihnen eine ebenbürtige Macht entgegenſtellen; erlitt
das eine Heer durch die Feldherrnkunſt des Gegners einen Unfall, ſo
zog es ſich auf die große Reſervearmee zurück, die beiden anderen aber
blieben im Vorgehen auf Paris. Wieder wie vor’m Jahre bezeichnete
Gneiſenau die feindliche Hauptſtadt als das einzig mögliche Ziel des
Kampfes, während ſelbſt muthige Männer wie Humboldt bedenklich mein-
ten, die Geſchichte kenne keine Wiederholungen. Und wieder wie damals
warnte er vor jeder Zerſplitterung der Kräfte: mit dem Sturze Napo-
leons ſei alles Andere, auch das Schickſal Italiens von ſelbſt entſchieden.

In der Hofburg dagegen ward der italieniſche Kriegsſchauplatz als ſo
hochwichtig angeſehen, daß ſelbſt Radetzky erklärte: Oeſterreich müſſe die
Schweiz zum Mittelpunkte ſeiner Operationen wählen, um mit der ita-
lieniſchen Armee in Verbindung zu bleiben. Auf der Halbinſel begann
es zu gähren. Die Mailänder fingen ſchon an, die übereilte Revolution
des vergangenen Frühjahrs zu bereuen, murrten über die Herrſchaft des
bastone tedesco. Die phantaſtiſchen Manifeſte Murats, die von der
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[718/0734] II. 2. Belle Alliance. geſchlagen ward, beſtärkte die Höfe in der Ueberzeugung, daß jede Ver- handlung mit dem Bonapartismus unmöglich ſei. Deutſchland erſchien, was ſeit drei Jahrhunderten nicht mehr erlebt worden, ſchon beim Be- ginne des großen Krieges vollkommen einig. Offenen Verrath wagte Nie- mand mehr, obwohl ſich die böſe Geſinnung des Münchener und des Stuttgarter Hofes wieder in tauſend Zänkereien über das Verpflegungs- weſen bekundete. Aber die Nation ſollte ſchmerzlich genug erfahren, daß Einigkeit nicht Einheit iſt. Da der Deutſche Bund in dem Augenblicke der Kriegserklärung noch nicht beſtand, ſo konnten die deutſchen Staaten auch nur einzeln der Coalition beitreten; ſie erhielten im Rathe der großen Mächte keine Stimme und erprobten ſogleich, wie werthlos jenes Recht der ſelbſtändigen diplomatiſchen Vertretung war, das ſie als die ſchönſte Zierde ihrer Kronen betrachteten. Angeſichts der ungeheuren Ueberlegenheit der Streitkräfte der Ver- bündeten verhieß die alsbaldige Eröffnung des Feldzugs ſicheres Gelingen; faſt alle namhaften Generale der Coalition, Blücher und Gneiſenau, Wel- lington, Toll und Diebitſch ſtimmten darin überein. Die Zögerung, meinte Blücher, ſchafft Napoleon nur die Heere, die wir mit vielem Blute bekämpfen müſſen. Nach Gneiſenaus Anſicht konnten am 1. Mai drei große Armeen von je 200,000 Mann etwa am Ober-, Mittel- und Niederrhein zum Einmarſch in Frankreich bereit ſtehen. Sein ſtaatsmänniſcher Blick ſah voraus, was faſt alle Uebrigen für unmöglich hielten, daß der Imperator die Offenſive ergreifen würde. Um ſo dringender rieth er den Alliirten ihrerſeits mit dem Angriff zuvorzukommen. Rückten die drei Armeen gleichzeitig gegen Paris vor und verſammelte ſich unterdeſſen in ihrem Rücken die vierte Armee, die aus Rußland herankam, dann konnte Napo- leon nur einer von ihnen eine ebenbürtige Macht entgegenſtellen; erlitt das eine Heer durch die Feldherrnkunſt des Gegners einen Unfall, ſo zog es ſich auf die große Reſervearmee zurück, die beiden anderen aber blieben im Vorgehen auf Paris. Wieder wie vor’m Jahre bezeichnete Gneiſenau die feindliche Hauptſtadt als das einzig mögliche Ziel des Kampfes, während ſelbſt muthige Männer wie Humboldt bedenklich mein- ten, die Geſchichte kenne keine Wiederholungen. Und wieder wie damals warnte er vor jeder Zerſplitterung der Kräfte: mit dem Sturze Napo- leons ſei alles Andere, auch das Schickſal Italiens von ſelbſt entſchieden. In der Hofburg dagegen ward der italieniſche Kriegsſchauplatz als ſo hochwichtig angeſehen, daß ſelbſt Radetzky erklärte: Oeſterreich müſſe die Schweiz zum Mittelpunkte ſeiner Operationen wählen, um mit der ita- lieniſchen Armee in Verbindung zu bleiben. Auf der Halbinſel begann es zu gähren. Die Mailänder fingen ſchon an, die übereilte Revolution des vergangenen Frühjahrs zu bereuen, murrten über die Herrſchaft des bastone tedesco. Die phantaſtiſchen Manifeſte Murats, die von der Einheit Italiens redeten, machten doch einigen Eindruck; auch die natür-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 718. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/734>, abgerufen am 05.05.2024.