dem prahlerischen Schauspiele bei; aber Marie Luise kehrte nicht wieder in die Tuilerien zurück: die Treue der Oesterreicherin gehörte nur dem Glückskinde, nicht dem Gatten.
Auf Schritt und Tritt erfuhr der Imperator, daß er nur noch der Bandenführer einer großen Soldatenmeuterei, nicht mehr das allgefürch- tete Staatsoberhaupt war; Scham und Zorn übermannten seine stolze Seele, wenn er sich am Fenster zeigen mußte um die Huldigungen der Foederirten aus den Arbeitervierteln entgegenzunehmen. Auf Augen- blicke fragte er sich wohl, ob er nicht kurzab die rothe Mütze aufsetzen, die Führung der radicalen Parteien übernehmen, die Nationalgarde der Pariser Bourgeoisie auflösen und an ihrer Statt ein Volksheer aus den foederirten Arbeitermassen bilden solle. Aber der Abscheu wider die Jaco- biner überwog. Napoleon konnte nicht lassen von den alten despotischen Gewohnheiten, verfolgte seine Gegner durch Proscriptionslisten, errichtete wieder eine zweifache geheime Polizei, deren Agenten einander wechsel- seitig bewachten. Und trotz der Zusatzacte, trotz seiner liberalen Betheue- rungen, trotz seiner ablehnenden Haltung gegen die Jacobiner erwarb er sich doch nicht das Vertrauen der Bourgeoisie. Wohl schloß sich der leichtgläubige Doctrinär Benjamin Constant dem bekehrten Despoten an, und das Organ der Constitutionellen, Dunoyers Censeur pries die Zu- satzacte als die Vollendung der französischen Freiheit -- eine wundersame Selbsttäuschung, die nachher durch Jahrzehnte das Schlagwort der Oppo- sition geblieben ist. Aber die Masse der Constitutionellen verharrte in ihrem Mißtrauen; sie hoffte insgeheim auf den schlauen Ludwig Philipp von Orleans, der schon seit Langem stillgeschäftig nach der Bürgerkrone Frankreichs seine Netze auswarf. Als die Abgeordneten im Juni zusam- mentraten, wurde ein Gegner Napoleons, der Mann des Convents Lan- juinais zum Präsidenten erwählt; mit rücksichtsloser Heftigkeit traten die radicalen Parteiführer dem Kaiser entgegen.
Das Aergste blieb doch, daß Napoleon, um die Scheu der Bourgeois vor dem Kriege zu beschwichtigen, eine erheuchelte Zuversicht auf den Be- stand des Friedens zeigen mußte. Nichts lag ihm in jenem Augenblicke ferner als der Wunsch nach Krieg: erst wenn die große Armee des Kaiser- reichs wiederhergestellt war, durfte der Streit um die unveräußerlichen alten Grenzen von Neuem beginnen. Wiederholt versicherte er den europäischen Höfen, daß sich in Frankreich Nichts verändert habe, daß er auf alle Pläne kriegerischer Größe verzichte und nur noch einen Kampf anerkenne, den heiligen Kampf um das Glück der Völker. Niemand glaubte ihm. Unaufhaltsam rüstete sich das alte Europa zur Vernichtung des Usurpators, und doch mußte er noch eine Weile den Schein bewahren, als ob sein Kaiserthum ein Reich des Friedens sei. Nach drei Wochen erst wagte er die Vermehrung des Heeres zu befehlen: die Armee, die er 115,000 Mann stark vorgefunden, wuchs bis Anfang Juni nur auf 198,000
II. 2. Belle Alliance.
dem prahleriſchen Schauſpiele bei; aber Marie Luiſe kehrte nicht wieder in die Tuilerien zurück: die Treue der Oeſterreicherin gehörte nur dem Glückskinde, nicht dem Gatten.
Auf Schritt und Tritt erfuhr der Imperator, daß er nur noch der Bandenführer einer großen Soldatenmeuterei, nicht mehr das allgefürch- tete Staatsoberhaupt war; Scham und Zorn übermannten ſeine ſtolze Seele, wenn er ſich am Fenſter zeigen mußte um die Huldigungen der Foederirten aus den Arbeitervierteln entgegenzunehmen. Auf Augen- blicke fragte er ſich wohl, ob er nicht kurzab die rothe Mütze aufſetzen, die Führung der radicalen Parteien übernehmen, die Nationalgarde der Pariſer Bourgeoiſie auflöſen und an ihrer Statt ein Volksheer aus den foederirten Arbeitermaſſen bilden ſolle. Aber der Abſcheu wider die Jaco- biner überwog. Napoleon konnte nicht laſſen von den alten despotiſchen Gewohnheiten, verfolgte ſeine Gegner durch Proſcriptionsliſten, errichtete wieder eine zweifache geheime Polizei, deren Agenten einander wechſel- ſeitig bewachten. Und trotz der Zuſatzacte, trotz ſeiner liberalen Betheue- rungen, trotz ſeiner ablehnenden Haltung gegen die Jacobiner erwarb er ſich doch nicht das Vertrauen der Bourgeoiſie. Wohl ſchloß ſich der leichtgläubige Doctrinär Benjamin Conſtant dem bekehrten Despoten an, und das Organ der Conſtitutionellen, Dunoyers Cenſeur pries die Zu- ſatzacte als die Vollendung der franzöſiſchen Freiheit — eine wunderſame Selbſttäuſchung, die nachher durch Jahrzehnte das Schlagwort der Oppo- ſition geblieben iſt. Aber die Maſſe der Conſtitutionellen verharrte in ihrem Mißtrauen; ſie hoffte insgeheim auf den ſchlauen Ludwig Philipp von Orleans, der ſchon ſeit Langem ſtillgeſchäftig nach der Bürgerkrone Frankreichs ſeine Netze auswarf. Als die Abgeordneten im Juni zuſam- mentraten, wurde ein Gegner Napoleons, der Mann des Convents Lan- juinais zum Präſidenten erwählt; mit rückſichtsloſer Heftigkeit traten die radicalen Parteiführer dem Kaiſer entgegen.
Das Aergſte blieb doch, daß Napoleon, um die Scheu der Bourgeois vor dem Kriege zu beſchwichtigen, eine erheuchelte Zuverſicht auf den Be- ſtand des Friedens zeigen mußte. Nichts lag ihm in jenem Augenblicke ferner als der Wunſch nach Krieg: erſt wenn die große Armee des Kaiſer- reichs wiederhergeſtellt war, durfte der Streit um die unveräußerlichen alten Grenzen von Neuem beginnen. Wiederholt verſicherte er den europäiſchen Höfen, daß ſich in Frankreich Nichts verändert habe, daß er auf alle Pläne kriegeriſcher Größe verzichte und nur noch einen Kampf anerkenne, den heiligen Kampf um das Glück der Völker. Niemand glaubte ihm. Unaufhaltſam rüſtete ſich das alte Europa zur Vernichtung des Uſurpators, und doch mußte er noch eine Weile den Schein bewahren, als ob ſein Kaiſerthum ein Reich des Friedens ſei. Nach drei Wochen erſt wagte er die Vermehrung des Heeres zu befehlen: die Armee, die er 115,000 Mann ſtark vorgefunden, wuchs bis Anfang Juni nur auf 198,000
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II. 2. Belle Alliance.
dem prahleriſchen Schauſpiele bei; aber Marie Luiſe kehrte nicht wieder
in die Tuilerien zurück: die Treue der Oeſterreicherin gehörte nur dem
Glückskinde, nicht dem Gatten.
Auf Schritt und Tritt erfuhr der Imperator, daß er nur noch der
Bandenführer einer großen Soldatenmeuterei, nicht mehr das allgefürch-
tete Staatsoberhaupt war; Scham und Zorn übermannten ſeine ſtolze
Seele, wenn er ſich am Fenſter zeigen mußte um die Huldigungen der
Foederirten aus den Arbeitervierteln entgegenzunehmen. Auf Augen-
blicke fragte er ſich wohl, ob er nicht kurzab die rothe Mütze aufſetzen,
die Führung der radicalen Parteien übernehmen, die Nationalgarde der
Pariſer Bourgeoiſie auflöſen und an ihrer Statt ein Volksheer aus den
foederirten Arbeitermaſſen bilden ſolle. Aber der Abſcheu wider die Jaco-
biner überwog. Napoleon konnte nicht laſſen von den alten despotiſchen
Gewohnheiten, verfolgte ſeine Gegner durch Proſcriptionsliſten, errichtete
wieder eine zweifache geheime Polizei, deren Agenten einander wechſel-
ſeitig bewachten. Und trotz der Zuſatzacte, trotz ſeiner liberalen Betheue-
rungen, trotz ſeiner ablehnenden Haltung gegen die Jacobiner erwarb
er ſich doch nicht das Vertrauen der Bourgeoiſie. Wohl ſchloß ſich der
leichtgläubige Doctrinär Benjamin Conſtant dem bekehrten Despoten an,
und das Organ der Conſtitutionellen, Dunoyers Cenſeur pries die Zu-
ſatzacte als die Vollendung der franzöſiſchen Freiheit — eine wunderſame
Selbſttäuſchung, die nachher durch Jahrzehnte das Schlagwort der Oppo-
ſition geblieben iſt. Aber die Maſſe der Conſtitutionellen verharrte in
ihrem Mißtrauen; ſie hoffte insgeheim auf den ſchlauen Ludwig Philipp
von Orleans, der ſchon ſeit Langem ſtillgeſchäftig nach der Bürgerkrone
Frankreichs ſeine Netze auswarf. Als die Abgeordneten im Juni zuſam-
mentraten, wurde ein Gegner Napoleons, der Mann des Convents Lan-
juinais zum Präſidenten erwählt; mit rückſichtsloſer Heftigkeit traten die
radicalen Parteiführer dem Kaiſer entgegen.
Das Aergſte blieb doch, daß Napoleon, um die Scheu der Bourgeois
vor dem Kriege zu beſchwichtigen, eine erheuchelte Zuverſicht auf den Be-
ſtand des Friedens zeigen mußte. Nichts lag ihm in jenem Augenblicke
ferner als der Wunſch nach Krieg: erſt wenn die große Armee des Kaiſer-
reichs wiederhergeſtellt war, durfte der Streit um die unveräußerlichen
alten Grenzen von Neuem beginnen. Wiederholt verſicherte er den
europäiſchen Höfen, daß ſich in Frankreich Nichts verändert habe, daß er
auf alle Pläne kriegeriſcher Größe verzichte und nur noch einen Kampf
anerkenne, den heiligen Kampf um das Glück der Völker. Niemand
glaubte ihm. Unaufhaltſam rüſtete ſich das alte Europa zur Vernichtung
des Uſurpators, und doch mußte er noch eine Weile den Schein bewahren,
als ob ſein Kaiſerthum ein Reich des Friedens ſei. Nach drei Wochen
erſt wagte er die Vermehrung des Heeres zu befehlen: die Armee, die er
115,000 Mann ſtark vorgefunden, wuchs bis Anfang Juni nur auf 198,000
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 712. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/728>, abgerufen am 22.11.2024.
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