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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
Noten, Vorbehalten und Bedenken an, daß jede Möglichkeit einer Ver-
ständigung aufhörte. Verstimmt ging man auseinander. Hardenberg und
Humboldt richteten Tags darauf in voller Verzweiflung an Metternich und
Münster eine Note*), worin sie aussprachen: bei der Kürze der Zeit und
nach den Erlebnissen der jüngsten Sitzung scheine die Fortsetzung einer
wirklichen Discussion unmöglich; die Ansichten gingen zu weit auseinan-
der, auch dürften Oesterreich, Preußen und Hannover -- die also in den
Augen der preußischen Staatsmänner noch immer als treue Gesinnungs-
genossen erschienen -- sich nicht in eine schiefe Stellung bringen, sich
nicht zwingen lassen um des lieben Friedens willen für die Schwächung
der Bundesgewalt zu stimmen. "Die Unterzeichneten sind bei allen Vor-
berathungen durchaus der Meinung S. F. Gnaden des Herrn Fürsten
von Metternich beigepflichtet, daß dasjenige, was die früheren Entwürfe
hierüber enthielten, nur der Nothwendigkeit den Bund jetzt und hier
wirklich zu schließen aufgeopfert werden könne; und sie gestehen frei, daß
sie einzig und allein aus diesem Grunde, einzig und allein um nicht jede
Vereinigung der Fürsten Deutschlands zu hindern oder aufzuschieben,
aber übrigens mit sehr schmerzlichen Gefühlen einen Entwurf mit vor-
gelegt haben, von dem sie nur zu sehr empfinden, wie wenig er dem
wichtigen Zwecke entspricht, den man sich unmittelbar nach der Befreiung
Deutschlands und noch bei dem Anfange des Congresses vorgesetzt hatte,
und wie ungünstig dies auch auf die allgemeine Stimmung einwirken
wird. Sollte dieser Entwurf durch eine Discussion, für welche der jetzige
Augenblick, in dem die schnelle allgemeine Uebereinkunft der vorherrschende
Gesichtspunkt ist, immer ungünstig bleibt, noch mehr geschwächt werden,
so ist kaum der mindeste günstige Erfolg der Verhandlungen in Frank-
furt abzusehen." Daher verlangt Preußen ein Ultimatum der drei Groß-
mächte an die deutschen Staaten; die drei Höfe nehmen sogleich an dem
Entwurfe die Abänderungen vor, welche nach dem Verlaufe der letzten
Conferenz unumgänglich scheinen, und erklären in der nächsten Sitzung:
weitere Aenderungen sind unzulässig, wir schließen den Bund ab mit
allen den Fürsten, welche diese Vorlage annehmen, über Einzelheiten
mag dann der Frankfurter Bundestag entscheiden. Die Beiden schlossen:
verfahre man also, dann würden die meisten Staaten sofort beitreten,
einige erst etwas später sobald sie sich überzeugten, daß der Bund auch
ohne sie zu Stande gekommen sei.

Also doch endlich wieder ein rasches kühnes Ergreifen des Moments,
nach der alten stolzen fridericianischen Weise! Wenn Oesterreich und Eng-
land-Hannover den preußischen Antrag annahmen, so war der Erfolg
sicher, so wurden das Bundesgericht, die schärfere Fassung des Artikels
über die Landstände und alles Gute, was Preußen sonst noch in den

*) Hardenberg und Humboldt an Metternich und Münster, 27. Mai 1815.

II. 1. Der Wiener Congreß.
Noten, Vorbehalten und Bedenken an, daß jede Möglichkeit einer Ver-
ſtändigung aufhörte. Verſtimmt ging man auseinander. Hardenberg und
Humboldt richteten Tags darauf in voller Verzweiflung an Metternich und
Münſter eine Note*), worin ſie ausſprachen: bei der Kürze der Zeit und
nach den Erlebniſſen der jüngſten Sitzung ſcheine die Fortſetzung einer
wirklichen Discuſſion unmöglich; die Anſichten gingen zu weit auseinan-
der, auch dürften Oeſterreich, Preußen und Hannover — die alſo in den
Augen der preußiſchen Staatsmänner noch immer als treue Geſinnungs-
genoſſen erſchienen — ſich nicht in eine ſchiefe Stellung bringen, ſich
nicht zwingen laſſen um des lieben Friedens willen für die Schwächung
der Bundesgewalt zu ſtimmen. „Die Unterzeichneten ſind bei allen Vor-
berathungen durchaus der Meinung S. F. Gnaden des Herrn Fürſten
von Metternich beigepflichtet, daß dasjenige, was die früheren Entwürfe
hierüber enthielten, nur der Nothwendigkeit den Bund jetzt und hier
wirklich zu ſchließen aufgeopfert werden könne; und ſie geſtehen frei, daß
ſie einzig und allein aus dieſem Grunde, einzig und allein um nicht jede
Vereinigung der Fürſten Deutſchlands zu hindern oder aufzuſchieben,
aber übrigens mit ſehr ſchmerzlichen Gefühlen einen Entwurf mit vor-
gelegt haben, von dem ſie nur zu ſehr empfinden, wie wenig er dem
wichtigen Zwecke entſpricht, den man ſich unmittelbar nach der Befreiung
Deutſchlands und noch bei dem Anfange des Congreſſes vorgeſetzt hatte,
und wie ungünſtig dies auch auf die allgemeine Stimmung einwirken
wird. Sollte dieſer Entwurf durch eine Discuſſion, für welche der jetzige
Augenblick, in dem die ſchnelle allgemeine Uebereinkunft der vorherrſchende
Geſichtspunkt iſt, immer ungünſtig bleibt, noch mehr geſchwächt werden,
ſo iſt kaum der mindeſte günſtige Erfolg der Verhandlungen in Frank-
furt abzuſehen.“ Daher verlangt Preußen ein Ultimatum der drei Groß-
mächte an die deutſchen Staaten; die drei Höfe nehmen ſogleich an dem
Entwurfe die Abänderungen vor, welche nach dem Verlaufe der letzten
Conferenz unumgänglich ſcheinen, und erklären in der nächſten Sitzung:
weitere Aenderungen ſind unzuläſſig, wir ſchließen den Bund ab mit
allen den Fürſten, welche dieſe Vorlage annehmen, über Einzelheiten
mag dann der Frankfurter Bundestag entſcheiden. Die Beiden ſchloſſen:
verfahre man alſo, dann würden die meiſten Staaten ſofort beitreten,
einige erſt etwas ſpäter ſobald ſie ſich überzeugten, daß der Bund auch
ohne ſie zu Stande gekommen ſei.

Alſo doch endlich wieder ein raſches kühnes Ergreifen des Moments,
nach der alten ſtolzen fridericianiſchen Weiſe! Wenn Oeſterreich und Eng-
land-Hannover den preußiſchen Antrag annahmen, ſo war der Erfolg
ſicher, ſo wurden das Bundesgericht, die ſchärfere Faſſung des Artikels
über die Landſtände und alles Gute, was Preußen ſonſt noch in den

*) Hardenberg und Humboldt an Metternich und Münſter, 27. Mai 1815.
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[698/0714] II. 1. Der Wiener Congreß. Noten, Vorbehalten und Bedenken an, daß jede Möglichkeit einer Ver- ſtändigung aufhörte. Verſtimmt ging man auseinander. Hardenberg und Humboldt richteten Tags darauf in voller Verzweiflung an Metternich und Münſter eine Note *), worin ſie ausſprachen: bei der Kürze der Zeit und nach den Erlebniſſen der jüngſten Sitzung ſcheine die Fortſetzung einer wirklichen Discuſſion unmöglich; die Anſichten gingen zu weit auseinan- der, auch dürften Oeſterreich, Preußen und Hannover — die alſo in den Augen der preußiſchen Staatsmänner noch immer als treue Geſinnungs- genoſſen erſchienen — ſich nicht in eine ſchiefe Stellung bringen, ſich nicht zwingen laſſen um des lieben Friedens willen für die Schwächung der Bundesgewalt zu ſtimmen. „Die Unterzeichneten ſind bei allen Vor- berathungen durchaus der Meinung S. F. Gnaden des Herrn Fürſten von Metternich beigepflichtet, daß dasjenige, was die früheren Entwürfe hierüber enthielten, nur der Nothwendigkeit den Bund jetzt und hier wirklich zu ſchließen aufgeopfert werden könne; und ſie geſtehen frei, daß ſie einzig und allein aus dieſem Grunde, einzig und allein um nicht jede Vereinigung der Fürſten Deutſchlands zu hindern oder aufzuſchieben, aber übrigens mit ſehr ſchmerzlichen Gefühlen einen Entwurf mit vor- gelegt haben, von dem ſie nur zu ſehr empfinden, wie wenig er dem wichtigen Zwecke entſpricht, den man ſich unmittelbar nach der Befreiung Deutſchlands und noch bei dem Anfange des Congreſſes vorgeſetzt hatte, und wie ungünſtig dies auch auf die allgemeine Stimmung einwirken wird. Sollte dieſer Entwurf durch eine Discuſſion, für welche der jetzige Augenblick, in dem die ſchnelle allgemeine Uebereinkunft der vorherrſchende Geſichtspunkt iſt, immer ungünſtig bleibt, noch mehr geſchwächt werden, ſo iſt kaum der mindeſte günſtige Erfolg der Verhandlungen in Frank- furt abzuſehen.“ Daher verlangt Preußen ein Ultimatum der drei Groß- mächte an die deutſchen Staaten; die drei Höfe nehmen ſogleich an dem Entwurfe die Abänderungen vor, welche nach dem Verlaufe der letzten Conferenz unumgänglich ſcheinen, und erklären in der nächſten Sitzung: weitere Aenderungen ſind unzuläſſig, wir ſchließen den Bund ab mit allen den Fürſten, welche dieſe Vorlage annehmen, über Einzelheiten mag dann der Frankfurter Bundestag entſcheiden. Die Beiden ſchloſſen: verfahre man alſo, dann würden die meiſten Staaten ſofort beitreten, einige erſt etwas ſpäter ſobald ſie ſich überzeugten, daß der Bund auch ohne ſie zu Stande gekommen ſei. Alſo doch endlich wieder ein raſches kühnes Ergreifen des Moments, nach der alten ſtolzen fridericianiſchen Weiſe! Wenn Oeſterreich und Eng- land-Hannover den preußiſchen Antrag annahmen, ſo war der Erfolg ſicher, ſo wurden das Bundesgericht, die ſchärfere Faſſung des Artikels über die Landſtände und alles Gute, was Preußen ſonſt noch in den *) Hardenberg und Humboldt an Metternich und Münſter, 27. Mai 1815.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 698. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/714>, abgerufen am 25.11.2024.