derte höhere Rechte für die Mediatisirten und die Reichsritter, aber auch ein reicheres Maß von Volksrechten, namentlich die Aufhebung der Leib- eigenschaft und des Dienstzwanges sowie die Ablösung der Frohnden in ganz Deutschland. Ernstlichen Anstoß nahm Stein allein daran, daß Hum- boldt, aus Rücksicht auf Oesterreich, die Bestimmungen über die Landtage abgeschwächt und den Landständen nur noch eine berathende Stimme ein- geräumt hatte. "Das ist ein Riesenschritt rückwärts, erwiderte der Frei- herr. Preußen hat unter allen Ländern am Wenigsten Ursache ihn zu thun und zu veranlassen. In diesem Staate vereinigen sich alle Elemente, die eine ruhige, verständige Bewegung kräftig organisirter Landstände ver- bürgen: Nationalität, Gewohnheit und erprobte Bereitwilligkeit Abgaben zu leisten, Opfer zu bringen, Besonnenheit und gesunder Menschenver- stand, allgemeine Bildung. Oesterreich kann aus vielen Gründen nicht gleiche Grundsätze aussprechen, wegen der Fremdartigkeit seiner Bestand- theile, dem niederen Zustande seiner allgemeinen Bildung, den Maximen seiner Regierung und Regenten, und es mag aus diesen Gründen eine Ausnahme machen. Man überlasse es ihm sich auszusprechen."*) Also sah sich selbst dieser feurige Parteigänger des lothringischen Kaiserthums genöthigt eine Ausnahmestellung für Oesterreich zu fordern sobald auf die praktischen Folgen des bündischen Lebens die Rede kam.
Alle die saueren Mühen dieser Decemberwochen blieben für jetzt verlorene Arbeit. Denn mittlerweile verschärfte sich der Streit um die sächsisch-polnische Frage, die drohende Kriegsgefahr nahm Aller Gedanken in Anspruch, und während der ersten Hälfte des Januars rückte das deutsche Verfassungswerk keinen Schritt von der Stelle. Sobald die Luft etwas reiner ward, kehrte Humboldt sofort wieder zu seinem Schmerzens- kinde zurück. Er hatte inzwischen mit dem wohlmeinenden Weimarischen Minister von Gersdorff viel verkehrt, die Wünsche der Kleinstaaten näher kennen gelernt und die Ueberzeugung gewonnen, daß sich seit der Auf- lösung des Reichs an den deutschen Höfen ein ungeheurer Dünkel, mit dem man rechnen mußte, gebildet hatte. Jene Abstufungen des Ranges und des Rechtes, die in der alten Reichsverfassung bestanden, waren vergessen; die neuen Souveräne fühlten sich einander schlechthin gleich. Sollte die Bundesacte überhaupt zu Stande kommen, so durfte den Kleinstaaten keine allzu auffällige formelle Unterordnung unter die grö- ßeren Genossen zugemuthet werden; denn, meinte Gersdorff mit jener kindlichen Unschuld, die von jeher das Vorrecht unserer kleinstaatlichen Diplomaten war: "man liebt den Schein der Freiheit selbst wenn man ihr Wesen nicht zu besitzen vermag."**) Zudem fiel jeder Grund für die Bildung eines Kreisoberstenrathes hinweg, wenn man die Kreiseintheilung
*) Steins Bemerkungen zu dem Entwurfe, ohne Kreise 26. u. 29. Decbr. 1814.
**) Gersdorff an Humboldt, 6. December 1814.
II. 1. Der Wiener Congreß.
derte höhere Rechte für die Mediatiſirten und die Reichsritter, aber auch ein reicheres Maß von Volksrechten, namentlich die Aufhebung der Leib- eigenſchaft und des Dienſtzwanges ſowie die Ablöſung der Frohnden in ganz Deutſchland. Ernſtlichen Anſtoß nahm Stein allein daran, daß Hum- boldt, aus Rückſicht auf Oeſterreich, die Beſtimmungen über die Landtage abgeſchwächt und den Landſtänden nur noch eine berathende Stimme ein- geräumt hatte. „Das iſt ein Rieſenſchritt rückwärts, erwiderte der Frei- herr. Preußen hat unter allen Ländern am Wenigſten Urſache ihn zu thun und zu veranlaſſen. In dieſem Staate vereinigen ſich alle Elemente, die eine ruhige, verſtändige Bewegung kräftig organiſirter Landſtände ver- bürgen: Nationalität, Gewohnheit und erprobte Bereitwilligkeit Abgaben zu leiſten, Opfer zu bringen, Beſonnenheit und geſunder Menſchenver- ſtand, allgemeine Bildung. Oeſterreich kann aus vielen Gründen nicht gleiche Grundſätze ausſprechen, wegen der Fremdartigkeit ſeiner Beſtand- theile, dem niederen Zuſtande ſeiner allgemeinen Bildung, den Maximen ſeiner Regierung und Regenten, und es mag aus dieſen Gründen eine Ausnahme machen. Man überlaſſe es ihm ſich auszuſprechen.“*) Alſo ſah ſich ſelbſt dieſer feurige Parteigänger des lothringiſchen Kaiſerthums genöthigt eine Ausnahmeſtellung für Oeſterreich zu fordern ſobald auf die praktiſchen Folgen des bündiſchen Lebens die Rede kam.
Alle die ſaueren Mühen dieſer Decemberwochen blieben für jetzt verlorene Arbeit. Denn mittlerweile verſchärfte ſich der Streit um die ſächſiſch-polniſche Frage, die drohende Kriegsgefahr nahm Aller Gedanken in Anſpruch, und während der erſten Hälfte des Januars rückte das deutſche Verfaſſungswerk keinen Schritt von der Stelle. Sobald die Luft etwas reiner ward, kehrte Humboldt ſofort wieder zu ſeinem Schmerzens- kinde zurück. Er hatte inzwiſchen mit dem wohlmeinenden Weimariſchen Miniſter von Gersdorff viel verkehrt, die Wünſche der Kleinſtaaten näher kennen gelernt und die Ueberzeugung gewonnen, daß ſich ſeit der Auf- löſung des Reichs an den deutſchen Höfen ein ungeheurer Dünkel, mit dem man rechnen mußte, gebildet hatte. Jene Abſtufungen des Ranges und des Rechtes, die in der alten Reichsverfaſſung beſtanden, waren vergeſſen; die neuen Souveräne fühlten ſich einander ſchlechthin gleich. Sollte die Bundesacte überhaupt zu Stande kommen, ſo durfte den Kleinſtaaten keine allzu auffällige formelle Unterordnung unter die grö- ßeren Genoſſen zugemuthet werden; denn, meinte Gersdorff mit jener kindlichen Unſchuld, die von jeher das Vorrecht unſerer kleinſtaatlichen Diplomaten war: „man liebt den Schein der Freiheit ſelbſt wenn man ihr Weſen nicht zu beſitzen vermag.“**) Zudem fiel jeder Grund für die Bildung eines Kreisoberſtenrathes hinweg, wenn man die Kreiseintheilung
*) Steins Bemerkungen zu dem Entwurfe, ohne Kreiſe 26. u. 29. Decbr. 1814.
**) Gersdorff an Humboldt, 6. December 1814.
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ein reicheres Maß von Volksrechten, namentlich die Aufhebung der Leib-
eigenſchaft und des Dienſtzwanges ſowie die Ablöſung der Frohnden in
ganz Deutſchland. Ernſtlichen Anſtoß nahm Stein allein daran, daß Hum-
boldt, aus Rückſicht auf Oeſterreich, die Beſtimmungen über die Landtage
abgeſchwächt und den Landſtänden nur noch eine berathende Stimme ein-
geräumt hatte. „Das iſt ein Rieſenſchritt rückwärts, erwiderte der Frei-
herr. Preußen hat unter allen Ländern am Wenigſten Urſache ihn zu
thun und zu veranlaſſen. In dieſem Staate vereinigen ſich alle Elemente,
die eine ruhige, verſtändige Bewegung kräftig organiſirter Landſtände ver-
bürgen: Nationalität, Gewohnheit und erprobte Bereitwilligkeit Abgaben
zu leiſten, Opfer zu bringen, Beſonnenheit und geſunder Menſchenver-
ſtand, allgemeine Bildung. Oeſterreich kann aus vielen Gründen nicht
gleiche Grundſätze ausſprechen, wegen der Fremdartigkeit ſeiner Beſtand-
theile, dem niederen Zuſtande ſeiner allgemeinen Bildung, den Maximen
ſeiner Regierung und Regenten, und es mag aus dieſen Gründen eine
Ausnahme machen. Man überlaſſe es ihm ſich auszuſprechen.“ *) Alſo
ſah ſich ſelbſt dieſer feurige Parteigänger des lothringiſchen Kaiſerthums
genöthigt eine Ausnahmeſtellung für Oeſterreich zu fordern ſobald auf
die praktiſchen Folgen des bündiſchen Lebens die Rede kam.
Alle die ſaueren Mühen dieſer Decemberwochen blieben für jetzt
verlorene Arbeit. Denn mittlerweile verſchärfte ſich der Streit um die
ſächſiſch-polniſche Frage, die drohende Kriegsgefahr nahm Aller Gedanken
in Anſpruch, und während der erſten Hälfte des Januars rückte das
deutſche Verfaſſungswerk keinen Schritt von der Stelle. Sobald die Luft
etwas reiner ward, kehrte Humboldt ſofort wieder zu ſeinem Schmerzens-
kinde zurück. Er hatte inzwiſchen mit dem wohlmeinenden Weimariſchen
Miniſter von Gersdorff viel verkehrt, die Wünſche der Kleinſtaaten näher
kennen gelernt und die Ueberzeugung gewonnen, daß ſich ſeit der Auf-
löſung des Reichs an den deutſchen Höfen ein ungeheurer Dünkel, mit
dem man rechnen mußte, gebildet hatte. Jene Abſtufungen des Ranges
und des Rechtes, die in der alten Reichsverfaſſung beſtanden, waren
vergeſſen; die neuen Souveräne fühlten ſich einander ſchlechthin gleich.
Sollte die Bundesacte überhaupt zu Stande kommen, ſo durfte den
Kleinſtaaten keine allzu auffällige formelle Unterordnung unter die grö-
ßeren Genoſſen zugemuthet werden; denn, meinte Gersdorff mit jener
kindlichen Unſchuld, die von jeher das Vorrecht unſerer kleinſtaatlichen
Diplomaten war: „man liebt den Schein der Freiheit ſelbſt wenn man
ihr Weſen nicht zu beſitzen vermag.“ **) Zudem fiel jeder Grund für die
Bildung eines Kreisoberſtenrathes hinweg, wenn man die Kreiseintheilung
*) Steins Bemerkungen zu dem Entwurfe, ohne Kreiſe 26. u. 29. Decbr. 1814.
**) Gersdorff an Humboldt, 6. December 1814.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 690. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/706>, abgerufen am 16.02.2025.
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