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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
scharf und sicher einen Aufsatz: Was wird uns die Zukunft bringen?*)
und erwies, wie für jetzt doch nur ein ganz loser Bund ohne Haupt zu
Stande komme; das alte Reich sei todt für immer, alle Hoffnungen der
Nation beruhten fortan auf Preußens innerer Entwicklung. Möge dieser
Staat sich innerlich kräftigen, dann werde er stark genug sein um der-
einst die undeutschen Mächte Oesterreich und England aus unserem Lande
hinauszuschlagen, die Mittelstaaten, Napoleons Gebilde, zu zertrümmern
und die gesammte Nation unter seiner Krone zu vereinigen. So die Ge-
danken eines deutschen Soldaten im Mai 1815. Sie blieben den Zeitge-
nossen verborgen wie jene Schrift Fichtes aus dem Sommer 1813; viel-
leicht daß einmal Karl August auf die Abhandlung seines jungen Adjutanten
einen Blick geworfen und darin einen Anklang an die Fürstenbunds-
träume seiner eigenen Jugend erkannt hat. Wie unheimlich erscheint
doch die schwerflüssige Langsamkeit der nationalen Entwicklung neben den
raschen Gedanken der kurzlebigen Einzelmenschen! Vor hundertundfünfzig
Jahren gerade hatte Pufendorf die Bildung des Deutschen Bundes vor-
ausgesagt; jetzt endlich ward das Seherwort zur Wahrheit. Und wie viele
Jahrzehnte voll Sorge, Schmach und Arbeit sollten abermals vergehen,
bis sich erfüllte was dieser neue namenlose Prophet, allein unter allen
Zeitgenossen, vorher sah: die Losreißung von Oesterreich und die Einheit
Deutschlands unter Preußens Krone!

Eine so verworrene öffentliche Meinung konnte den Cabinetten nicht
die Richtung auf bestimmte Ziele geben; sie bewirkte nur das Eine, daß
eine deutsche Bundesverfassung überhaupt zu Stande kam. Die öster-
reichischen Staatsmänner hatten noch in Teplitz beabsichtigt, die deutschen
Souveräne wie die italienischen lediglich durch eine Defensiv-Allianz mit
der Hofburg zu verbinden. Aber schon während des Krieges war Metter-
nich zu der Einsicht gelangt, daß Angesichts der hochgespannten Erwar-
tungen der deutschen Nation irgend eine festere Form bündischer Verfas-
sung gewährt werden müsse. Deshalb, aus Furcht vor der Revolution,
gab er in Chaumont dem Drängen Hardenbergs nach und bewilligte die
Zusage "eines foederativen Bandes" für die deutschen Staaten. Auch
darin zeigte sich die Erstarkung des neuen Deutschlands, daß keine der
fremden Mächte in Wien den Anspruch erhob unmittelbar in die deutschen
Verfassungshändel einzugreifen. Für diese Arbeit, die ihm die heiligste
aller irdischen Angelegenheiten blieb, setzte Stein die ganze Wucht seines
heroischen Willens ein. Mit heiligem Entsetzen sahen die kleinen Fürsten
und Minister auf den unzähmbaren Mann, wie er einmal, die mächtigen
Augen funkelnd, die Nase kreideweiß vor Zorn, dem bairischen Kronprinzen
die geballte Faust vor das Gesicht hielt. Doch was vermochte alle Leiden-

*) Als Manuscript gedruckt Weimar 1867 u. d. T.: Aus den Papieren eines
Verstorbenen.

II. 1. Der Wiener Congreß.
ſcharf und ſicher einen Aufſatz: Was wird uns die Zukunft bringen?*)
und erwies, wie für jetzt doch nur ein ganz loſer Bund ohne Haupt zu
Stande komme; das alte Reich ſei todt für immer, alle Hoffnungen der
Nation beruhten fortan auf Preußens innerer Entwicklung. Möge dieſer
Staat ſich innerlich kräftigen, dann werde er ſtark genug ſein um der-
einſt die undeutſchen Mächte Oeſterreich und England aus unſerem Lande
hinauszuſchlagen, die Mittelſtaaten, Napoleons Gebilde, zu zertrümmern
und die geſammte Nation unter ſeiner Krone zu vereinigen. So die Ge-
danken eines deutſchen Soldaten im Mai 1815. Sie blieben den Zeitge-
noſſen verborgen wie jene Schrift Fichtes aus dem Sommer 1813; viel-
leicht daß einmal Karl Auguſt auf die Abhandlung ſeines jungen Adjutanten
einen Blick geworfen und darin einen Anklang an die Fürſtenbunds-
träume ſeiner eigenen Jugend erkannt hat. Wie unheimlich erſcheint
doch die ſchwerflüſſige Langſamkeit der nationalen Entwicklung neben den
raſchen Gedanken der kurzlebigen Einzelmenſchen! Vor hundertundfünfzig
Jahren gerade hatte Pufendorf die Bildung des Deutſchen Bundes vor-
ausgeſagt; jetzt endlich ward das Seherwort zur Wahrheit. Und wie viele
Jahrzehnte voll Sorge, Schmach und Arbeit ſollten abermals vergehen,
bis ſich erfüllte was dieſer neue namenloſe Prophet, allein unter allen
Zeitgenoſſen, vorher ſah: die Losreißung von Oeſterreich und die Einheit
Deutſchlands unter Preußens Krone!

Eine ſo verworrene öffentliche Meinung konnte den Cabinetten nicht
die Richtung auf beſtimmte Ziele geben; ſie bewirkte nur das Eine, daß
eine deutſche Bundesverfaſſung überhaupt zu Stande kam. Die öſter-
reichiſchen Staatsmänner hatten noch in Teplitz beabſichtigt, die deutſchen
Souveräne wie die italieniſchen lediglich durch eine Defenſiv-Allianz mit
der Hofburg zu verbinden. Aber ſchon während des Krieges war Metter-
nich zu der Einſicht gelangt, daß Angeſichts der hochgeſpannten Erwar-
tungen der deutſchen Nation irgend eine feſtere Form bündiſcher Verfaſ-
ſung gewährt werden müſſe. Deshalb, aus Furcht vor der Revolution,
gab er in Chaumont dem Drängen Hardenbergs nach und bewilligte die
Zuſage „eines foederativen Bandes“ für die deutſchen Staaten. Auch
darin zeigte ſich die Erſtarkung des neuen Deutſchlands, daß keine der
fremden Mächte in Wien den Anſpruch erhob unmittelbar in die deutſchen
Verfaſſungshändel einzugreifen. Für dieſe Arbeit, die ihm die heiligſte
aller irdiſchen Angelegenheiten blieb, ſetzte Stein die ganze Wucht ſeines
heroiſchen Willens ein. Mit heiligem Entſetzen ſahen die kleinen Fürſten
und Miniſter auf den unzähmbaren Mann, wie er einmal, die mächtigen
Augen funkelnd, die Naſe kreideweiß vor Zorn, dem bairiſchen Kronprinzen
die geballte Fauſt vor das Geſicht hielt. Doch was vermochte alle Leiden-

*) Als Manuſcript gedruckt Weimar 1867 u. d. T.: Aus den Papieren eines
Verſtorbenen.
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[678/0694] II. 1. Der Wiener Congreß. ſcharf und ſicher einen Aufſatz: Was wird uns die Zukunft bringen? *) und erwies, wie für jetzt doch nur ein ganz loſer Bund ohne Haupt zu Stande komme; das alte Reich ſei todt für immer, alle Hoffnungen der Nation beruhten fortan auf Preußens innerer Entwicklung. Möge dieſer Staat ſich innerlich kräftigen, dann werde er ſtark genug ſein um der- einſt die undeutſchen Mächte Oeſterreich und England aus unſerem Lande hinauszuſchlagen, die Mittelſtaaten, Napoleons Gebilde, zu zertrümmern und die geſammte Nation unter ſeiner Krone zu vereinigen. So die Ge- danken eines deutſchen Soldaten im Mai 1815. Sie blieben den Zeitge- noſſen verborgen wie jene Schrift Fichtes aus dem Sommer 1813; viel- leicht daß einmal Karl Auguſt auf die Abhandlung ſeines jungen Adjutanten einen Blick geworfen und darin einen Anklang an die Fürſtenbunds- träume ſeiner eigenen Jugend erkannt hat. Wie unheimlich erſcheint doch die ſchwerflüſſige Langſamkeit der nationalen Entwicklung neben den raſchen Gedanken der kurzlebigen Einzelmenſchen! Vor hundertundfünfzig Jahren gerade hatte Pufendorf die Bildung des Deutſchen Bundes vor- ausgeſagt; jetzt endlich ward das Seherwort zur Wahrheit. Und wie viele Jahrzehnte voll Sorge, Schmach und Arbeit ſollten abermals vergehen, bis ſich erfüllte was dieſer neue namenloſe Prophet, allein unter allen Zeitgenoſſen, vorher ſah: die Losreißung von Oeſterreich und die Einheit Deutſchlands unter Preußens Krone! Eine ſo verworrene öffentliche Meinung konnte den Cabinetten nicht die Richtung auf beſtimmte Ziele geben; ſie bewirkte nur das Eine, daß eine deutſche Bundesverfaſſung überhaupt zu Stande kam. Die öſter- reichiſchen Staatsmänner hatten noch in Teplitz beabſichtigt, die deutſchen Souveräne wie die italieniſchen lediglich durch eine Defenſiv-Allianz mit der Hofburg zu verbinden. Aber ſchon während des Krieges war Metter- nich zu der Einſicht gelangt, daß Angeſichts der hochgeſpannten Erwar- tungen der deutſchen Nation irgend eine feſtere Form bündiſcher Verfaſ- ſung gewährt werden müſſe. Deshalb, aus Furcht vor der Revolution, gab er in Chaumont dem Drängen Hardenbergs nach und bewilligte die Zuſage „eines foederativen Bandes“ für die deutſchen Staaten. Auch darin zeigte ſich die Erſtarkung des neuen Deutſchlands, daß keine der fremden Mächte in Wien den Anſpruch erhob unmittelbar in die deutſchen Verfaſſungshändel einzugreifen. Für dieſe Arbeit, die ihm die heiligſte aller irdiſchen Angelegenheiten blieb, ſetzte Stein die ganze Wucht ſeines heroiſchen Willens ein. Mit heiligem Entſetzen ſahen die kleinen Fürſten und Miniſter auf den unzähmbaren Mann, wie er einmal, die mächtigen Augen funkelnd, die Naſe kreideweiß vor Zorn, dem bairiſchen Kronprinzen die geballte Fauſt vor das Geſicht hielt. Doch was vermochte alle Leiden- *) Als Manuſcript gedruckt Weimar 1867 u. d. T.: Aus den Papieren eines Verſtorbenen.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 678. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/694>, abgerufen am 25.11.2024.