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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Neue Bedenken Humboldts.

Aus solchen kunstvollen Vordersätzen ergiebt sich die Nothwendigkeit
offen für England und Oesterreich aufzutreten; aber Preußen muß for-
dern, daß die beiden Mächte augenblicklich in einem definitiven Vertrage
Preußens gerechte Forderungen anerkennen und ihm namentlich die Ein-
verleibung von Sachsen verbürgen. Sollten sie jedoch wider Erwarten
auf diese Bedingungen nicht eingehen, "so bewiesen sie dadurch schon,
daß sie kein rein europäisches Interesse hätten, und daß sie Preußen die
Kräfte nicht einräumen wollten, deren es zur Erhaltung seiner Unab-
hängigkeit bedarf; und so würde Preußen vor sich und Europa gerechtfer-
tigt sein, sich von ihnen zu trennen und einen eigenen Weg mit Rußland
einzuschlagen."

Wahrlich, blinde Ergebenheit gegen Rußland ist das Letzte, was sich
den Diplomaten der Staatskanzlei vorwerfen läßt; bis zur zwölften Stunde
bauten sie fest auf Oesterreichs Freundschaft. Schon nach wenigen Tagen
ward offenbar, daß weder Oesterreich noch England eine feste Verpflich-
tung für Preußens Wiederherstellung übernehmen wollte. Hardenberg
hat dann noch wochenlang in unfruchtbaren Vermittlungsversuchen sich
erschöpft; Preußen trug von seinem "Abfall" zunächst nur den Haß da-
von, der jedem diplomatischen Frontwechsel zu folgen pflegt. Doch als
nachher der Streit sich verbitterte, da führte die Natur der Dinge, halb
wider den Willen der preußischen Staatsmänner, jene Parteigruppirung
herbei, welche dem klaren Blicke des Königs von vornherein als unver-
meidlich erschienen war. Auf der einen Seite standen Preußen und Ruß-
land, auf der andern: Oesterreich, England, alle kleinen Neider des wer-
denden deutschen Staats und, als der Leiter der großen Verschwörung,
Frankreich. Nur seinem Könige verdankte der aus tausend Wunden blu-
tende Staat, daß er aus einem solchen Kampfe nicht völlig gedemüthigt
hervorging. --

Am 8. November übergab Fürst Repnin die Verwaltung von Sachsen
an die preußischen Bevollmächtigten General von Gaudi und Minister
v. d. Reck. Der Leipziger Bürgermeister Siegmann und die Handlungs-
deputirten sprachen sofort im Namen von Stadt und Kaufmannschaft dem
Staatskanzler ihr volles Vertrauen aus, dankten ihm für die treffliche
Wahl der obersten Beamten. *) Es fehlte nicht an unerquicklichem Streite,
da der moderne Staat mit seiner strengen Aufsicht plötzlich unter die
Spinnweben und den verstaubten Urväterhausrath dieser verkommenen
altständischen Verwaltung hineinfuhr. An die Spitze des Finanzwesens
wurde Staatsrath Friese gestellt, einer der besten Köpfe des preußischen Be-
amtenthums, derselbe, der nachher der Preußischen Bank lange mit großem
Erfolge vorgestanden hat. Er wußte nicht grell genug zu schildern, wie

*) Eingabe der Leipziger Handlungsdeputirten an den Staatskanzler, 15. Nov.,
Siegmann an Hardenberg, 16. Nov. 1814.
Neue Bedenken Humboldts.

Aus ſolchen kunſtvollen Vorderſätzen ergiebt ſich die Nothwendigkeit
offen für England und Oeſterreich aufzutreten; aber Preußen muß for-
dern, daß die beiden Mächte augenblicklich in einem definitiven Vertrage
Preußens gerechte Forderungen anerkennen und ihm namentlich die Ein-
verleibung von Sachſen verbürgen. Sollten ſie jedoch wider Erwarten
auf dieſe Bedingungen nicht eingehen, „ſo bewieſen ſie dadurch ſchon,
daß ſie kein rein europäiſches Intereſſe hätten, und daß ſie Preußen die
Kräfte nicht einräumen wollten, deren es zur Erhaltung ſeiner Unab-
hängigkeit bedarf; und ſo würde Preußen vor ſich und Europa gerechtfer-
tigt ſein, ſich von ihnen zu trennen und einen eigenen Weg mit Rußland
einzuſchlagen.“

Wahrlich, blinde Ergebenheit gegen Rußland iſt das Letzte, was ſich
den Diplomaten der Staatskanzlei vorwerfen läßt; bis zur zwölften Stunde
bauten ſie feſt auf Oeſterreichs Freundſchaft. Schon nach wenigen Tagen
ward offenbar, daß weder Oeſterreich noch England eine feſte Verpflich-
tung für Preußens Wiederherſtellung übernehmen wollte. Hardenberg
hat dann noch wochenlang in unfruchtbaren Vermittlungsverſuchen ſich
erſchöpft; Preußen trug von ſeinem „Abfall“ zunächſt nur den Haß da-
von, der jedem diplomatiſchen Frontwechſel zu folgen pflegt. Doch als
nachher der Streit ſich verbitterte, da führte die Natur der Dinge, halb
wider den Willen der preußiſchen Staatsmänner, jene Parteigruppirung
herbei, welche dem klaren Blicke des Königs von vornherein als unver-
meidlich erſchienen war. Auf der einen Seite ſtanden Preußen und Ruß-
land, auf der andern: Oeſterreich, England, alle kleinen Neider des wer-
denden deutſchen Staats und, als der Leiter der großen Verſchwörung,
Frankreich. Nur ſeinem Könige verdankte der aus tauſend Wunden blu-
tende Staat, daß er aus einem ſolchen Kampfe nicht völlig gedemüthigt
hervorging. —

Am 8. November übergab Fürſt Repnin die Verwaltung von Sachſen
an die preußiſchen Bevollmächtigten General von Gaudi und Miniſter
v. d. Reck. Der Leipziger Bürgermeiſter Siegmann und die Handlungs-
deputirten ſprachen ſofort im Namen von Stadt und Kaufmannſchaft dem
Staatskanzler ihr volles Vertrauen aus, dankten ihm für die treffliche
Wahl der oberſten Beamten. *) Es fehlte nicht an unerquicklichem Streite,
da der moderne Staat mit ſeiner ſtrengen Aufſicht plötzlich unter die
Spinnweben und den verſtaubten Urväterhausrath dieſer verkommenen
altſtändiſchen Verwaltung hineinfuhr. An die Spitze des Finanzweſens
wurde Staatsrath Frieſe geſtellt, einer der beſten Köpfe des preußiſchen Be-
amtenthums, derſelbe, der nachher der Preußiſchen Bank lange mit großem
Erfolge vorgeſtanden hat. Er wußte nicht grell genug zu ſchildern, wie

*) Eingabe der Leipziger Handlungsdeputirten an den Staatskanzler, 15. Nov.,
Siegmann an Hardenberg, 16. Nov. 1814.
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[637/0653] Neue Bedenken Humboldts. Aus ſolchen kunſtvollen Vorderſätzen ergiebt ſich die Nothwendigkeit offen für England und Oeſterreich aufzutreten; aber Preußen muß for- dern, daß die beiden Mächte augenblicklich in einem definitiven Vertrage Preußens gerechte Forderungen anerkennen und ihm namentlich die Ein- verleibung von Sachſen verbürgen. Sollten ſie jedoch wider Erwarten auf dieſe Bedingungen nicht eingehen, „ſo bewieſen ſie dadurch ſchon, daß ſie kein rein europäiſches Intereſſe hätten, und daß ſie Preußen die Kräfte nicht einräumen wollten, deren es zur Erhaltung ſeiner Unab- hängigkeit bedarf; und ſo würde Preußen vor ſich und Europa gerechtfer- tigt ſein, ſich von ihnen zu trennen und einen eigenen Weg mit Rußland einzuſchlagen.“ Wahrlich, blinde Ergebenheit gegen Rußland iſt das Letzte, was ſich den Diplomaten der Staatskanzlei vorwerfen läßt; bis zur zwölften Stunde bauten ſie feſt auf Oeſterreichs Freundſchaft. Schon nach wenigen Tagen ward offenbar, daß weder Oeſterreich noch England eine feſte Verpflich- tung für Preußens Wiederherſtellung übernehmen wollte. Hardenberg hat dann noch wochenlang in unfruchtbaren Vermittlungsverſuchen ſich erſchöpft; Preußen trug von ſeinem „Abfall“ zunächſt nur den Haß da- von, der jedem diplomatiſchen Frontwechſel zu folgen pflegt. Doch als nachher der Streit ſich verbitterte, da führte die Natur der Dinge, halb wider den Willen der preußiſchen Staatsmänner, jene Parteigruppirung herbei, welche dem klaren Blicke des Königs von vornherein als unver- meidlich erſchienen war. Auf der einen Seite ſtanden Preußen und Ruß- land, auf der andern: Oeſterreich, England, alle kleinen Neider des wer- denden deutſchen Staats und, als der Leiter der großen Verſchwörung, Frankreich. Nur ſeinem Könige verdankte der aus tauſend Wunden blu- tende Staat, daß er aus einem ſolchen Kampfe nicht völlig gedemüthigt hervorging. — Am 8. November übergab Fürſt Repnin die Verwaltung von Sachſen an die preußiſchen Bevollmächtigten General von Gaudi und Miniſter v. d. Reck. Der Leipziger Bürgermeiſter Siegmann und die Handlungs- deputirten ſprachen ſofort im Namen von Stadt und Kaufmannſchaft dem Staatskanzler ihr volles Vertrauen aus, dankten ihm für die treffliche Wahl der oberſten Beamten. *) Es fehlte nicht an unerquicklichem Streite, da der moderne Staat mit ſeiner ſtrengen Aufſicht plötzlich unter die Spinnweben und den verſtaubten Urväterhausrath dieſer verkommenen altſtändiſchen Verwaltung hineinfuhr. An die Spitze des Finanzweſens wurde Staatsrath Frieſe geſtellt, einer der beſten Köpfe des preußiſchen Be- amtenthums, derſelbe, der nachher der Preußiſchen Bank lange mit großem Erfolge vorgeſtanden hat. Er wußte nicht grell genug zu ſchildern, wie *) Eingabe der Leipziger Handlungsdeputirten an den Staatskanzler, 15. Nov., Siegmann an Hardenberg, 16. Nov. 1814.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/653>, abgerufen am 25.11.2024.