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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
der Gesinnung jener Tage von selbst, ohne sie wäre der preußische Plan
den anderen Höfen noch viel ruchloser erschienen. Ein Gelehrter von heute
mag wohl finden, Friedrich August sei kaum schuldiger gewesen als der
mit Gnaden überhäufte König von Baiern; Max Joseph selber jedoch und
sein Talleyrand haben solche Gründe zur Entschuldigung ihres sächsischen
Schützlings begreiflicherweise nie ausgesprochen. Auch an die angeblichen
Verdienste der Wettiner um Deutschlands Gesittung dachten die nüchternen
Geschäftsmänner in Wien niemals. Der Parteigegensatz, der dort heraus-
trat, war ungleich einfacher. Auf der einen Seite stand der Wunsch
der jungen deutschen Großmacht, ihrem zerrissenen, bedrohten Gebiete eine
haltbare Südgrenze zu verschaffen und zugleich der landesverrätherischen
Gesinnung der Rheinbundshöfe eine heilsame Warnung zu geben; auf
der anderen Seite der uralte Haß Oesterreichs und Frankreichs gegen
den Staat, in dem man dunkel den Hort der deutschen Einheit ahnte,
und der dynastische Neid der kleinen Höfe. Das wettinische Haus war
ein "Haus" wie das wittelsbachische und württembergische auch, und in
der Wahrung der Hausmacht gingen alle Gedanken der kleinen Herren
auf. Talleyrand verstand binnen Kurzem alle diese Kräfte des Wider-
standes um sich zu sammeln und verhehlte nicht, daß ihm das Loos
Friedrich Augusts weit näher am Herzen lag als das Schicksal Polens.
Der Rheinische Mercur schrieb warnend: in den bourbonischen Lilien sind
noch immer die napoleonischen Bienen und Wespen verborgen. Jenes
große europäische Bündniß, das sich um Frankreichs Banner schaarte, giebt
den sächsischen Händeln eine weit über den Werth des streitigen Landes
hinausgehende historische Bedeutung. Der preußische Staat erfuhr aber-
mals, wie zur Zeit der schlesischen Kriege, daß die weite Welt ihn zu
bekämpfen einig war.

Der Gefangene von Friedrichsfelde spielte unterdessen nicht unge-
schickt und sicherlich in gutem Glauben die Rolle der tief gekränkten Un-
schuld. Er war sein Lebelang gewissenhaft auf dem Boden des positiven
Rechts geblieben und hatte, so lange das heilige Reich bestand, seine
reichsfürstlichen Pflichten genau erfüllt. Der Gedanke aber, daß auch ein
souveräner König von Sachsen sich gegen Deutschland versündigen könne,
blieb diesem Kopfe unfaßbar. Im Sommer 1814 ließ er dem Czaren
eine Denkschrift überreichen; sie zählte in vollem Ernst die Entschädigungen
auf, welche Sachsen von Preußen zu verlangen habe! Der König ohne
Land forderte von dem Sieger großmüthig nur den Beeskow-Storkower
Kreis, einige preußische Enclaven und Begünstigungen für den sächsischen
Handel; außerdem Ersatz für Warschau. Wie läppisch dies Machwerk er-
scheinen mochte, es bildete doch den passenden Uebergang zu einer zweiten
Denkschrift, die im Juli zu Nürnberg mit Genehmigung der bairischen
Regierung gedruckt wurde. Mit dem äußersten Erstaunen, heißt es hier,
habe der König das Gerücht vernommen, daß die Alliirten ihm sein Erb-

II. 1. Der Wiener Congreß.
der Geſinnung jener Tage von ſelbſt, ohne ſie wäre der preußiſche Plan
den anderen Höfen noch viel ruchloſer erſchienen. Ein Gelehrter von heute
mag wohl finden, Friedrich Auguſt ſei kaum ſchuldiger geweſen als der
mit Gnaden überhäufte König von Baiern; Max Joſeph ſelber jedoch und
ſein Talleyrand haben ſolche Gründe zur Entſchuldigung ihres ſächſiſchen
Schützlings begreiflicherweiſe nie ausgeſprochen. Auch an die angeblichen
Verdienſte der Wettiner um Deutſchlands Geſittung dachten die nüchternen
Geſchäftsmänner in Wien niemals. Der Parteigegenſatz, der dort heraus-
trat, war ungleich einfacher. Auf der einen Seite ſtand der Wunſch
der jungen deutſchen Großmacht, ihrem zerriſſenen, bedrohten Gebiete eine
haltbare Südgrenze zu verſchaffen und zugleich der landesverrätheriſchen
Geſinnung der Rheinbundshöfe eine heilſame Warnung zu geben; auf
der anderen Seite der uralte Haß Oeſterreichs und Frankreichs gegen
den Staat, in dem man dunkel den Hort der deutſchen Einheit ahnte,
und der dynaſtiſche Neid der kleinen Höfe. Das wettiniſche Haus war
ein „Haus“ wie das wittelsbachiſche und württembergiſche auch, und in
der Wahrung der Hausmacht gingen alle Gedanken der kleinen Herren
auf. Talleyrand verſtand binnen Kurzem alle dieſe Kräfte des Wider-
ſtandes um ſich zu ſammeln und verhehlte nicht, daß ihm das Loos
Friedrich Auguſts weit näher am Herzen lag als das Schickſal Polens.
Der Rheiniſche Mercur ſchrieb warnend: in den bourboniſchen Lilien ſind
noch immer die napoleoniſchen Bienen und Wespen verborgen. Jenes
große europäiſche Bündniß, das ſich um Frankreichs Banner ſchaarte, giebt
den ſächſiſchen Händeln eine weit über den Werth des ſtreitigen Landes
hinausgehende hiſtoriſche Bedeutung. Der preußiſche Staat erfuhr aber-
mals, wie zur Zeit der ſchleſiſchen Kriege, daß die weite Welt ihn zu
bekämpfen einig war.

Der Gefangene von Friedrichsfelde ſpielte unterdeſſen nicht unge-
ſchickt und ſicherlich in gutem Glauben die Rolle der tief gekränkten Un-
ſchuld. Er war ſein Lebelang gewiſſenhaft auf dem Boden des poſitiven
Rechts geblieben und hatte, ſo lange das heilige Reich beſtand, ſeine
reichsfürſtlichen Pflichten genau erfüllt. Der Gedanke aber, daß auch ein
ſouveräner König von Sachſen ſich gegen Deutſchland verſündigen könne,
blieb dieſem Kopfe unfaßbar. Im Sommer 1814 ließ er dem Czaren
eine Denkſchrift überreichen; ſie zählte in vollem Ernſt die Entſchädigungen
auf, welche Sachſen von Preußen zu verlangen habe! Der König ohne
Land forderte von dem Sieger großmüthig nur den Beeskow-Storkower
Kreis, einige preußiſche Enclaven und Begünſtigungen für den ſächſiſchen
Handel; außerdem Erſatz für Warſchau. Wie läppiſch dies Machwerk er-
ſcheinen mochte, es bildete doch den paſſenden Uebergang zu einer zweiten
Denkſchrift, die im Juli zu Nürnberg mit Genehmigung der bairiſchen
Regierung gedruckt wurde. Mit dem äußerſten Erſtaunen, heißt es hier,
habe der König das Gerücht vernommen, daß die Alliirten ihm ſein Erb-

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[620/0636] II. 1. Der Wiener Congreß. der Geſinnung jener Tage von ſelbſt, ohne ſie wäre der preußiſche Plan den anderen Höfen noch viel ruchloſer erſchienen. Ein Gelehrter von heute mag wohl finden, Friedrich Auguſt ſei kaum ſchuldiger geweſen als der mit Gnaden überhäufte König von Baiern; Max Joſeph ſelber jedoch und ſein Talleyrand haben ſolche Gründe zur Entſchuldigung ihres ſächſiſchen Schützlings begreiflicherweiſe nie ausgeſprochen. Auch an die angeblichen Verdienſte der Wettiner um Deutſchlands Geſittung dachten die nüchternen Geſchäftsmänner in Wien niemals. Der Parteigegenſatz, der dort heraus- trat, war ungleich einfacher. Auf der einen Seite ſtand der Wunſch der jungen deutſchen Großmacht, ihrem zerriſſenen, bedrohten Gebiete eine haltbare Südgrenze zu verſchaffen und zugleich der landesverrätheriſchen Geſinnung der Rheinbundshöfe eine heilſame Warnung zu geben; auf der anderen Seite der uralte Haß Oeſterreichs und Frankreichs gegen den Staat, in dem man dunkel den Hort der deutſchen Einheit ahnte, und der dynaſtiſche Neid der kleinen Höfe. Das wettiniſche Haus war ein „Haus“ wie das wittelsbachiſche und württembergiſche auch, und in der Wahrung der Hausmacht gingen alle Gedanken der kleinen Herren auf. Talleyrand verſtand binnen Kurzem alle dieſe Kräfte des Wider- ſtandes um ſich zu ſammeln und verhehlte nicht, daß ihm das Loos Friedrich Auguſts weit näher am Herzen lag als das Schickſal Polens. Der Rheiniſche Mercur ſchrieb warnend: in den bourboniſchen Lilien ſind noch immer die napoleoniſchen Bienen und Wespen verborgen. Jenes große europäiſche Bündniß, das ſich um Frankreichs Banner ſchaarte, giebt den ſächſiſchen Händeln eine weit über den Werth des ſtreitigen Landes hinausgehende hiſtoriſche Bedeutung. Der preußiſche Staat erfuhr aber- mals, wie zur Zeit der ſchleſiſchen Kriege, daß die weite Welt ihn zu bekämpfen einig war. Der Gefangene von Friedrichsfelde ſpielte unterdeſſen nicht unge- ſchickt und ſicherlich in gutem Glauben die Rolle der tief gekränkten Un- ſchuld. Er war ſein Lebelang gewiſſenhaft auf dem Boden des poſitiven Rechts geblieben und hatte, ſo lange das heilige Reich beſtand, ſeine reichsfürſtlichen Pflichten genau erfüllt. Der Gedanke aber, daß auch ein ſouveräner König von Sachſen ſich gegen Deutſchland verſündigen könne, blieb dieſem Kopfe unfaßbar. Im Sommer 1814 ließ er dem Czaren eine Denkſchrift überreichen; ſie zählte in vollem Ernſt die Entſchädigungen auf, welche Sachſen von Preußen zu verlangen habe! Der König ohne Land forderte von dem Sieger großmüthig nur den Beeskow-Storkower Kreis, einige preußiſche Enclaven und Begünſtigungen für den ſächſiſchen Handel; außerdem Erſatz für Warſchau. Wie läppiſch dies Machwerk er- ſcheinen mochte, es bildete doch den paſſenden Uebergang zu einer zweiten Denkſchrift, die im Juli zu Nürnberg mit Genehmigung der bairiſchen Regierung gedruckt wurde. Mit dem äußerſten Erſtaunen, heißt es hier, habe der König das Gerücht vernommen, daß die Alliirten ihm ſein Erb-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 620. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/636>, abgerufen am 28.11.2024.