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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Talleyrand.
in seinen historischen Phantasien sich bis in die Zeiten Wilhelms III.
verstieg, dann hielt er sogar auf Augenblicke Brandenburg und Hol-
land für natürliche Verbündete und betheuerte seinen preußischen Freun-
den inbrünstig, "wie sehr dem jetzigen Völkersysteme an dem guten
Einvernehmen zwischen Berlin und dem Haag gelegen ist". Aber zu
nahe an sein geliebtes Holland durfte ihm der streitbare Nachbarstaat
nicht heranrücken; vollends die sächsischen Ansprüche der preußischen Po-
litik erschienen dem alten Vorkämpfer des Kleinfürstenthums schlechthin
ruchlos. Mit Feuereifer warf er sich ins Zeug um die "heiligsten Rechte"
des deutschen hohen Adels zu vertheidigen und schrieb den preußischen
Staatsmännern nachdrückliche Briefe in jenem possirlichen Lehrtone, den
diese Kleinen allesammt gern gegen die langmüthigen Großen anschlugen.
Als er einmal dem Staatskanzler eine seiner wohlgemeinten, verworren-
gelehrten Flugschriften sendete, erlaubte er sich die strafende Bemerkung:
"Es ist so viel Edles in Ihrem Gemüth, daß ich immer zu den besten
Erwartungen zurückkehre, wenn auch Dinge vorgegangen waren, die ich
eben nicht billigen kann." Darauf Hardenberg, mit sanfter Anspielung
auf die proteische Natur des kleinstaatlichen Patrioten: "Uebrigens muß
ich über den Zusatz bemerken, daß, so sehr viel Werth ich auf Ihren Bei-
fall setze, ich doch nicht glaube, in Ihnen einen Censor meiner öffentlichen
Handlungen anerkennen zu müssen, so wenig ich mir anmaße, Eurer
Exc. politisches Betragen in verschiedenen Epochen zu vergleichen, oder zu
entscheiden, wer von uns am Mehrsten auf Deutschlands Ruhe, Eintracht
und herzustellendes Vertrauen hinwirkt." Trotz solcher Anzüglichkeiten
wollte Hardenbergs Gutherzigkeit dem wunderlichen Heiligen nicht ernst-
lich gram werden. Seine Freunde betrachteten den Unermüdlichen nicht
ohne Humor. Alopeus schrieb treffend: "Dieser unruhige Staatsmann,
dem es gleichgiltig ist, welcher Sache er seine Talente widmet, wenn er
nur recht thätig erscheinen kann, ist jetzt zum Holländer geworden."*)

Unter Staatsmännern solchen Schlages mußte bald der Einfluß des
Mannes fühlbar werden, der von allen Diplomaten des Congresses der
gewandteste, von allen Gegnern Preußens der entschlossenste war: des
Fürsten Talleyrand. Unerschütterliche Sicherheit des Auftretens ist auf
dem glatten Boden der Salons von jeher noch siegreicher gewesen als
verbindliche Liebenswürdigkeit. Wenn Metternich und Hardenberg durch
anmuthig gewinnende Formen große Erfolge in der vornehmen Gesell-
schaft errangen, so wirkte Talleyrands cynische Schamlosigkeit noch un-
widerstehlicher. Welch ein Eindruck, wenn die unförmliche Gestalt, ange-
than mit der altmodischen Tracht aus den Zeiten des Directoriums, sich
schwerfällig auf ihrem Klumpfuß in den glänzenden Kreis des Hofes

*) Gagern an Hardenberg 12. 18. Novbr. Hardenberg an Gagern 16. Novbr.
Alopeus an Humboldt 11. Octbr. 1814.

Talleyrand.
in ſeinen hiſtoriſchen Phantaſien ſich bis in die Zeiten Wilhelms III.
verſtieg, dann hielt er ſogar auf Augenblicke Brandenburg und Hol-
land für natürliche Verbündete und betheuerte ſeinen preußiſchen Freun-
den inbrünſtig, „wie ſehr dem jetzigen Völkerſyſteme an dem guten
Einvernehmen zwiſchen Berlin und dem Haag gelegen iſt“. Aber zu
nahe an ſein geliebtes Holland durfte ihm der ſtreitbare Nachbarſtaat
nicht heranrücken; vollends die ſächſiſchen Anſprüche der preußiſchen Po-
litik erſchienen dem alten Vorkämpfer des Kleinfürſtenthums ſchlechthin
ruchlos. Mit Feuereifer warf er ſich ins Zeug um die „heiligſten Rechte“
des deutſchen hohen Adels zu vertheidigen und ſchrieb den preußiſchen
Staatsmännern nachdrückliche Briefe in jenem poſſirlichen Lehrtone, den
dieſe Kleinen alleſammt gern gegen die langmüthigen Großen anſchlugen.
Als er einmal dem Staatskanzler eine ſeiner wohlgemeinten, verworren-
gelehrten Flugſchriften ſendete, erlaubte er ſich die ſtrafende Bemerkung:
„Es iſt ſo viel Edles in Ihrem Gemüth, daß ich immer zu den beſten
Erwartungen zurückkehre, wenn auch Dinge vorgegangen waren, die ich
eben nicht billigen kann.“ Darauf Hardenberg, mit ſanfter Anſpielung
auf die proteiſche Natur des kleinſtaatlichen Patrioten: „Uebrigens muß
ich über den Zuſatz bemerken, daß, ſo ſehr viel Werth ich auf Ihren Bei-
fall ſetze, ich doch nicht glaube, in Ihnen einen Cenſor meiner öffentlichen
Handlungen anerkennen zu müſſen, ſo wenig ich mir anmaße, Eurer
Exc. politiſches Betragen in verſchiedenen Epochen zu vergleichen, oder zu
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und herzuſtellendes Vertrauen hinwirkt.“ Trotz ſolcher Anzüglichkeiten
wollte Hardenbergs Gutherzigkeit dem wunderlichen Heiligen nicht ernſt-
lich gram werden. Seine Freunde betrachteten den Unermüdlichen nicht
ohne Humor. Alopeus ſchrieb treffend: „Dieſer unruhige Staatsmann,
dem es gleichgiltig iſt, welcher Sache er ſeine Talente widmet, wenn er
nur recht thätig erſcheinen kann, iſt jetzt zum Holländer geworden.“*)

Unter Staatsmännern ſolchen Schlages mußte bald der Einfluß des
Mannes fühlbar werden, der von allen Diplomaten des Congreſſes der
gewandteſte, von allen Gegnern Preußens der entſchloſſenſte war: des
Fürſten Talleyrand. Unerſchütterliche Sicherheit des Auftretens iſt auf
dem glatten Boden der Salons von jeher noch ſiegreicher geweſen als
verbindliche Liebenswürdigkeit. Wenn Metternich und Hardenberg durch
anmuthig gewinnende Formen große Erfolge in der vornehmen Geſell-
ſchaft errangen, ſo wirkte Talleyrands cyniſche Schamloſigkeit noch un-
widerſtehlicher. Welch ein Eindruck, wenn die unförmliche Geſtalt, ange-
than mit der altmodiſchen Tracht aus den Zeiten des Directoriums, ſich
ſchwerfällig auf ihrem Klumpfuß in den glänzenden Kreis des Hofes

*) Gagern an Hardenberg 12. 18. Novbr. Hardenberg an Gagern 16. Novbr.
Alopeus an Humboldt 11. Octbr. 1814.
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[613/0629] Talleyrand. in ſeinen hiſtoriſchen Phantaſien ſich bis in die Zeiten Wilhelms III. verſtieg, dann hielt er ſogar auf Augenblicke Brandenburg und Hol- land für natürliche Verbündete und betheuerte ſeinen preußiſchen Freun- den inbrünſtig, „wie ſehr dem jetzigen Völkerſyſteme an dem guten Einvernehmen zwiſchen Berlin und dem Haag gelegen iſt“. Aber zu nahe an ſein geliebtes Holland durfte ihm der ſtreitbare Nachbarſtaat nicht heranrücken; vollends die ſächſiſchen Anſprüche der preußiſchen Po- litik erſchienen dem alten Vorkämpfer des Kleinfürſtenthums ſchlechthin ruchlos. Mit Feuereifer warf er ſich ins Zeug um die „heiligſten Rechte“ des deutſchen hohen Adels zu vertheidigen und ſchrieb den preußiſchen Staatsmännern nachdrückliche Briefe in jenem poſſirlichen Lehrtone, den dieſe Kleinen alleſammt gern gegen die langmüthigen Großen anſchlugen. Als er einmal dem Staatskanzler eine ſeiner wohlgemeinten, verworren- gelehrten Flugſchriften ſendete, erlaubte er ſich die ſtrafende Bemerkung: „Es iſt ſo viel Edles in Ihrem Gemüth, daß ich immer zu den beſten Erwartungen zurückkehre, wenn auch Dinge vorgegangen waren, die ich eben nicht billigen kann.“ Darauf Hardenberg, mit ſanfter Anſpielung auf die proteiſche Natur des kleinſtaatlichen Patrioten: „Uebrigens muß ich über den Zuſatz bemerken, daß, ſo ſehr viel Werth ich auf Ihren Bei- fall ſetze, ich doch nicht glaube, in Ihnen einen Cenſor meiner öffentlichen Handlungen anerkennen zu müſſen, ſo wenig ich mir anmaße, Eurer Exc. politiſches Betragen in verſchiedenen Epochen zu vergleichen, oder zu entſcheiden, wer von uns am Mehrſten auf Deutſchlands Ruhe, Eintracht und herzuſtellendes Vertrauen hinwirkt.“ Trotz ſolcher Anzüglichkeiten wollte Hardenbergs Gutherzigkeit dem wunderlichen Heiligen nicht ernſt- lich gram werden. Seine Freunde betrachteten den Unermüdlichen nicht ohne Humor. Alopeus ſchrieb treffend: „Dieſer unruhige Staatsmann, dem es gleichgiltig iſt, welcher Sache er ſeine Talente widmet, wenn er nur recht thätig erſcheinen kann, iſt jetzt zum Holländer geworden.“ *) Unter Staatsmännern ſolchen Schlages mußte bald der Einfluß des Mannes fühlbar werden, der von allen Diplomaten des Congreſſes der gewandteſte, von allen Gegnern Preußens der entſchloſſenſte war: des Fürſten Talleyrand. Unerſchütterliche Sicherheit des Auftretens iſt auf dem glatten Boden der Salons von jeher noch ſiegreicher geweſen als verbindliche Liebenswürdigkeit. Wenn Metternich und Hardenberg durch anmuthig gewinnende Formen große Erfolge in der vornehmen Geſell- ſchaft errangen, ſo wirkte Talleyrands cyniſche Schamloſigkeit noch un- widerſtehlicher. Welch ein Eindruck, wenn die unförmliche Geſtalt, ange- than mit der altmodiſchen Tracht aus den Zeiten des Directoriums, ſich ſchwerfällig auf ihrem Klumpfuß in den glänzenden Kreis des Hofes *) Gagern an Hardenberg 12. 18. Novbr. Hardenberg an Gagern 16. Novbr. Alopeus an Humboldt 11. Octbr. 1814.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 613. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/629>, abgerufen am 25.11.2024.