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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Das Wiener Leben.
fehlte freilich ganz, und auch die großen Judenhäuser, welche jetzt, Dank
der Finanznoth des Hauses Oesterreich, zum ersten male als eine Macht
auftraten und in die vornehme Welt eindrangen, die Firmen Arnstein,
Eskeles, Herz waren damit nicht allzu reich gesegnet.

Unvermeidlich wirkte die geistige Armseligkeit dieser Umgebung auf den
ganzen Ton des Congresses zurück. Das flache Vergnügen bot hier den ein-
zigen Schutz gegen die Langeweile. Maskenzüge und Praterfahrten, Bälle
und Spielpartien, Schmausereien und lebende Bilder drängten einander in
eintönigem Wechsel, so daß die Arbeit der Diplomatie lange kaum beginnen
konnte. Eine kaustische Bemerkung des Fürsten von Ligne oder eine Skan-
dalgeschichte von Metternich, der niemals weniger als zwei Damen zu-
gleich mit seiner Gunst beehrte, oder eine Witzelei über die neu erfundene
Draisine des Barons Drais, deren humpelnde Bewegung dem Fortschreiten
der Congreßverhandlungen so verzweifelt ähnlich sah, oder ein Urtheils-
spruch jenes hohen Gerichtshofs der Feinschmeckerei, der an Talleyrands
Tafel den Käse von Brie feierlich zum König des Käsegeschlechtes ausrief
-- das waren die Silberblicke in dieser ungeheuren Fadheit. Es schien,
als wollte der wiederhergestellte alte Fürstenstand den Völkern Europas
recht gründlich zeigen, für welches Nichts sie geblutet hatten. Man hat
viel von Napoleon gelernt, sagte Karl August bitter, unter Anderem auch
die Frechheit.

Nicht ohne Geschick spielte der Hausherr, Kaiser Franz die Rolle
des ehrwürdigen Patriarchen unter dem hohen Adel, obgleich er noch
kaum siebenundvierzig Jahre zählte. Er ließ sichs nicht verdrießen, täglich
fünfzigtausend Gulden für die kaiserliche Tafel, für den Congreß insge-
sammt 16 Millionen Gulden auszugeben, während seine unbezahlten In-
validen auf den Landstraßen betteln gingen; der pfiffige Rechner wußte
wohl, welche Vortheile ihm die Stellung des Wirthes bot. Wie rührend
erschien den durchlauchtigen Gästen diese mehr als unscheinbare Gestalt
in ihrem abgeschabten blauen Rocke, mit dem gemüthlichen kleinbürgerlichen
Wesen. Ein geborener Florentiner war Franz erst als junger Mann an
die Donau gekommen; aber die Maske des biederen, treuherzig groben
Oesterreichers, die er damals vor sein Gesicht genommen, saß ihm jetzt
wie angegossen, weil sie seinem Phlegma und seinen vulgären Neigungen
entsprach. Niemand auf der Welt vermochte ihm jemals ein Gefühl
herzlichen Wohlwollens zu entlocken; spurlos rauschten die Schicksals-
wechsel einer ungeheuren Zeit über den Stumpfsinn seiner Selbstsucht
dahin. Er begnadigte niemals, außer wenn der Verbrecher selber um
den Tod bat; er leitete in eigener Person die Mißhandlung der politischen
Gefangenen, bestimmte jedem selber die Schwere der Ketten und die Zahl
der Fasttage und kannte keine süßere Erholung als das Durchlesen er-
brochener Briefe; er hatte schon zwei Frauen verloren und sollte bald
auch die dritte begraben um sofort wieder mit unwandelbarer Gemüths-

Das Wiener Leben.
fehlte freilich ganz, und auch die großen Judenhäuſer, welche jetzt, Dank
der Finanznoth des Hauſes Oeſterreich, zum erſten male als eine Macht
auftraten und in die vornehme Welt eindrangen, die Firmen Arnſtein,
Eskeles, Herz waren damit nicht allzu reich geſegnet.

Unvermeidlich wirkte die geiſtige Armſeligkeit dieſer Umgebung auf den
ganzen Ton des Congreſſes zurück. Das flache Vergnügen bot hier den ein-
zigen Schutz gegen die Langeweile. Maskenzüge und Praterfahrten, Bälle
und Spielpartien, Schmauſereien und lebende Bilder drängten einander in
eintönigem Wechſel, ſo daß die Arbeit der Diplomatie lange kaum beginnen
konnte. Eine kauſtiſche Bemerkung des Fürſten von Ligne oder eine Skan-
dalgeſchichte von Metternich, der niemals weniger als zwei Damen zu-
gleich mit ſeiner Gunſt beehrte, oder eine Witzelei über die neu erfundene
Draiſine des Barons Drais, deren humpelnde Bewegung dem Fortſchreiten
der Congreßverhandlungen ſo verzweifelt ähnlich ſah, oder ein Urtheils-
ſpruch jenes hohen Gerichtshofs der Feinſchmeckerei, der an Talleyrands
Tafel den Käſe von Brie feierlich zum König des Käſegeſchlechtes ausrief
— das waren die Silberblicke in dieſer ungeheuren Fadheit. Es ſchien,
als wollte der wiederhergeſtellte alte Fürſtenſtand den Völkern Europas
recht gründlich zeigen, für welches Nichts ſie geblutet hatten. Man hat
viel von Napoleon gelernt, ſagte Karl Auguſt bitter, unter Anderem auch
die Frechheit.

Nicht ohne Geſchick ſpielte der Hausherr, Kaiſer Franz die Rolle
des ehrwürdigen Patriarchen unter dem hohen Adel, obgleich er noch
kaum ſiebenundvierzig Jahre zählte. Er ließ ſichs nicht verdrießen, täglich
fünfzigtauſend Gulden für die kaiſerliche Tafel, für den Congreß insge-
ſammt 16 Millionen Gulden auszugeben, während ſeine unbezahlten In-
validen auf den Landſtraßen betteln gingen; der pfiffige Rechner wußte
wohl, welche Vortheile ihm die Stellung des Wirthes bot. Wie rührend
erſchien den durchlauchtigen Gäſten dieſe mehr als unſcheinbare Geſtalt
in ihrem abgeſchabten blauen Rocke, mit dem gemüthlichen kleinbürgerlichen
Weſen. Ein geborener Florentiner war Franz erſt als junger Mann an
die Donau gekommen; aber die Maske des biederen, treuherzig groben
Oeſterreichers, die er damals vor ſein Geſicht genommen, ſaß ihm jetzt
wie angegoſſen, weil ſie ſeinem Phlegma und ſeinen vulgären Neigungen
entſprach. Niemand auf der Welt vermochte ihm jemals ein Gefühl
herzlichen Wohlwollens zu entlocken; ſpurlos rauſchten die Schickſals-
wechſel einer ungeheuren Zeit über den Stumpfſinn ſeiner Selbſtſucht
dahin. Er begnadigte niemals, außer wenn der Verbrecher ſelber um
den Tod bat; er leitete in eigener Perſon die Mißhandlung der politiſchen
Gefangenen, beſtimmte jedem ſelber die Schwere der Ketten und die Zahl
der Faſttage und kannte keine ſüßere Erholung als das Durchleſen er-
brochener Briefe; er hatte ſchon zwei Frauen verloren und ſollte bald
auch die dritte begraben um ſofort wieder mit unwandelbarer Gemüths-

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[601/0617] Das Wiener Leben. fehlte freilich ganz, und auch die großen Judenhäuſer, welche jetzt, Dank der Finanznoth des Hauſes Oeſterreich, zum erſten male als eine Macht auftraten und in die vornehme Welt eindrangen, die Firmen Arnſtein, Eskeles, Herz waren damit nicht allzu reich geſegnet. Unvermeidlich wirkte die geiſtige Armſeligkeit dieſer Umgebung auf den ganzen Ton des Congreſſes zurück. Das flache Vergnügen bot hier den ein- zigen Schutz gegen die Langeweile. Maskenzüge und Praterfahrten, Bälle und Spielpartien, Schmauſereien und lebende Bilder drängten einander in eintönigem Wechſel, ſo daß die Arbeit der Diplomatie lange kaum beginnen konnte. Eine kauſtiſche Bemerkung des Fürſten von Ligne oder eine Skan- dalgeſchichte von Metternich, der niemals weniger als zwei Damen zu- gleich mit ſeiner Gunſt beehrte, oder eine Witzelei über die neu erfundene Draiſine des Barons Drais, deren humpelnde Bewegung dem Fortſchreiten der Congreßverhandlungen ſo verzweifelt ähnlich ſah, oder ein Urtheils- ſpruch jenes hohen Gerichtshofs der Feinſchmeckerei, der an Talleyrands Tafel den Käſe von Brie feierlich zum König des Käſegeſchlechtes ausrief — das waren die Silberblicke in dieſer ungeheuren Fadheit. Es ſchien, als wollte der wiederhergeſtellte alte Fürſtenſtand den Völkern Europas recht gründlich zeigen, für welches Nichts ſie geblutet hatten. Man hat viel von Napoleon gelernt, ſagte Karl Auguſt bitter, unter Anderem auch die Frechheit. Nicht ohne Geſchick ſpielte der Hausherr, Kaiſer Franz die Rolle des ehrwürdigen Patriarchen unter dem hohen Adel, obgleich er noch kaum ſiebenundvierzig Jahre zählte. Er ließ ſichs nicht verdrießen, täglich fünfzigtauſend Gulden für die kaiſerliche Tafel, für den Congreß insge- ſammt 16 Millionen Gulden auszugeben, während ſeine unbezahlten In- validen auf den Landſtraßen betteln gingen; der pfiffige Rechner wußte wohl, welche Vortheile ihm die Stellung des Wirthes bot. Wie rührend erſchien den durchlauchtigen Gäſten dieſe mehr als unſcheinbare Geſtalt in ihrem abgeſchabten blauen Rocke, mit dem gemüthlichen kleinbürgerlichen Weſen. Ein geborener Florentiner war Franz erſt als junger Mann an die Donau gekommen; aber die Maske des biederen, treuherzig groben Oeſterreichers, die er damals vor ſein Geſicht genommen, ſaß ihm jetzt wie angegoſſen, weil ſie ſeinem Phlegma und ſeinen vulgären Neigungen entſprach. Niemand auf der Welt vermochte ihm jemals ein Gefühl herzlichen Wohlwollens zu entlocken; ſpurlos rauſchten die Schickſals- wechſel einer ungeheuren Zeit über den Stumpfſinn ſeiner Selbſtſucht dahin. Er begnadigte niemals, außer wenn der Verbrecher ſelber um den Tod bat; er leitete in eigener Perſon die Mißhandlung der politiſchen Gefangenen, beſtimmte jedem ſelber die Schwere der Ketten und die Zahl der Faſttage und kannte keine ſüßere Erholung als das Durchleſen er- brochener Briefe; er hatte ſchon zwei Frauen verloren und ſollte bald auch die dritte begraben um ſofort wieder mit unwandelbarer Gemüths-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 601. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/617>, abgerufen am 22.11.2024.