diplomatischen Agenten und viele andere unscheinbare aber unentbehr- liche Voraussetzungen eines geordneten Völkerverkehres endlich einigte. Zur See blieb freilich Alles beim Alten. Hier galt kein Völkerrecht, sondern die Uebermacht Englands; nimmermehr wollte die Hoffart der Meeres- königin sich auch nur zu einer Verständigung über den Flaggengruß her- beilassen.
Noch folgenreicher wurden die Verträge über die Schifffahrt auf den conventionellen, mehreren Staaten gemeinsam angehörigen Flüssen, ein mühseliges Werk, woran Humboldts Fleiß und Scharfsinn das Beste that. Die Handelspolitik des achtzehnten Jahrhunderts hatte grundsätz- lich den eigenen Nutzen in der Schädigung des Nachbars gesucht; jetzt zum ersten male berief sich ein europäischer Vertrag auf die Lehre der neuen Nationalökonomie, daß die Erleichterung des Verkehres im gemein- schaftlichen Interesse aller Völker liege. Auch ein großes gemeinsames Werk christlicher Barmherzigkeit wurde schon in Angriff genommen: die Mächte einigten sich über die Abschaffung des Negerhandels. Allerdings vorerst nur über den Grundsatz, da Spanien und Portugal bindende Verpflichtungen nicht übernehmen wollten. Aber mit Alledem ward doch die Bahn gebrochen für eine lange Reihe von Verträgen, welche das Netz des völkerverbindenden Verkehres immer enger flochten, den Rechtsschutz für die Ausländer immer sicherer stellten. Der neu erwachte National- stolz hatte den gesunden Kern der alten deutschen Weltbürgergesinnung keineswegs zerstört. Kaum war der Imperator gestürzt, so legte der wackere preußische Jurist Sethe dem Freiherrn vom Stein in einer Denk- schrift dar, wie viele harte und feindselige Bestimmungen gegen die Aus- länder der Code Napoleon enthalte*); Gelehrte und Geschäftsmänner be- stürmten die deutsche Diplomatie um Sicherung der Rechte der Fremden. Mit dem Wiener Congresse begann in der That eine neue Epoche des Völkerrechts, eine menschlichere Zeit, welche den großen Namen der Staa- tengesellschaft allmählich zur Wahrheit machte und namentlich dem inter- nationalen Privatrechte endlich einen positiven Inhalt gab.
An diesem großen Fortschritte des Völkerrechts hatte freilich der Auf- schwung des Weltverkehres ein größeres Verdienst als die bewußte Ein- sicht der Mitglieder des Congresses. Wie hätte sich auch eine ernste und tiefe politische Gesinnung entwickeln können in dieser glänzenden und rauschenden Versammlung, der prächtigsten und zahlreichsten, welche die Welt seit dem großen Kostnitzer Kirchentage gesehen hatte? Alle Mächte Europas, mit einziger Ausnahme des Sultans, waren vertreten. Auf dem Graben und auf den Basteien des alten Wiens, im Prater und an der großen Diplomatenbörse, dem Gasthofe "zur Kaiserin von Oesterreich", drängte sich das bunte Gewimmel von Fürsten und Prätendenten, Staats-
*) Sethe an Stein, Düsseldorf, 13. Mai 1814.
Die neue Staatengeſellſchaft.
diplomatiſchen Agenten und viele andere unſcheinbare aber unentbehr- liche Vorausſetzungen eines geordneten Völkerverkehres endlich einigte. Zur See blieb freilich Alles beim Alten. Hier galt kein Völkerrecht, ſondern die Uebermacht Englands; nimmermehr wollte die Hoffart der Meeres- königin ſich auch nur zu einer Verſtändigung über den Flaggengruß her- beilaſſen.
Noch folgenreicher wurden die Verträge über die Schifffahrt auf den conventionellen, mehreren Staaten gemeinſam angehörigen Flüſſen, ein mühſeliges Werk, woran Humboldts Fleiß und Scharfſinn das Beſte that. Die Handelspolitik des achtzehnten Jahrhunderts hatte grundſätz- lich den eigenen Nutzen in der Schädigung des Nachbars geſucht; jetzt zum erſten male berief ſich ein europäiſcher Vertrag auf die Lehre der neuen Nationalökonomie, daß die Erleichterung des Verkehres im gemein- ſchaftlichen Intereſſe aller Völker liege. Auch ein großes gemeinſames Werk chriſtlicher Barmherzigkeit wurde ſchon in Angriff genommen: die Mächte einigten ſich über die Abſchaffung des Negerhandels. Allerdings vorerſt nur über den Grundſatz, da Spanien und Portugal bindende Verpflichtungen nicht übernehmen wollten. Aber mit Alledem ward doch die Bahn gebrochen für eine lange Reihe von Verträgen, welche das Netz des völkerverbindenden Verkehres immer enger flochten, den Rechtsſchutz für die Ausländer immer ſicherer ſtellten. Der neu erwachte National- ſtolz hatte den geſunden Kern der alten deutſchen Weltbürgergeſinnung keineswegs zerſtört. Kaum war der Imperator geſtürzt, ſo legte der wackere preußiſche Juriſt Sethe dem Freiherrn vom Stein in einer Denk- ſchrift dar, wie viele harte und feindſelige Beſtimmungen gegen die Aus- länder der Code Napoleon enthalte*); Gelehrte und Geſchäftsmänner be- ſtürmten die deutſche Diplomatie um Sicherung der Rechte der Fremden. Mit dem Wiener Congreſſe begann in der That eine neue Epoche des Völkerrechts, eine menſchlichere Zeit, welche den großen Namen der Staa- tengeſellſchaft allmählich zur Wahrheit machte und namentlich dem inter- nationalen Privatrechte endlich einen poſitiven Inhalt gab.
An dieſem großen Fortſchritte des Völkerrechts hatte freilich der Auf- ſchwung des Weltverkehres ein größeres Verdienſt als die bewußte Ein- ſicht der Mitglieder des Congreſſes. Wie hätte ſich auch eine ernſte und tiefe politiſche Geſinnung entwickeln können in dieſer glänzenden und rauſchenden Verſammlung, der prächtigſten und zahlreichſten, welche die Welt ſeit dem großen Koſtnitzer Kirchentage geſehen hatte? Alle Mächte Europas, mit einziger Ausnahme des Sultans, waren vertreten. Auf dem Graben und auf den Baſteien des alten Wiens, im Prater und an der großen Diplomatenbörſe, dem Gaſthofe „zur Kaiſerin von Oeſterreich“, drängte ſich das bunte Gewimmel von Fürſten und Prätendenten, Staats-
*) Sethe an Stein, Düſſeldorf, 13. Mai 1814.
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Die neue Staatengeſellſchaft.
diplomatiſchen Agenten und viele andere unſcheinbare aber unentbehr-
liche Vorausſetzungen eines geordneten Völkerverkehres endlich einigte. Zur
See blieb freilich Alles beim Alten. Hier galt kein Völkerrecht, ſondern
die Uebermacht Englands; nimmermehr wollte die Hoffart der Meeres-
königin ſich auch nur zu einer Verſtändigung über den Flaggengruß her-
beilaſſen.
Noch folgenreicher wurden die Verträge über die Schifffahrt auf den
conventionellen, mehreren Staaten gemeinſam angehörigen Flüſſen, ein
mühſeliges Werk, woran Humboldts Fleiß und Scharfſinn das Beſte
that. Die Handelspolitik des achtzehnten Jahrhunderts hatte grundſätz-
lich den eigenen Nutzen in der Schädigung des Nachbars geſucht; jetzt
zum erſten male berief ſich ein europäiſcher Vertrag auf die Lehre der
neuen Nationalökonomie, daß die Erleichterung des Verkehres im gemein-
ſchaftlichen Intereſſe aller Völker liege. Auch ein großes gemeinſames
Werk chriſtlicher Barmherzigkeit wurde ſchon in Angriff genommen: die
Mächte einigten ſich über die Abſchaffung des Negerhandels. Allerdings
vorerſt nur über den Grundſatz, da Spanien und Portugal bindende
Verpflichtungen nicht übernehmen wollten. Aber mit Alledem ward doch
die Bahn gebrochen für eine lange Reihe von Verträgen, welche das Netz
des völkerverbindenden Verkehres immer enger flochten, den Rechtsſchutz
für die Ausländer immer ſicherer ſtellten. Der neu erwachte National-
ſtolz hatte den geſunden Kern der alten deutſchen Weltbürgergeſinnung
keineswegs zerſtört. Kaum war der Imperator geſtürzt, ſo legte der
wackere preußiſche Juriſt Sethe dem Freiherrn vom Stein in einer Denk-
ſchrift dar, wie viele harte und feindſelige Beſtimmungen gegen die Aus-
länder der Code Napoleon enthalte *); Gelehrte und Geſchäftsmänner be-
ſtürmten die deutſche Diplomatie um Sicherung der Rechte der Fremden.
Mit dem Wiener Congreſſe begann in der That eine neue Epoche des
Völkerrechts, eine menſchlichere Zeit, welche den großen Namen der Staa-
tengeſellſchaft allmählich zur Wahrheit machte und namentlich dem inter-
nationalen Privatrechte endlich einen poſitiven Inhalt gab.
An dieſem großen Fortſchritte des Völkerrechts hatte freilich der Auf-
ſchwung des Weltverkehres ein größeres Verdienſt als die bewußte Ein-
ſicht der Mitglieder des Congreſſes. Wie hätte ſich auch eine ernſte und
tiefe politiſche Geſinnung entwickeln können in dieſer glänzenden und
rauſchenden Verſammlung, der prächtigſten und zahlreichſten, welche die
Welt ſeit dem großen Koſtnitzer Kirchentage geſehen hatte? Alle Mächte
Europas, mit einziger Ausnahme des Sultans, waren vertreten. Auf
dem Graben und auf den Baſteien des alten Wiens, im Prater und an
der großen Diplomatenbörſe, dem Gaſthofe „zur Kaiſerin von Oeſterreich“,
drängte ſich das bunte Gewimmel von Fürſten und Prätendenten, Staats-
*) Sethe an Stein, Düſſeldorf, 13. Mai 1814.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 599. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/615>, abgerufen am 25.11.2024.
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