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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
nichts anderes sein als die verewigte Anarchie; ein Italien mit Oester-
reich, mit dem Papste, den Bourbonen und den Erzherzogen mußte in
kläglicher Ohnmacht verharren. Es bedurfte einer langen Schule der
Leiden, bis den beiden schicksalsverwandten Nationen die Erkenntniß der
letzten Gründe ihres Unglücks aufging, bis jenes Wahngebilde des fried-
lichen Dualismus, das jetzt noch, und nicht durch einen Zufall, die besten
Köpfe beherrschte, in seiner Hohlheit erkannt ward und die alten stolzen
fridericianischen Ueberlieferungen wieder zu Ehren kamen. Die Herstel-
lung einer wohlgesicherten norddeutschen Macht, wie sie der Nation noth
that, war in Wien von Haus aus unmöglich, da Preußens Schicksal zum
guten Theile von dem Willen seiner Feinde und Nebenbuhler abhing.
Ein kühner, genialer Staatsmann an Preußens Spitze hätte vermuthlich
das verschlungene Spiel der Wiener Verhandlungen weit einfacher ge-
staltet, die Krisis und die Entscheidung rascher herbeigeführt, doch, wegen
der erdrückenden Ungunst der Umstände, zuletzt schwerlich viel mehr er-
reicht als wirklich erlangt wurde.

Bei dieser vorläufig noch unheilbaren Schwäche der Mitte des Welt-
theils konnte das neue System des europäischen Gleichgewichts, das in
Wien begründet wurde, nur ein Nothbehelf sein, ein schwächlicher Bau,
der seine Dauer nicht der eigenen Festigkeit, sondern allein der allgemei-
nen Erschöpfung und Friedensseligkeit verdankte. Viele der schwierigsten
und gefährlichsten Streitfragen des Völkerrechts mußte man unerledigt
liegen lassen und tröstete sich mit jener Verlegenheitsphrase, die nun bald
modisch wurde: c'est une question vide. Immerhin blieb aus den
bitteren Lehren dieser entsetzlichen Kriegsjahre mindestens ein großer und
neuer Gedanke als ein Gemeingut der politischen Welt zurück: selbst die
frivolen Durchschnittsmenschen der Diplomatie fingen an zu begreifen,
daß der Staat doch nicht blos Macht ist, wie das alte Jahrhundert ge-
wähnt hatte, daß sein Leben doch nicht allein in der Belauerung und
behenden Uebervortheilung der Nachbarmächte aufgeht. Der Anblick jener
Triumphe, welche der Revolution und ihrem gekrönten Helden durch die
Zwietracht der alten Mächte bereitet wurden, hatte doch endlich ein leben-
diges europäisches Gemeingefühl erweckt. Die befreite Welt war ernstlich
gesonnen in einer friedlichen Staatengesellschaft zusammenzuleben; sie
fühlte, daß den Staaten, trotz aller trennenden Interessen, eine Fülle
großer Culturaufgaben gemeinsam war, die allein durch freundliche Ver-
ständigung gelöst werden konnten. Mochte die mechanische Staatsan-
schauung vergangener Tage noch überwiegen, die gewissenlose Staats-
raison der alten Cabinetspolitik war bereits im Untergehen; und es bleibt
das dauernde historische Verdienst des Wiener Congresses, daß er für
den freundnachbarlichen Verkehr der Staatengesellschaft einige neue For-
men und Regeln fand. Ein Fortschritt war es doch, daß man sich über
die Vorschriften der internationalen Etikette, über die Rangordnung der

II. 1. Der Wiener Congreß.
nichts anderes ſein als die verewigte Anarchie; ein Italien mit Oeſter-
reich, mit dem Papſte, den Bourbonen und den Erzherzogen mußte in
kläglicher Ohnmacht verharren. Es bedurfte einer langen Schule der
Leiden, bis den beiden ſchickſalsverwandten Nationen die Erkenntniß der
letzten Gründe ihres Unglücks aufging, bis jenes Wahngebilde des fried-
lichen Dualismus, das jetzt noch, und nicht durch einen Zufall, die beſten
Köpfe beherrſchte, in ſeiner Hohlheit erkannt ward und die alten ſtolzen
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lung einer wohlgeſicherten norddeutſchen Macht, wie ſie der Nation noth
that, war in Wien von Haus aus unmöglich, da Preußens Schickſal zum
guten Theile von dem Willen ſeiner Feinde und Nebenbuhler abhing.
Ein kühner, genialer Staatsmann an Preußens Spitze hätte vermuthlich
das verſchlungene Spiel der Wiener Verhandlungen weit einfacher ge-
ſtaltet, die Kriſis und die Entſcheidung raſcher herbeigeführt, doch, wegen
der erdrückenden Ungunſt der Umſtände, zuletzt ſchwerlich viel mehr er-
reicht als wirklich erlangt wurde.

Bei dieſer vorläufig noch unheilbaren Schwäche der Mitte des Welt-
theils konnte das neue Syſtem des europäiſchen Gleichgewichts, das in
Wien begründet wurde, nur ein Nothbehelf ſein, ein ſchwächlicher Bau,
der ſeine Dauer nicht der eigenen Feſtigkeit, ſondern allein der allgemei-
nen Erſchöpfung und Friedensſeligkeit verdankte. Viele der ſchwierigſten
und gefährlichſten Streitfragen des Völkerrechts mußte man unerledigt
liegen laſſen und tröſtete ſich mit jener Verlegenheitsphraſe, die nun bald
modiſch wurde: c’est une question vide. Immerhin blieb aus den
bitteren Lehren dieſer entſetzlichen Kriegsjahre mindeſtens ein großer und
neuer Gedanke als ein Gemeingut der politiſchen Welt zurück: ſelbſt die
frivolen Durchſchnittsmenſchen der Diplomatie fingen an zu begreifen,
daß der Staat doch nicht blos Macht iſt, wie das alte Jahrhundert ge-
wähnt hatte, daß ſein Leben doch nicht allein in der Belauerung und
behenden Uebervortheilung der Nachbarmächte aufgeht. Der Anblick jener
Triumphe, welche der Revolution und ihrem gekrönten Helden durch die
Zwietracht der alten Mächte bereitet wurden, hatte doch endlich ein leben-
diges europäiſches Gemeingefühl erweckt. Die befreite Welt war ernſtlich
geſonnen in einer friedlichen Staatengeſellſchaft zuſammenzuleben; ſie
fühlte, daß den Staaten, trotz aller trennenden Intereſſen, eine Fülle
großer Culturaufgaben gemeinſam war, die allein durch freundliche Ver-
ſtändigung gelöſt werden konnten. Mochte die mechaniſche Staatsan-
ſchauung vergangener Tage noch überwiegen, die gewiſſenloſe Staats-
raiſon der alten Cabinetspolitik war bereits im Untergehen; und es bleibt
das dauernde hiſtoriſche Verdienſt des Wiener Congreſſes, daß er für
den freundnachbarlichen Verkehr der Staatengeſellſchaft einige neue For-
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[598/0614] II. 1. Der Wiener Congreß. nichts anderes ſein als die verewigte Anarchie; ein Italien mit Oeſter- reich, mit dem Papſte, den Bourbonen und den Erzherzogen mußte in kläglicher Ohnmacht verharren. Es bedurfte einer langen Schule der Leiden, bis den beiden ſchickſalsverwandten Nationen die Erkenntniß der letzten Gründe ihres Unglücks aufging, bis jenes Wahngebilde des fried- lichen Dualismus, das jetzt noch, und nicht durch einen Zufall, die beſten Köpfe beherrſchte, in ſeiner Hohlheit erkannt ward und die alten ſtolzen fridericianiſchen Ueberlieferungen wieder zu Ehren kamen. Die Herſtel- lung einer wohlgeſicherten norddeutſchen Macht, wie ſie der Nation noth that, war in Wien von Haus aus unmöglich, da Preußens Schickſal zum guten Theile von dem Willen ſeiner Feinde und Nebenbuhler abhing. Ein kühner, genialer Staatsmann an Preußens Spitze hätte vermuthlich das verſchlungene Spiel der Wiener Verhandlungen weit einfacher ge- ſtaltet, die Kriſis und die Entſcheidung raſcher herbeigeführt, doch, wegen der erdrückenden Ungunſt der Umſtände, zuletzt ſchwerlich viel mehr er- reicht als wirklich erlangt wurde. Bei dieſer vorläufig noch unheilbaren Schwäche der Mitte des Welt- theils konnte das neue Syſtem des europäiſchen Gleichgewichts, das in Wien begründet wurde, nur ein Nothbehelf ſein, ein ſchwächlicher Bau, der ſeine Dauer nicht der eigenen Feſtigkeit, ſondern allein der allgemei- nen Erſchöpfung und Friedensſeligkeit verdankte. Viele der ſchwierigſten und gefährlichſten Streitfragen des Völkerrechts mußte man unerledigt liegen laſſen und tröſtete ſich mit jener Verlegenheitsphraſe, die nun bald modiſch wurde: c’est une question vide. Immerhin blieb aus den bitteren Lehren dieſer entſetzlichen Kriegsjahre mindeſtens ein großer und neuer Gedanke als ein Gemeingut der politiſchen Welt zurück: ſelbſt die frivolen Durchſchnittsmenſchen der Diplomatie fingen an zu begreifen, daß der Staat doch nicht blos Macht iſt, wie das alte Jahrhundert ge- wähnt hatte, daß ſein Leben doch nicht allein in der Belauerung und behenden Uebervortheilung der Nachbarmächte aufgeht. Der Anblick jener Triumphe, welche der Revolution und ihrem gekrönten Helden durch die Zwietracht der alten Mächte bereitet wurden, hatte doch endlich ein leben- diges europäiſches Gemeingefühl erweckt. Die befreite Welt war ernſtlich geſonnen in einer friedlichen Staatengeſellſchaft zuſammenzuleben; ſie fühlte, daß den Staaten, trotz aller trennenden Intereſſen, eine Fülle großer Culturaufgaben gemeinſam war, die allein durch freundliche Ver- ſtändigung gelöſt werden konnten. Mochte die mechaniſche Staatsan- ſchauung vergangener Tage noch überwiegen, die gewiſſenloſe Staats- raiſon der alten Cabinetspolitik war bereits im Untergehen; und es bleibt das dauernde hiſtoriſche Verdienſt des Wiener Congreſſes, daß er für den freundnachbarlichen Verkehr der Staatengeſellſchaft einige neue For- men und Regeln fand. Ein Fortſchritt war es doch, daß man ſich über die Vorſchriften der internationalen Etikette, über die Rangordnung der

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 598. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/614>, abgerufen am 03.05.2024.