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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 5. Ende der Kriegszeit.
mit jener feierlichen Salbung, die den Bourbonen wohl gefiel, schilderte
dies besiegte Frankreich, das nach der Niederlage nichts für sich fordern
durfte, als den großmüthigen Beschützer der Schwachen und Bedrängten
und empfahl schließlich geradezu den Krieg für das "Recht" in Polen,
wenn Rußland nicht im Frieden zu bändigen sei. Der Tuilerienhof war
damals allein unter allen Großmächten kriegerischen Plänen nicht fremd,
wie selbst Wellington bald bemerkte. Die aus den deutschen Festungen
heimkehrenden Veteranen verlangten stürmisch die Wiedereroberung der
natürlichen Grenzen. Die Angst vor dem gefährlichen Narren auf Elba,
wie Fouche sagte, und die steigende Verwirrung im Innern drängten den
Bourbonen den Gedanken auf, wieder einmal durch das oft erprobte
Mittel des Waffenlärms die Leidenschaften der Parteien zu beschwichtigen.
König Ludwig billigte aus voller Seele die Denkschrift des Ministers, der
so geschickt die alten Ueberlieferungen der bourbonischen Politik mit dem
modischen Mantel der Legitimität zu umhüllen wußte. Am Lebhaftesten
beschäftigte den König das Schicksal seines sächsischen Vetters; er schrieb
dem Gefangenen ermuthigende Briefe und gab noch beim Abschied dem
Minister, als dieser nach Wien reiste, den gemessenen Befehl, um jeden
Preis dem Verwandten der ältesten und vornehmsten Dynastie sein Erb-
land zu retten.

So die Gesinnungen Oesterreichs und der Westmächte. Da zudem
die sämmtlichen kleinen deutschen Höfe der Vergrößerung Preußens leiden-
schaftlich widerstrebten, so war offenbar schon vor dem Congresse der
Boden geebnet für das französisch-englisch-österreichische Bündniß, das
Talleyrand seit Jahren wünschte. Die italienische Frage, die einzige,
welche Frankreich und Oesterreich hätte trennen können, trat neben der
deutschen in den Hintergrund. Preußen durfte nicht hoffen, alle seine
Ansprüche, wie billig sie auch waren, vor dem hohen Rathe Europas
durchzusetzen. Wollte Hardenberg nicht ganz vereinsamt in die Kämpfe
des Congresses eintreten, so mußte er ein unvermeidliches Opfer bringen
und eine klare Verständigung mit Rußland herbeiführen. Die polnische
Frage war bei gutem Willen hüben und drüben keineswegs unlösbar.
Der Staatskanzler konnte, ohne ein Lebensinteresse seines Staates zu
schädigen, Kalisch, Czenstochau und das militärisch werthlose Land zwi-
schen Prosna und Wartha an Rußland dahin geben, wenn er dafür das
deutsche Thorn nebst dem Kulmerlande und Rußlands treuen Beistand in
allen deutschen Gebietsfragen gewann. Selbst die polnische Königskrone
Alexanders verlor bei nüchterner Prüfung viel von ihren Schrecken. Der
Plan des Czaren war unzweifelhaft eine phantastische Thorheit, doch ebenso
gewiß weit gefährlicher für Rußland selbst als für Preußen. Alexander
verwickelte sich durch seine polnische Krone in unabsehbare Händel, die den
russischen Staat auf Jahre hinaus beschäftigen und schwächen mußten;
Preußen dagegen konnte mit einiger Zuversicht hoffen, durch eine strenge

I. 5. Ende der Kriegszeit.
mit jener feierlichen Salbung, die den Bourbonen wohl gefiel, ſchilderte
dies beſiegte Frankreich, das nach der Niederlage nichts für ſich fordern
durfte, als den großmüthigen Beſchützer der Schwachen und Bedrängten
und empfahl ſchließlich geradezu den Krieg für das „Recht“ in Polen,
wenn Rußland nicht im Frieden zu bändigen ſei. Der Tuilerienhof war
damals allein unter allen Großmächten kriegeriſchen Plänen nicht fremd,
wie ſelbſt Wellington bald bemerkte. Die aus den deutſchen Feſtungen
heimkehrenden Veteranen verlangten ſtürmiſch die Wiedereroberung der
natürlichen Grenzen. Die Angſt vor dem gefährlichen Narren auf Elba,
wie Fouché ſagte, und die ſteigende Verwirrung im Innern drängten den
Bourbonen den Gedanken auf, wieder einmal durch das oft erprobte
Mittel des Waffenlärms die Leidenſchaften der Parteien zu beſchwichtigen.
König Ludwig billigte aus voller Seele die Denkſchrift des Miniſters, der
ſo geſchickt die alten Ueberlieferungen der bourboniſchen Politik mit dem
modiſchen Mantel der Legitimität zu umhüllen wußte. Am Lebhafteſten
beſchäftigte den König das Schickſal ſeines ſächſiſchen Vetters; er ſchrieb
dem Gefangenen ermuthigende Briefe und gab noch beim Abſchied dem
Miniſter, als dieſer nach Wien reiſte, den gemeſſenen Befehl, um jeden
Preis dem Verwandten der älteſten und vornehmſten Dynaſtie ſein Erb-
land zu retten.

So die Geſinnungen Oeſterreichs und der Weſtmächte. Da zudem
die ſämmtlichen kleinen deutſchen Höfe der Vergrößerung Preußens leiden-
ſchaftlich widerſtrebten, ſo war offenbar ſchon vor dem Congreſſe der
Boden geebnet für das franzöſiſch-engliſch-öſterreichiſche Bündniß, das
Talleyrand ſeit Jahren wünſchte. Die italieniſche Frage, die einzige,
welche Frankreich und Oeſterreich hätte trennen können, trat neben der
deutſchen in den Hintergrund. Preußen durfte nicht hoffen, alle ſeine
Anſprüche, wie billig ſie auch waren, vor dem hohen Rathe Europas
durchzuſetzen. Wollte Hardenberg nicht ganz vereinſamt in die Kämpfe
des Congreſſes eintreten, ſo mußte er ein unvermeidliches Opfer bringen
und eine klare Verſtändigung mit Rußland herbeiführen. Die polniſche
Frage war bei gutem Willen hüben und drüben keineswegs unlösbar.
Der Staatskanzler konnte, ohne ein Lebensintereſſe ſeines Staates zu
ſchädigen, Kaliſch, Czenſtochau und das militäriſch werthloſe Land zwi-
ſchen Prosna und Wartha an Rußland dahin geben, wenn er dafür das
deutſche Thorn nebſt dem Kulmerlande und Rußlands treuen Beiſtand in
allen deutſchen Gebietsfragen gewann. Selbſt die polniſche Königskrone
Alexanders verlor bei nüchterner Prüfung viel von ihren Schrecken. Der
Plan des Czaren war unzweifelhaft eine phantaſtiſche Thorheit, doch ebenſo
gewiß weit gefährlicher für Rußland ſelbſt als für Preußen. Alexander
verwickelte ſich durch ſeine polniſche Krone in unabſehbare Händel, die den
ruſſiſchen Staat auf Jahre hinaus beſchäftigen und ſchwächen mußten;
Preußen dagegen konnte mit einiger Zuverſicht hoffen, durch eine ſtrenge

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[578/0594] I. 5. Ende der Kriegszeit. mit jener feierlichen Salbung, die den Bourbonen wohl gefiel, ſchilderte dies beſiegte Frankreich, das nach der Niederlage nichts für ſich fordern durfte, als den großmüthigen Beſchützer der Schwachen und Bedrängten und empfahl ſchließlich geradezu den Krieg für das „Recht“ in Polen, wenn Rußland nicht im Frieden zu bändigen ſei. Der Tuilerienhof war damals allein unter allen Großmächten kriegeriſchen Plänen nicht fremd, wie ſelbſt Wellington bald bemerkte. Die aus den deutſchen Feſtungen heimkehrenden Veteranen verlangten ſtürmiſch die Wiedereroberung der natürlichen Grenzen. Die Angſt vor dem gefährlichen Narren auf Elba, wie Fouché ſagte, und die ſteigende Verwirrung im Innern drängten den Bourbonen den Gedanken auf, wieder einmal durch das oft erprobte Mittel des Waffenlärms die Leidenſchaften der Parteien zu beſchwichtigen. König Ludwig billigte aus voller Seele die Denkſchrift des Miniſters, der ſo geſchickt die alten Ueberlieferungen der bourboniſchen Politik mit dem modiſchen Mantel der Legitimität zu umhüllen wußte. Am Lebhafteſten beſchäftigte den König das Schickſal ſeines ſächſiſchen Vetters; er ſchrieb dem Gefangenen ermuthigende Briefe und gab noch beim Abſchied dem Miniſter, als dieſer nach Wien reiſte, den gemeſſenen Befehl, um jeden Preis dem Verwandten der älteſten und vornehmſten Dynaſtie ſein Erb- land zu retten. So die Geſinnungen Oeſterreichs und der Weſtmächte. Da zudem die ſämmtlichen kleinen deutſchen Höfe der Vergrößerung Preußens leiden- ſchaftlich widerſtrebten, ſo war offenbar ſchon vor dem Congreſſe der Boden geebnet für das franzöſiſch-engliſch-öſterreichiſche Bündniß, das Talleyrand ſeit Jahren wünſchte. Die italieniſche Frage, die einzige, welche Frankreich und Oeſterreich hätte trennen können, trat neben der deutſchen in den Hintergrund. Preußen durfte nicht hoffen, alle ſeine Anſprüche, wie billig ſie auch waren, vor dem hohen Rathe Europas durchzuſetzen. Wollte Hardenberg nicht ganz vereinſamt in die Kämpfe des Congreſſes eintreten, ſo mußte er ein unvermeidliches Opfer bringen und eine klare Verſtändigung mit Rußland herbeiführen. Die polniſche Frage war bei gutem Willen hüben und drüben keineswegs unlösbar. Der Staatskanzler konnte, ohne ein Lebensintereſſe ſeines Staates zu ſchädigen, Kaliſch, Czenſtochau und das militäriſch werthloſe Land zwi- ſchen Prosna und Wartha an Rußland dahin geben, wenn er dafür das deutſche Thorn nebſt dem Kulmerlande und Rußlands treuen Beiſtand in allen deutſchen Gebietsfragen gewann. Selbſt die polniſche Königskrone Alexanders verlor bei nüchterner Prüfung viel von ihren Schrecken. Der Plan des Czaren war unzweifelhaft eine phantaſtiſche Thorheit, doch ebenſo gewiß weit gefährlicher für Rußland ſelbſt als für Preußen. Alexander verwickelte ſich durch ſeine polniſche Krone in unabſehbare Händel, die den ruſſiſchen Staat auf Jahre hinaus beſchäftigen und ſchwächen mußten; Preußen dagegen konnte mit einiger Zuverſicht hoffen, durch eine ſtrenge

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/594>, abgerufen am 22.11.2024.