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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die Heimkehr.
einzelne denkende Patrioten über den faulen Frieden klagten. Den ganzen
Sommer über lag der helle Sonnenschein dankbarer Freude über den
altpreußischen Landen. Was hatte dies Volk gelitten! Vor wenigen Mo-
naten erst hatte die Hauptstadt den Donner der Schlacht dicht vor ihren
Mauern gehört, verwüstet lagen die Felder, kahl und schmucklos die
Zimmer, kaum ein Haus das nicht den Tod eines Sohnes, eines Bruders
betrauerte, und nun war das Höchste doch gelungen, das wälsche Babel
war gebändigt, das den Daheimgebliebenen ganz unerreichbar, ganz aus
der Welt zu liegen schien. Es war der Wunder genug für ein kurzes
Jahr; wer hätte klagen mögen? So glückliche Stunden hatte Berlin seit
Friedrichs Zeiten nicht mehr erlebt, wie an jenem sonnigen Apriltage, da
der Flügeladjutant Graf Schwerin die erste Nachricht von der Schlacht
vor Paris überbrachte. Nach dem alten fridericianischen Brauche ritt der
Curier mit einem Geschwader blasender Postillone zum Potsdamer Thore
ein; dann die Wilhelmsstraße hinunter, vorbei an dem Dönhoff'schen Hause,
wo seine schöne junge Frau im Fenster lag und vor Wonne fast vergehen
wollte. Dann die Linden entlang zum Gouverneur, dem alten Lestocq;
der ritterliche Mann hatte in seinen hohen Jahren dem Heere nicht mehr
folgen dürfen und pries mit neidloser Freude die Jungen, die so viel
glücklicher gewesen als er selber einst bei Eylau. Dann weiter zu den
Palästen der Prinzessinnen und der Minister. Ueberall dicht gedrängte
jauchzende Massen, überall der Ruf: "der Curier, der Curier! Paris ist
über!" -- und nachher hieß es wieder: "das ist ja der Graf Schwerin,"
denn in diesen unschuldigen Tagen kannte man einander noch. Nur
Einer nahm an dem Jubel dieses großen Berliner Familienfestes nicht
theil: der böse alte Feldmarschall Kalkreuth, Tilsiter Andenkens; der war
ein verstockter Franzose geblieben und ließ seinen Aerger aus durch frivole
Späßchen wider das neue Teutonenthum. Ein zweiter großer Freuden-
tag kam im Juli. Ganz Berlin war auf den Beinen, Tausende harrten
stundenlang in der warmen Sommernacht draußen im Thiergarten, bis
endlich unter dem Hurrahruf der Menge ein riesiger Lastwagen herankam,
wohl von zwanzig Rossen mühsam gezogen; obenauf stand ein großer Holz-
kasten, über und über bedeckt mit Namen, Versen, Inschriften aller Art von
der Hand guter Preußen, die dem sonderbaren Gefährt unterwegs ihren
Willkommgruß mit auf die weite Reise gegeben. Es war die Victoria vom
Brandenburger Thore. Wie oft hatten die Berliner Bürger, alle diese
bösen Jahre über, ingrimmig aufgeblickt zu der langen Eisenstange auf
dem Thore, woran einst die Quadriga befestigt gewesen; man erzählte
gern, daß der Turnvater Jahn einmal einen kleinen Teutonen geohrfeigt
hatte, weil der Junge nicht zu sagen wußte was er sich bei dem Anblick
der Stange denken sollte. Die entführte Siegesgöttin erschien dem Volke
wie das Symbol altpreußischer Ehre; nun hatte man sie wieder nach
ehrlichem Kampfe und Alles war in Ordnung.

Die Heimkehr.
einzelne denkende Patrioten über den faulen Frieden klagten. Den ganzen
Sommer über lag der helle Sonnenſchein dankbarer Freude über den
altpreußiſchen Landen. Was hatte dies Volk gelitten! Vor wenigen Mo-
naten erſt hatte die Hauptſtadt den Donner der Schlacht dicht vor ihren
Mauern gehört, verwüſtet lagen die Felder, kahl und ſchmucklos die
Zimmer, kaum ein Haus das nicht den Tod eines Sohnes, eines Bruders
betrauerte, und nun war das Höchſte doch gelungen, das wälſche Babel
war gebändigt, das den Daheimgebliebenen ganz unerreichbar, ganz aus
der Welt zu liegen ſchien. Es war der Wunder genug für ein kurzes
Jahr; wer hätte klagen mögen? So glückliche Stunden hatte Berlin ſeit
Friedrichs Zeiten nicht mehr erlebt, wie an jenem ſonnigen Apriltage, da
der Flügeladjutant Graf Schwerin die erſte Nachricht von der Schlacht
vor Paris überbrachte. Nach dem alten fridericianiſchen Brauche ritt der
Curier mit einem Geſchwader blaſender Poſtillone zum Potsdamer Thore
ein; dann die Wilhelmsſtraße hinunter, vorbei an dem Dönhoff’ſchen Hauſe,
wo ſeine ſchöne junge Frau im Fenſter lag und vor Wonne faſt vergehen
wollte. Dann die Linden entlang zum Gouverneur, dem alten Leſtocq;
der ritterliche Mann hatte in ſeinen hohen Jahren dem Heere nicht mehr
folgen dürfen und pries mit neidloſer Freude die Jungen, die ſo viel
glücklicher geweſen als er ſelber einſt bei Eylau. Dann weiter zu den
Paläſten der Prinzeſſinnen und der Miniſter. Ueberall dicht gedrängte
jauchzende Maſſen, überall der Ruf: „der Curier, der Curier! Paris iſt
über!“ — und nachher hieß es wieder: „das iſt ja der Graf Schwerin,“
denn in dieſen unſchuldigen Tagen kannte man einander noch. Nur
Einer nahm an dem Jubel dieſes großen Berliner Familienfeſtes nicht
theil: der böſe alte Feldmarſchall Kalkreuth, Tilſiter Andenkens; der war
ein verſtockter Franzoſe geblieben und ließ ſeinen Aerger aus durch frivole
Späßchen wider das neue Teutonenthum. Ein zweiter großer Freuden-
tag kam im Juli. Ganz Berlin war auf den Beinen, Tauſende harrten
ſtundenlang in der warmen Sommernacht draußen im Thiergarten, bis
endlich unter dem Hurrahruf der Menge ein rieſiger Laſtwagen herankam,
wohl von zwanzig Roſſen mühſam gezogen; obenauf ſtand ein großer Holz-
kaſten, über und über bedeckt mit Namen, Verſen, Inſchriften aller Art von
der Hand guter Preußen, die dem ſonderbaren Gefährt unterwegs ihren
Willkommgruß mit auf die weite Reiſe gegeben. Es war die Victoria vom
Brandenburger Thore. Wie oft hatten die Berliner Bürger, alle dieſe
böſen Jahre über, ingrimmig aufgeblickt zu der langen Eiſenſtange auf
dem Thore, woran einſt die Quadriga befeſtigt geweſen; man erzählte
gern, daß der Turnvater Jahn einmal einen kleinen Teutonen geohrfeigt
hatte, weil der Junge nicht zu ſagen wußte was er ſich bei dem Anblick
der Stange denken ſollte. Die entführte Siegesgöttin erſchien dem Volke
wie das Symbol altpreußiſcher Ehre; nun hatte man ſie wieder nach
ehrlichem Kampfe und Alles war in Ordnung.

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[569/0585] Die Heimkehr. einzelne denkende Patrioten über den faulen Frieden klagten. Den ganzen Sommer über lag der helle Sonnenſchein dankbarer Freude über den altpreußiſchen Landen. Was hatte dies Volk gelitten! Vor wenigen Mo- naten erſt hatte die Hauptſtadt den Donner der Schlacht dicht vor ihren Mauern gehört, verwüſtet lagen die Felder, kahl und ſchmucklos die Zimmer, kaum ein Haus das nicht den Tod eines Sohnes, eines Bruders betrauerte, und nun war das Höchſte doch gelungen, das wälſche Babel war gebändigt, das den Daheimgebliebenen ganz unerreichbar, ganz aus der Welt zu liegen ſchien. Es war der Wunder genug für ein kurzes Jahr; wer hätte klagen mögen? So glückliche Stunden hatte Berlin ſeit Friedrichs Zeiten nicht mehr erlebt, wie an jenem ſonnigen Apriltage, da der Flügeladjutant Graf Schwerin die erſte Nachricht von der Schlacht vor Paris überbrachte. Nach dem alten fridericianiſchen Brauche ritt der Curier mit einem Geſchwader blaſender Poſtillone zum Potsdamer Thore ein; dann die Wilhelmsſtraße hinunter, vorbei an dem Dönhoff’ſchen Hauſe, wo ſeine ſchöne junge Frau im Fenſter lag und vor Wonne faſt vergehen wollte. Dann die Linden entlang zum Gouverneur, dem alten Leſtocq; der ritterliche Mann hatte in ſeinen hohen Jahren dem Heere nicht mehr folgen dürfen und pries mit neidloſer Freude die Jungen, die ſo viel glücklicher geweſen als er ſelber einſt bei Eylau. Dann weiter zu den Paläſten der Prinzeſſinnen und der Miniſter. Ueberall dicht gedrängte jauchzende Maſſen, überall der Ruf: „der Curier, der Curier! Paris iſt über!“ — und nachher hieß es wieder: „das iſt ja der Graf Schwerin,“ denn in dieſen unſchuldigen Tagen kannte man einander noch. Nur Einer nahm an dem Jubel dieſes großen Berliner Familienfeſtes nicht theil: der böſe alte Feldmarſchall Kalkreuth, Tilſiter Andenkens; der war ein verſtockter Franzoſe geblieben und ließ ſeinen Aerger aus durch frivole Späßchen wider das neue Teutonenthum. Ein zweiter großer Freuden- tag kam im Juli. Ganz Berlin war auf den Beinen, Tauſende harrten ſtundenlang in der warmen Sommernacht draußen im Thiergarten, bis endlich unter dem Hurrahruf der Menge ein rieſiger Laſtwagen herankam, wohl von zwanzig Roſſen mühſam gezogen; obenauf ſtand ein großer Holz- kaſten, über und über bedeckt mit Namen, Verſen, Inſchriften aller Art von der Hand guter Preußen, die dem ſonderbaren Gefährt unterwegs ihren Willkommgruß mit auf die weite Reiſe gegeben. Es war die Victoria vom Brandenburger Thore. Wie oft hatten die Berliner Bürger, alle dieſe böſen Jahre über, ingrimmig aufgeblickt zu der langen Eiſenſtange auf dem Thore, woran einſt die Quadriga befeſtigt geweſen; man erzählte gern, daß der Turnvater Jahn einmal einen kleinen Teutonen geohrfeigt hatte, weil der Junge nicht zu ſagen wußte was er ſich bei dem Anblick der Stange denken ſollte. Die entführte Siegesgöttin erſchien dem Volke wie das Symbol altpreußiſcher Ehre; nun hatte man ſie wieder nach ehrlichem Kampfe und Alles war in Ordnung.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 569. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/585>, abgerufen am 23.11.2024.