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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 5. Ende der Kriegszeit.
allein sein Hochmuth über die Welt verhängt, um hundert Geviertmeilen
und mehr als eine Million Einwohner stärker denn zuvor.

Im Rausche seiner Großmuth wollte der Czar, allem völkerrechtlichen
Brauche zuwider, dem Besiegten die Bezahlung der Kriegskosten erlassen;
er fand es unedel, diesem wohlhabenden, durch die Ausplünderung aller
Länder bereicherten Frankreich einen bescheidenen Theil des ruchlosen
Raubes wieder abzunehmen. Da auch Oesterreich und England dieser
eigenthümlichen Ansicht beistimmten, so mußten die Preußen nach lebhaf-
tem Widerstreben sich fügen und verzichteten auf jede Vergeltung für die
unerschwingliche Tilsiter Contribution. Es war, als wollte man die
Franzosen absichtlich bestärken in dem übermüthigen Wahne, daß für sie
allein das Völkerrecht nicht vorhanden sei. Außerdem hatte Preußen noch
die Rückerstattung der von ihm an Frankreich gezahlten Vorschüsse zu
fordern. Das Finanzministerium berechnete, sehr niedrig: 136 Mill. für
den Durchmarsch der großen Armee nach Rußland, ferner 10,7 Mill. für
die vertragswidrig erpreßten Leistungen und Lieferungen aus den Jahren
1808--12, endlich über 23 Mill. rückständige Zahlungen an das Königreich
Sachsen und die Stadt Danzig, die man beide schon als preußische Ge-
biete ansah, zusammen 169,8 Mill. Fr. Die Zahlung dieser Summe
war eine Lebensfrage für die preußischen Finanzen; der ungleiche Kampf
hatte den Staatshaushalt dermaßen erschöpft, daß Hardenberg eben jetzt
bei Lord Castlereagh dringend um ein sofortiges baares Darlehen von --
100,000 Pfd. St. bitten mußte! Alle jene Millionen waren für den Un-
terhalt der französischen Armee verwendet worden, an der Rechtmäßigkeit
der Schuldforderung bestand gar kein Zweifel. Hardenberg hielt die Be-
richtigung der Schuld jetzt um so mehr für unausbleiblich, da ja im
letzten Frühjahr die vertragswidrige Verweigerung der Zahlung der un-
anfechtbare Rechtsgrund für Preußens Kriegserklärung gewesen war.
Darum hatte er auch versäumt, während des Krieges eine Bürgschaft der
Alliirten für seine Ansprüche zu verlangen.

Es war eine folgenschwere Unterlassungssünde, freilich ein Fehler,
den wohl auch ein minder vertrauensvoller Staatsmann als Hardenberg
war hätte begehen können; denn wer mochte glauben, daß eine so sonnen-
klare, unbestreitbare Forderung nicht die Unterstützung der Bundesgenossen
finden würde? Als Preußen seine Rechnung dem Congresse zuerst vor-
legte, widersprach Niemand unter den Verbündeten. In der Sitzung vom
17. Mai verlangte Humboldt sodann eine bestimmte Erklärung der Fran-
zosen. Da erwiderte Laforest: sein König habe ihm unbedingt verboten
über diese Frage auch nur zu verhandeln -- und zwar unmittelbar nach
einem Gespräche mit dem Czaren.*) Nachher erfuhr der preußische Be-
vollmächtigte vertraulich von Metternich und Anstett: die beiden Kaiser-

*) Humboldts Bericht an den Staatskanzler über die Sitzung v. 17. Mai 1814.

I. 5. Ende der Kriegszeit.
allein ſein Hochmuth über die Welt verhängt, um hundert Geviertmeilen
und mehr als eine Million Einwohner ſtärker denn zuvor.

Im Rauſche ſeiner Großmuth wollte der Czar, allem völkerrechtlichen
Brauche zuwider, dem Beſiegten die Bezahlung der Kriegskoſten erlaſſen;
er fand es unedel, dieſem wohlhabenden, durch die Ausplünderung aller
Länder bereicherten Frankreich einen beſcheidenen Theil des ruchloſen
Raubes wieder abzunehmen. Da auch Oeſterreich und England dieſer
eigenthümlichen Anſicht beiſtimmten, ſo mußten die Preußen nach lebhaf-
tem Widerſtreben ſich fügen und verzichteten auf jede Vergeltung für die
unerſchwingliche Tilſiter Contribution. Es war, als wollte man die
Franzoſen abſichtlich beſtärken in dem übermüthigen Wahne, daß für ſie
allein das Völkerrecht nicht vorhanden ſei. Außerdem hatte Preußen noch
die Rückerſtattung der von ihm an Frankreich gezahlten Vorſchüſſe zu
fordern. Das Finanzminiſterium berechnete, ſehr niedrig: 136 Mill. für
den Durchmarſch der großen Armee nach Rußland, ferner 10,7 Mill. für
die vertragswidrig erpreßten Leiſtungen und Lieferungen aus den Jahren
1808—12, endlich über 23 Mill. rückſtändige Zahlungen an das Königreich
Sachſen und die Stadt Danzig, die man beide ſchon als preußiſche Ge-
biete anſah, zuſammen 169,8 Mill. Fr. Die Zahlung dieſer Summe
war eine Lebensfrage für die preußiſchen Finanzen; der ungleiche Kampf
hatte den Staatshaushalt dermaßen erſchöpft, daß Hardenberg eben jetzt
bei Lord Caſtlereagh dringend um ein ſofortiges baares Darlehen von —
100,000 Pfd. St. bitten mußte! Alle jene Millionen waren für den Un-
terhalt der franzöſiſchen Armee verwendet worden, an der Rechtmäßigkeit
der Schuldforderung beſtand gar kein Zweifel. Hardenberg hielt die Be-
richtigung der Schuld jetzt um ſo mehr für unausbleiblich, da ja im
letzten Frühjahr die vertragswidrige Verweigerung der Zahlung der un-
anfechtbare Rechtsgrund für Preußens Kriegserklärung geweſen war.
Darum hatte er auch verſäumt, während des Krieges eine Bürgſchaft der
Alliirten für ſeine Anſprüche zu verlangen.

Es war eine folgenſchwere Unterlaſſungsſünde, freilich ein Fehler,
den wohl auch ein minder vertrauensvoller Staatsmann als Hardenberg
war hätte begehen können; denn wer mochte glauben, daß eine ſo ſonnen-
klare, unbeſtreitbare Forderung nicht die Unterſtützung der Bundesgenoſſen
finden würde? Als Preußen ſeine Rechnung dem Congreſſe zuerſt vor-
legte, widerſprach Niemand unter den Verbündeten. In der Sitzung vom
17. Mai verlangte Humboldt ſodann eine beſtimmte Erklärung der Fran-
zoſen. Da erwiderte Laforeſt: ſein König habe ihm unbedingt verboten
über dieſe Frage auch nur zu verhandeln — und zwar unmittelbar nach
einem Geſpräche mit dem Czaren.*) Nachher erfuhr der preußiſche Be-
vollmächtigte vertraulich von Metternich und Anſtett: die beiden Kaiſer-

*) Humboldts Bericht an den Staatskanzler über die Sitzung v. 17. Mai 1814.
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[560/0576] I. 5. Ende der Kriegszeit. allein ſein Hochmuth über die Welt verhängt, um hundert Geviertmeilen und mehr als eine Million Einwohner ſtärker denn zuvor. Im Rauſche ſeiner Großmuth wollte der Czar, allem völkerrechtlichen Brauche zuwider, dem Beſiegten die Bezahlung der Kriegskoſten erlaſſen; er fand es unedel, dieſem wohlhabenden, durch die Ausplünderung aller Länder bereicherten Frankreich einen beſcheidenen Theil des ruchloſen Raubes wieder abzunehmen. Da auch Oeſterreich und England dieſer eigenthümlichen Anſicht beiſtimmten, ſo mußten die Preußen nach lebhaf- tem Widerſtreben ſich fügen und verzichteten auf jede Vergeltung für die unerſchwingliche Tilſiter Contribution. Es war, als wollte man die Franzoſen abſichtlich beſtärken in dem übermüthigen Wahne, daß für ſie allein das Völkerrecht nicht vorhanden ſei. Außerdem hatte Preußen noch die Rückerſtattung der von ihm an Frankreich gezahlten Vorſchüſſe zu fordern. Das Finanzminiſterium berechnete, ſehr niedrig: 136 Mill. für den Durchmarſch der großen Armee nach Rußland, ferner 10,7 Mill. für die vertragswidrig erpreßten Leiſtungen und Lieferungen aus den Jahren 1808—12, endlich über 23 Mill. rückſtändige Zahlungen an das Königreich Sachſen und die Stadt Danzig, die man beide ſchon als preußiſche Ge- biete anſah, zuſammen 169,8 Mill. Fr. Die Zahlung dieſer Summe war eine Lebensfrage für die preußiſchen Finanzen; der ungleiche Kampf hatte den Staatshaushalt dermaßen erſchöpft, daß Hardenberg eben jetzt bei Lord Caſtlereagh dringend um ein ſofortiges baares Darlehen von — 100,000 Pfd. St. bitten mußte! Alle jene Millionen waren für den Un- terhalt der franzöſiſchen Armee verwendet worden, an der Rechtmäßigkeit der Schuldforderung beſtand gar kein Zweifel. Hardenberg hielt die Be- richtigung der Schuld jetzt um ſo mehr für unausbleiblich, da ja im letzten Frühjahr die vertragswidrige Verweigerung der Zahlung der un- anfechtbare Rechtsgrund für Preußens Kriegserklärung geweſen war. Darum hatte er auch verſäumt, während des Krieges eine Bürgſchaft der Alliirten für ſeine Anſprüche zu verlangen. Es war eine folgenſchwere Unterlaſſungsſünde, freilich ein Fehler, den wohl auch ein minder vertrauensvoller Staatsmann als Hardenberg war hätte begehen können; denn wer mochte glauben, daß eine ſo ſonnen- klare, unbeſtreitbare Forderung nicht die Unterſtützung der Bundesgenoſſen finden würde? Als Preußen ſeine Rechnung dem Congreſſe zuerſt vor- legte, widerſprach Niemand unter den Verbündeten. In der Sitzung vom 17. Mai verlangte Humboldt ſodann eine beſtimmte Erklärung der Fran- zoſen. Da erwiderte Laforeſt: ſein König habe ihm unbedingt verboten über dieſe Frage auch nur zu verhandeln — und zwar unmittelbar nach einem Geſpräche mit dem Czaren. *) Nachher erfuhr der preußiſche Be- vollmächtigte vertraulich von Metternich und Anſtett: die beiden Kaiſer- *) Humboldts Bericht an den Staatskanzler über die Sitzung v. 17. Mai 1814.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 560. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/576>, abgerufen am 22.11.2024.