immer ein unauslöschlicher Abscheu vor dem Kriege, ein tiefes, für minder heimgesuchte Zeiten fast unverständliches Friedensbedürfniß.
Am 24. October besuchte König Friedrich Wilhelm seine Hauptstadt. Es drängte ihn am Grabe seiner Gemahlin zu beten, denn überall auf dieser wilden Kriegsfahrt war ihr Bild ihm zur Seite gewesen, und auch unter den Truppen hieß es immer wieder: warum durfte die Königin das nicht mehr erleben? Dann erschien er im Theater; das Heil Dir im Siegerkranz brauste durch den Saal, diesmal mit besserem Rechte als einst da das dünkelhafte Geschlecht der neunziger Jahre sich zuerst an den prächtigen Klängen weidete. Vor sieben Jahren am nämlichen Tage war Na- poleon durch das Brandenburger Thor eingeritten, und welch ein Wandel seitdem! Wie hatte sich doch dieser verstümmelte Staat mit seinen fünf Millionen Menschen wieder aufgeschwungen auf die Höhen der Geschichte! Mochten die Männer der Kriegspartei von 1811 geirrt haben in der Wahl des Augenblicks, zu groß hatten sie nicht gedacht von ihrem Volke. Jetzt galt er wieder, der alte Wahlspruch Nec soli cedit! In jenen Tagen schrieb eine englische Zeitung: "Wer gab Deutschland das erste Bei- spiel des Abfalls von Napoleon? Die Preußen. Wer hielt die Schlachten von Lützen und Bautzen? Die Preußen. Wer siegte bei Haynau? Die Preußen. Wer bei Großbeeren, bei Katzbach und Dennewitz? Immer die Preußen. Wer bei Culm, Wartenburg, Möckern und Leipzig? Die Preußen, immer die Preußen." Wie eine Drohung klang dies stolze the Prussians, ever the Prussians! dem Kaiser Franz und den Fürsten des Rheinbundes. Welcher Zukunft ging Deutschland entgegen, wenn dieser Staat seine alte Macht zurück erlangte?
Durch die Leipziger Schlacht war das ursprüngliche Ziel des Krieges gesichert: die Auflösung des Rheinbundes und die Befreiung Deutschlands bis zum Rheine. Aber mit dem Erfolge wuchs die Hoffnung. Am Tage nach dem Sturme trafen sich Stein und Gneisenau auf dem Markte zu Leipzig und gaben einander die Hand darauf, daß dieser Kampf nicht anders enden dürfe als mit dem Sturze Napoleons und der Wieder- eroberung des linken Rheinufers. Was vor wenigen Wochen noch den Kühnen selber unmöglich däuchte erschien jetzt mit einem male nah und erreichbar. Auf Steins Geheiß ging der getreue Arndt sofort an die Arbeit; er sammelte aus dem reichen Schatze seines Wissens alle die histo- rischen Erinnerungen und romantischen Bilder, deren er bedurfte um auf sein gelehrtes Volk zu wirken, und lebte sich ein in eine Anschauung, welche damals noch neu, bald eine treibende Kraft des Jahrhunderts wer- den sollte: in den Gedanken, daß am letzten Ende die Sprache und histo- rische Eigenart der Nationen die Grenzen der Staaten bestimme. Und so, noch unter dem frischen Eindruck "der herrlichen Schlacht", schrieb er das wirksamste seiner Bücher, die fröhliche Losung für die Kämpfe der nächsten Monate: der Rhein Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze!
I. 4. Der Befreiungskrieg.
immer ein unauslöſchlicher Abſcheu vor dem Kriege, ein tiefes, für minder heimgeſuchte Zeiten faſt unverſtändliches Friedensbedürfniß.
Am 24. October beſuchte König Friedrich Wilhelm ſeine Hauptſtadt. Es drängte ihn am Grabe ſeiner Gemahlin zu beten, denn überall auf dieſer wilden Kriegsfahrt war ihr Bild ihm zur Seite geweſen, und auch unter den Truppen hieß es immer wieder: warum durfte die Königin das nicht mehr erleben? Dann erſchien er im Theater; das Heil Dir im Siegerkranz brauſte durch den Saal, diesmal mit beſſerem Rechte als einſt da das dünkelhafte Geſchlecht der neunziger Jahre ſich zuerſt an den prächtigen Klängen weidete. Vor ſieben Jahren am nämlichen Tage war Na- poleon durch das Brandenburger Thor eingeritten, und welch ein Wandel ſeitdem! Wie hatte ſich doch dieſer verſtümmelte Staat mit ſeinen fünf Millionen Menſchen wieder aufgeſchwungen auf die Höhen der Geſchichte! Mochten die Männer der Kriegspartei von 1811 geirrt haben in der Wahl des Augenblicks, zu groß hatten ſie nicht gedacht von ihrem Volke. Jetzt galt er wieder, der alte Wahlſpruch Nec soli cedit! In jenen Tagen ſchrieb eine engliſche Zeitung: „Wer gab Deutſchland das erſte Bei- ſpiel des Abfalls von Napoleon? Die Preußen. Wer hielt die Schlachten von Lützen und Bautzen? Die Preußen. Wer ſiegte bei Haynau? Die Preußen. Wer bei Großbeeren, bei Katzbach und Dennewitz? Immer die Preußen. Wer bei Culm, Wartenburg, Möckern und Leipzig? Die Preußen, immer die Preußen.“ Wie eine Drohung klang dies ſtolze the Prussians, ever the Prussians! dem Kaiſer Franz und den Fürſten des Rheinbundes. Welcher Zukunft ging Deutſchland entgegen, wenn dieſer Staat ſeine alte Macht zurück erlangte?
Durch die Leipziger Schlacht war das urſprüngliche Ziel des Krieges geſichert: die Auflöſung des Rheinbundes und die Befreiung Deutſchlands bis zum Rheine. Aber mit dem Erfolge wuchs die Hoffnung. Am Tage nach dem Sturme trafen ſich Stein und Gneiſenau auf dem Markte zu Leipzig und gaben einander die Hand darauf, daß dieſer Kampf nicht anders enden dürfe als mit dem Sturze Napoleons und der Wieder- eroberung des linken Rheinufers. Was vor wenigen Wochen noch den Kühnen ſelber unmöglich däuchte erſchien jetzt mit einem male nah und erreichbar. Auf Steins Geheiß ging der getreue Arndt ſofort an die Arbeit; er ſammelte aus dem reichen Schatze ſeines Wiſſens alle die hiſto- riſchen Erinnerungen und romantiſchen Bilder, deren er bedurfte um auf ſein gelehrtes Volk zu wirken, und lebte ſich ein in eine Anſchauung, welche damals noch neu, bald eine treibende Kraft des Jahrhunderts wer- den ſollte: in den Gedanken, daß am letzten Ende die Sprache und hiſto- riſche Eigenart der Nationen die Grenzen der Staaten beſtimme. Und ſo, noch unter dem friſchen Eindruck „der herrlichen Schlacht“, ſchrieb er das wirkſamſte ſeiner Bücher, die fröhliche Loſung für die Kämpfe der nächſten Monate: der Rhein Deutſchlands Strom, nicht Deutſchlands Grenze!
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I. 4. Der Befreiungskrieg.
immer ein unauslöſchlicher Abſcheu vor dem Kriege, ein tiefes, für minder
heimgeſuchte Zeiten faſt unverſtändliches Friedensbedürfniß.
Am 24. October beſuchte König Friedrich Wilhelm ſeine Hauptſtadt.
Es drängte ihn am Grabe ſeiner Gemahlin zu beten, denn überall auf
dieſer wilden Kriegsfahrt war ihr Bild ihm zur Seite geweſen, und auch
unter den Truppen hieß es immer wieder: warum durfte die Königin das
nicht mehr erleben? Dann erſchien er im Theater; das Heil Dir im
Siegerkranz brauſte durch den Saal, diesmal mit beſſerem Rechte als
einſt da das dünkelhafte Geſchlecht der neunziger Jahre ſich zuerſt an den
prächtigen Klängen weidete. Vor ſieben Jahren am nämlichen Tage war Na-
poleon durch das Brandenburger Thor eingeritten, und welch ein Wandel
ſeitdem! Wie hatte ſich doch dieſer verſtümmelte Staat mit ſeinen fünf
Millionen Menſchen wieder aufgeſchwungen auf die Höhen der Geſchichte!
Mochten die Männer der Kriegspartei von 1811 geirrt haben in der
Wahl des Augenblicks, zu groß hatten ſie nicht gedacht von ihrem Volke.
Jetzt galt er wieder, der alte Wahlſpruch Nec soli cedit! In jenen
Tagen ſchrieb eine engliſche Zeitung: „Wer gab Deutſchland das erſte Bei-
ſpiel des Abfalls von Napoleon? Die Preußen. Wer hielt die Schlachten
von Lützen und Bautzen? Die Preußen. Wer ſiegte bei Haynau? Die
Preußen. Wer bei Großbeeren, bei Katzbach und Dennewitz? Immer
die Preußen. Wer bei Culm, Wartenburg, Möckern und Leipzig? Die
Preußen, immer die Preußen.“ Wie eine Drohung klang dies ſtolze the
Prussians, ever the Prussians! dem Kaiſer Franz und den Fürſten des
Rheinbundes. Welcher Zukunft ging Deutſchland entgegen, wenn dieſer
Staat ſeine alte Macht zurück erlangte?
Durch die Leipziger Schlacht war das urſprüngliche Ziel des Krieges
geſichert: die Auflöſung des Rheinbundes und die Befreiung Deutſchlands
bis zum Rheine. Aber mit dem Erfolge wuchs die Hoffnung. Am Tage
nach dem Sturme trafen ſich Stein und Gneiſenau auf dem Markte zu
Leipzig und gaben einander die Hand darauf, daß dieſer Kampf nicht
anders enden dürfe als mit dem Sturze Napoleons und der Wieder-
eroberung des linken Rheinufers. Was vor wenigen Wochen noch den
Kühnen ſelber unmöglich däuchte erſchien jetzt mit einem male nah und
erreichbar. Auf Steins Geheiß ging der getreue Arndt ſofort an die
Arbeit; er ſammelte aus dem reichen Schatze ſeines Wiſſens alle die hiſto-
riſchen Erinnerungen und romantiſchen Bilder, deren er bedurfte um auf
ſein gelehrtes Volk zu wirken, und lebte ſich ein in eine Anſchauung,
welche damals noch neu, bald eine treibende Kraft des Jahrhunderts wer-
den ſollte: in den Gedanken, daß am letzten Ende die Sprache und hiſto-
riſche Eigenart der Nationen die Grenzen der Staaten beſtimme. Und ſo,
noch unter dem friſchen Eindruck „der herrlichen Schlacht“, ſchrieb er das
wirkſamſte ſeiner Bücher, die fröhliche Loſung für die Kämpfe der nächſten
Monate: der Rhein Deutſchlands Strom, nicht Deutſchlands Grenze!
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/522>, abgerufen am 23.11.2024.
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