Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Der 18. Oktober.
her geschleppt wurde; und sollten sie mit nach Frankreich entweichen, wenn
Napoleon die Schlacht verlor und Sachsen ganz in die Gewalt der Ver-
bündeten fiel? Selbst die Franzosen empfanden Mitleid mit der unnatür-
lichen Lage dieser Bundesgenossen; Reynier hatte bereits den Abmarsch der
Sachsen nach Torgau angeordnet, als das Anrücken der Nordarmee die
Ausführung des wohlgemeinten Befehles verhinderte. Nur König Fried-
rich August zeigte kein Verständniß für die Bedrängniß seiner Armee noch
für seine eigene Schande. Unwandelbar blieb sein Vertrauen auf den
Glücksstern des Großen Alliirten; noch während der Schlacht verwies er
seine Generale trocken auf ihre Soldatenpflicht als sie ihn baten die Tren-
nung des Contingents von dem französischen Heere zu gestatten. Die
deutsche Gutmüthigkeit wollte dem angestammten Herrn so viel Verblen-
dung nicht zutrauen. Die Offiziere glaubten fest, ihr König sei unfrei;
keineswegs in der Meinung ihren Fahneneid zu brechen, sondern in der
Absicht das kleine Heer dem Landesherrn zu erhalten beschlossen sie das
Aergste was der Soldat verschulden kann, den Uebergang in offener Feld-
schlacht. In der Gegend von Paunsdorf und Sellerhausen schlossen sich
etwa 3000 Mann der sächsischen Truppen an die Nordarmee an; mit
ihnen eine Reiterschaar aus Schwaben. Die Preußen und Russen nahmen
die Flüchtigen mit Freuden auf; nur den württembergischen General Nor-
mann, der einst bei Kitzen die Lützower verrätherisch überfallen hatte, wies
Gneisenau mit verächtlichen Worten zurück. Friedrich Wilhelms Ehrlich-
keit aber hielt den Vorwurf nicht zurück: wie viel edles Blut die Sachsen
dem Vaterlande ersparen konnten, wenn sie ihren Entschluß früher, vor
der Entscheidung, faßten! Der traurige Zwischenfall blieb ohne jeden Ein-
fluß auf den Ausgang der Völkerschlacht, doch warf er ein grelles Schlag-
licht auf die tiefe sittliche Fäulniß des kleinstaatlichen Lebens. Das Gewissen
des Volkes begann endlich irre zu werden an der Felonie des napoleo-
nischen Kleinkönigthums; trotz aller Lügenkünste particularistischer Volks-
verbildung erwachte wieder die Einsicht, daß auch nach dem Untergange
des alten Reiches die Deutschen noch ein Vaterland besaßen und ihm ver-
bunden waren durch heilige Pflichten.

Gegen 5 Uhr vereinigte Bülow sein ganzes Corps zu einem gemein-
samen Angriff, erstürmte Sellerhausen und Stüntz, drang am Abend bis
in die Kohlgärten vor, dicht an die östlichen Thore der Stadt. Da während-
dem auch Langeron auf der Rechten das hart umkämpfte Schönefeld end-
lich genommen hatte und ebenfalls gegen die Kohlgärten herandrängte, so
war Ney mit dem linken Flügel der Franzosen auf seiner ganzen Linie
geschlagen. Durch diese Niederlage ward Napoleons Stellung im Centrum
unhaltbar. Noch am Abend befahl er den Rückzug des gesammten Heeres.
Nun wälzten sich die dichten Massen der geschlagenen Armee durch drei
Thore zugleich in die Stadt hinein um dann allesammt in entsetzlicher
Verwirrung auf der Frankfurter Straße sich zu vereinigen. Daß dieser

Der 18. Oktober.
her geſchleppt wurde; und ſollten ſie mit nach Frankreich entweichen, wenn
Napoleon die Schlacht verlor und Sachſen ganz in die Gewalt der Ver-
bündeten fiel? Selbſt die Franzoſen empfanden Mitleid mit der unnatür-
lichen Lage dieſer Bundesgenoſſen; Reynier hatte bereits den Abmarſch der
Sachſen nach Torgau angeordnet, als das Anrücken der Nordarmee die
Ausführung des wohlgemeinten Befehles verhinderte. Nur König Fried-
rich Auguſt zeigte kein Verſtändniß für die Bedrängniß ſeiner Armee noch
für ſeine eigene Schande. Unwandelbar blieb ſein Vertrauen auf den
Glücksſtern des Großen Alliirten; noch während der Schlacht verwies er
ſeine Generale trocken auf ihre Soldatenpflicht als ſie ihn baten die Tren-
nung des Contingents von dem franzöſiſchen Heere zu geſtatten. Die
deutſche Gutmüthigkeit wollte dem angeſtammten Herrn ſo viel Verblen-
dung nicht zutrauen. Die Offiziere glaubten feſt, ihr König ſei unfrei;
keineswegs in der Meinung ihren Fahneneid zu brechen, ſondern in der
Abſicht das kleine Heer dem Landesherrn zu erhalten beſchloſſen ſie das
Aergſte was der Soldat verſchulden kann, den Uebergang in offener Feld-
ſchlacht. In der Gegend von Paunsdorf und Sellerhauſen ſchloſſen ſich
etwa 3000 Mann der ſächſiſchen Truppen an die Nordarmee an; mit
ihnen eine Reiterſchaar aus Schwaben. Die Preußen und Ruſſen nahmen
die Flüchtigen mit Freuden auf; nur den württembergiſchen General Nor-
mann, der einſt bei Kitzen die Lützower verrätheriſch überfallen hatte, wies
Gneiſenau mit verächtlichen Worten zurück. Friedrich Wilhelms Ehrlich-
keit aber hielt den Vorwurf nicht zurück: wie viel edles Blut die Sachſen
dem Vaterlande erſparen konnten, wenn ſie ihren Entſchluß früher, vor
der Entſcheidung, faßten! Der traurige Zwiſchenfall blieb ohne jeden Ein-
fluß auf den Ausgang der Völkerſchlacht, doch warf er ein grelles Schlag-
licht auf die tiefe ſittliche Fäulniß des kleinſtaatlichen Lebens. Das Gewiſſen
des Volkes begann endlich irre zu werden an der Felonie des napoleo-
niſchen Kleinkönigthums; trotz aller Lügenkünſte particulariſtiſcher Volks-
verbildung erwachte wieder die Einſicht, daß auch nach dem Untergange
des alten Reiches die Deutſchen noch ein Vaterland beſaßen und ihm ver-
bunden waren durch heilige Pflichten.

Gegen 5 Uhr vereinigte Bülow ſein ganzes Corps zu einem gemein-
ſamen Angriff, erſtürmte Sellerhauſen und Stüntz, drang am Abend bis
in die Kohlgärten vor, dicht an die öſtlichen Thore der Stadt. Da während-
dem auch Langeron auf der Rechten das hart umkämpfte Schönefeld end-
lich genommen hatte und ebenfalls gegen die Kohlgärten herandrängte, ſo
war Ney mit dem linken Flügel der Franzoſen auf ſeiner ganzen Linie
geſchlagen. Durch dieſe Niederlage ward Napoleons Stellung im Centrum
unhaltbar. Noch am Abend befahl er den Rückzug des geſammten Heeres.
Nun wälzten ſich die dichten Maſſen der geſchlagenen Armee durch drei
Thore zugleich in die Stadt hinein um dann alleſammt in entſetzlicher
Verwirrung auf der Frankfurter Straße ſich zu vereinigen. Daß dieſer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0519" n="503"/><fw place="top" type="header">Der 18. Oktober.</fw><lb/>
her ge&#x017F;chleppt wurde; und &#x017F;ollten &#x017F;ie mit nach Frankreich entweichen, wenn<lb/>
Napoleon die Schlacht verlor und Sach&#x017F;en ganz in die Gewalt der Ver-<lb/>
bündeten fiel? Selb&#x017F;t die Franzo&#x017F;en empfanden Mitleid mit der unnatür-<lb/>
lichen Lage die&#x017F;er Bundesgeno&#x017F;&#x017F;en; Reynier hatte bereits den Abmar&#x017F;ch der<lb/>
Sach&#x017F;en nach Torgau angeordnet, als das Anrücken der Nordarmee die<lb/>
Ausführung des wohlgemeinten Befehles verhinderte. Nur König Fried-<lb/>
rich Augu&#x017F;t zeigte kein Ver&#x017F;tändniß für die Bedrängniß &#x017F;einer Armee noch<lb/>
für &#x017F;eine eigene Schande. Unwandelbar blieb &#x017F;ein Vertrauen auf den<lb/>
Glücks&#x017F;tern des Großen Alliirten; noch während der Schlacht verwies er<lb/>
&#x017F;eine Generale trocken auf ihre Soldatenpflicht als &#x017F;ie ihn baten die Tren-<lb/>
nung des Contingents von dem franzö&#x017F;i&#x017F;chen Heere zu ge&#x017F;tatten. Die<lb/>
deut&#x017F;che Gutmüthigkeit wollte dem ange&#x017F;tammten Herrn &#x017F;o viel Verblen-<lb/>
dung nicht zutrauen. Die Offiziere glaubten fe&#x017F;t, ihr König &#x017F;ei unfrei;<lb/>
keineswegs in der Meinung ihren Fahneneid zu brechen, &#x017F;ondern in der<lb/>
Ab&#x017F;icht das kleine Heer dem Landesherrn zu erhalten be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie das<lb/>
Aerg&#x017F;te was der Soldat ver&#x017F;chulden kann, den Uebergang in offener Feld-<lb/>
&#x017F;chlacht. In der Gegend von Paunsdorf und Sellerhau&#x017F;en &#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich<lb/>
etwa 3000 Mann der &#x017F;äch&#x017F;i&#x017F;chen Truppen an die Nordarmee an; mit<lb/>
ihnen eine Reiter&#x017F;chaar aus Schwaben. Die Preußen und Ru&#x017F;&#x017F;en nahmen<lb/>
die Flüchtigen mit Freuden auf; nur den württembergi&#x017F;chen General Nor-<lb/>
mann, der ein&#x017F;t bei Kitzen die Lützower verrätheri&#x017F;ch überfallen hatte, wies<lb/>
Gnei&#x017F;enau mit verächtlichen Worten zurück. Friedrich Wilhelms Ehrlich-<lb/>
keit aber hielt den Vorwurf nicht zurück: wie viel edles Blut die Sach&#x017F;en<lb/>
dem Vaterlande er&#x017F;paren konnten, wenn &#x017F;ie ihren Ent&#x017F;chluß früher, vor<lb/>
der Ent&#x017F;cheidung, faßten! Der traurige Zwi&#x017F;chenfall blieb ohne jeden Ein-<lb/>
fluß auf den Ausgang der Völker&#x017F;chlacht, doch warf er ein grelles Schlag-<lb/>
licht auf die tiefe &#x017F;ittliche Fäulniß des klein&#x017F;taatlichen Lebens. Das Gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
des Volkes begann endlich irre zu werden an der Felonie des napoleo-<lb/>
ni&#x017F;chen Kleinkönigthums; trotz aller Lügenkün&#x017F;te particulari&#x017F;ti&#x017F;cher Volks-<lb/>
verbildung erwachte wieder die Ein&#x017F;icht, daß auch nach dem Untergange<lb/>
des alten Reiches die Deut&#x017F;chen noch ein Vaterland be&#x017F;aßen und ihm ver-<lb/>
bunden waren durch heilige Pflichten.</p><lb/>
            <p>Gegen 5 Uhr vereinigte Bülow &#x017F;ein ganzes Corps zu einem gemein-<lb/>
&#x017F;amen Angriff, er&#x017F;türmte Sellerhau&#x017F;en und Stüntz, drang am Abend bis<lb/>
in die Kohlgärten vor, dicht an die ö&#x017F;tlichen Thore der Stadt. Da während-<lb/>
dem auch Langeron auf der Rechten das hart umkämpfte Schönefeld end-<lb/>
lich genommen hatte und ebenfalls gegen die Kohlgärten herandrängte, &#x017F;o<lb/>
war Ney mit dem linken Flügel der Franzo&#x017F;en auf &#x017F;einer ganzen Linie<lb/>
ge&#x017F;chlagen. Durch die&#x017F;e Niederlage ward Napoleons Stellung im Centrum<lb/>
unhaltbar. Noch am Abend befahl er den Rückzug des ge&#x017F;ammten Heeres.<lb/>
Nun wälzten &#x017F;ich die dichten Ma&#x017F;&#x017F;en der ge&#x017F;chlagenen Armee durch drei<lb/>
Thore zugleich in die Stadt hinein um dann alle&#x017F;ammt in ent&#x017F;etzlicher<lb/>
Verwirrung auf der Frankfurter Straße &#x017F;ich zu vereinigen. Daß die&#x017F;er<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[503/0519] Der 18. Oktober. her geſchleppt wurde; und ſollten ſie mit nach Frankreich entweichen, wenn Napoleon die Schlacht verlor und Sachſen ganz in die Gewalt der Ver- bündeten fiel? Selbſt die Franzoſen empfanden Mitleid mit der unnatür- lichen Lage dieſer Bundesgenoſſen; Reynier hatte bereits den Abmarſch der Sachſen nach Torgau angeordnet, als das Anrücken der Nordarmee die Ausführung des wohlgemeinten Befehles verhinderte. Nur König Fried- rich Auguſt zeigte kein Verſtändniß für die Bedrängniß ſeiner Armee noch für ſeine eigene Schande. Unwandelbar blieb ſein Vertrauen auf den Glücksſtern des Großen Alliirten; noch während der Schlacht verwies er ſeine Generale trocken auf ihre Soldatenpflicht als ſie ihn baten die Tren- nung des Contingents von dem franzöſiſchen Heere zu geſtatten. Die deutſche Gutmüthigkeit wollte dem angeſtammten Herrn ſo viel Verblen- dung nicht zutrauen. Die Offiziere glaubten feſt, ihr König ſei unfrei; keineswegs in der Meinung ihren Fahneneid zu brechen, ſondern in der Abſicht das kleine Heer dem Landesherrn zu erhalten beſchloſſen ſie das Aergſte was der Soldat verſchulden kann, den Uebergang in offener Feld- ſchlacht. In der Gegend von Paunsdorf und Sellerhauſen ſchloſſen ſich etwa 3000 Mann der ſächſiſchen Truppen an die Nordarmee an; mit ihnen eine Reiterſchaar aus Schwaben. Die Preußen und Ruſſen nahmen die Flüchtigen mit Freuden auf; nur den württembergiſchen General Nor- mann, der einſt bei Kitzen die Lützower verrätheriſch überfallen hatte, wies Gneiſenau mit verächtlichen Worten zurück. Friedrich Wilhelms Ehrlich- keit aber hielt den Vorwurf nicht zurück: wie viel edles Blut die Sachſen dem Vaterlande erſparen konnten, wenn ſie ihren Entſchluß früher, vor der Entſcheidung, faßten! Der traurige Zwiſchenfall blieb ohne jeden Ein- fluß auf den Ausgang der Völkerſchlacht, doch warf er ein grelles Schlag- licht auf die tiefe ſittliche Fäulniß des kleinſtaatlichen Lebens. Das Gewiſſen des Volkes begann endlich irre zu werden an der Felonie des napoleo- niſchen Kleinkönigthums; trotz aller Lügenkünſte particulariſtiſcher Volks- verbildung erwachte wieder die Einſicht, daß auch nach dem Untergange des alten Reiches die Deutſchen noch ein Vaterland beſaßen und ihm ver- bunden waren durch heilige Pflichten. Gegen 5 Uhr vereinigte Bülow ſein ganzes Corps zu einem gemein- ſamen Angriff, erſtürmte Sellerhauſen und Stüntz, drang am Abend bis in die Kohlgärten vor, dicht an die öſtlichen Thore der Stadt. Da während- dem auch Langeron auf der Rechten das hart umkämpfte Schönefeld end- lich genommen hatte und ebenfalls gegen die Kohlgärten herandrängte, ſo war Ney mit dem linken Flügel der Franzoſen auf ſeiner ganzen Linie geſchlagen. Durch dieſe Niederlage ward Napoleons Stellung im Centrum unhaltbar. Noch am Abend befahl er den Rückzug des geſammten Heeres. Nun wälzten ſich die dichten Maſſen der geſchlagenen Armee durch drei Thore zugleich in die Stadt hinein um dann alleſammt in entſetzlicher Verwirrung auf der Frankfurter Straße ſich zu vereinigen. Daß dieſer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/519
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/519>, abgerufen am 23.11.2024.