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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
den Bergen bei Zinnwald stand, die Weisung: er solle versuchen ostwärts
quer über den Kamm des Gebirges die Teplitzer Landstraße zu erreichen
und dann von den Nollendorfer Höhen her den Franzosen in den Rücken
fallen. Als die Botschaft eintraf, hatte Kleist schon von freien Stücken
den nämlichen glücklichen Entschluß mit seinem Generalquartiermeister
Grolmann verabredet. Der General, ein ruhiger, besonnener Mann
von feinen gemessenen Formen, konnte mit seinem Corps nicht mehr
vorwärts in den verrammelten Gebirgswegen und begriff, daß die höchste
Kühnheit hier die einzige Rettung war. Während die Russen drunten
im Thale, jetzt durch Oesterreicher erheblich verstärkt, am Morgen des
30. den Kampf von Neuem aufnahmen, hielt Czar Alexander auf einem
Hügel bei Kulm, die Wahlstatt überschauend: südwärts die malerischen
Kegel des Mittelgebirges, im Norden meilenlang die ungeheure steile Wand
des Erzgebirges, dazwischen in der üppigen Ebene die wogende Schlacht.
Da bemerkte er mit Erstaunen, wie droben bei Nollendorf Geschütze auf-
fuhren, dichte Truppenmassen das Gebirge herab den Franzosen nach-
zogen. Es waren Kleists Preußen, die hungernd und ermattet nach schwie-
rigem Nachtmarsch die Höhen im Rücken des Feindes erreicht hatten.
So von zwei Seiten her gepackt wurde Vandammes Corps nach langem
heißem Kampfe gänzlich zersprengt. Ueber 9000 Mann fielen in Gefangen-
schaft, unter ihnen der rohe Führer selbst, der Henker des Bremischen
Landes; mit Mühe rettete man ihn vor den Fäusten der deutschen Sol-
daten.

An dem Tage von Kulm verwelkten die Lorbeeren von Dresden. Die
wankende Coalition stand wieder aufrecht. Je bänger in den letzten Tagen
die Stimmung gewesen, um so lauter lärmte jetzt die Freude über den
schönen Bundessieg. Die drei verbündeten Nationen hatten wetteifernd
ihr Bestes gethan: Eugen mit der russischen Garde, die tapferen öster-
reichischen Reiter, Friedrich Wilhelm und die Helden von Nollendorf.
Und dazu die Siegesbotschaften aus der Mark und aus Schlesien; selbst
die an Alledem ganz unschuldigen Strategen des großen Hauptquartiers
fingen an zu glauben, daß ein Erfolg doch möglich sei. Napoleon hatte
binnen einer Woche eine ganze Armee, gegen 80,000 Mann, verloren und
fand sich wieder auf derselben Stelle wie beim Beginne des Herbstfeldzugs.

Nach abermals acht Tagen traf ihn ein neuer schwerer Schlag. Die
Absicht, selber auf die preußische Hauptstadt vorzurücken hatte er aufgege-
ben sobald er von Blüchers Erfolgen hörte. Während er selbst nach der
Lausitz der schlesischen Armee entgegenzog, übertrug er dem Marschall
Ney die Leitung des vierten Zuges gegen Berlin. Der tapfere Marschall,
der zu dem Unternehmen von Haus aus wenig Zutrauen hatte, versam-
melte seine Armee bei Wittenberg, warf nach blutigem Gefechte eine ver-
einzelte preußische Abtheilung zurück und marschirte am 6. September, ohne
die Nähe des Gegners zu ahnen, über die sandige Ebene auf Jüterbog. Da

I. 4. Der Befreiungskrieg.
den Bergen bei Zinnwald ſtand, die Weiſung: er ſolle verſuchen oſtwärts
quer über den Kamm des Gebirges die Teplitzer Landſtraße zu erreichen
und dann von den Nollendorfer Höhen her den Franzoſen in den Rücken
fallen. Als die Botſchaft eintraf, hatte Kleiſt ſchon von freien Stücken
den nämlichen glücklichen Entſchluß mit ſeinem Generalquartiermeiſter
Grolmann verabredet. Der General, ein ruhiger, beſonnener Mann
von feinen gemeſſenen Formen, konnte mit ſeinem Corps nicht mehr
vorwärts in den verrammelten Gebirgswegen und begriff, daß die höchſte
Kühnheit hier die einzige Rettung war. Während die Ruſſen drunten
im Thale, jetzt durch Oeſterreicher erheblich verſtärkt, am Morgen des
30. den Kampf von Neuem aufnahmen, hielt Czar Alexander auf einem
Hügel bei Kulm, die Wahlſtatt überſchauend: ſüdwärts die maleriſchen
Kegel des Mittelgebirges, im Norden meilenlang die ungeheure ſteile Wand
des Erzgebirges, dazwiſchen in der üppigen Ebene die wogende Schlacht.
Da bemerkte er mit Erſtaunen, wie droben bei Nollendorf Geſchütze auf-
fuhren, dichte Truppenmaſſen das Gebirge herab den Franzoſen nach-
zogen. Es waren Kleiſts Preußen, die hungernd und ermattet nach ſchwie-
rigem Nachtmarſch die Höhen im Rücken des Feindes erreicht hatten.
So von zwei Seiten her gepackt wurde Vandammes Corps nach langem
heißem Kampfe gänzlich zerſprengt. Ueber 9000 Mann fielen in Gefangen-
ſchaft, unter ihnen der rohe Führer ſelbſt, der Henker des Bremiſchen
Landes; mit Mühe rettete man ihn vor den Fäuſten der deutſchen Sol-
daten.

An dem Tage von Kulm verwelkten die Lorbeeren von Dresden. Die
wankende Coalition ſtand wieder aufrecht. Je bänger in den letzten Tagen
die Stimmung geweſen, um ſo lauter lärmte jetzt die Freude über den
ſchönen Bundesſieg. Die drei verbündeten Nationen hatten wetteifernd
ihr Beſtes gethan: Eugen mit der ruſſiſchen Garde, die tapferen öſter-
reichiſchen Reiter, Friedrich Wilhelm und die Helden von Nollendorf.
Und dazu die Siegesbotſchaften aus der Mark und aus Schleſien; ſelbſt
die an Alledem ganz unſchuldigen Strategen des großen Hauptquartiers
fingen an zu glauben, daß ein Erfolg doch möglich ſei. Napoleon hatte
binnen einer Woche eine ganze Armee, gegen 80,000 Mann, verloren und
fand ſich wieder auf derſelben Stelle wie beim Beginne des Herbſtfeldzugs.

Nach abermals acht Tagen traf ihn ein neuer ſchwerer Schlag. Die
Abſicht, ſelber auf die preußiſche Hauptſtadt vorzurücken hatte er aufgege-
ben ſobald er von Blüchers Erfolgen hörte. Während er ſelbſt nach der
Lauſitz der ſchleſiſchen Armee entgegenzog, übertrug er dem Marſchall
Ney die Leitung des vierten Zuges gegen Berlin. Der tapfere Marſchall,
der zu dem Unternehmen von Haus aus wenig Zutrauen hatte, verſam-
melte ſeine Armee bei Wittenberg, warf nach blutigem Gefechte eine ver-
einzelte preußiſche Abtheilung zurück und marſchirte am 6. September, ohne
die Nähe des Gegners zu ahnen, über die ſandige Ebene auf Jüterbog. Da

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[484/0500] I. 4. Der Befreiungskrieg. den Bergen bei Zinnwald ſtand, die Weiſung: er ſolle verſuchen oſtwärts quer über den Kamm des Gebirges die Teplitzer Landſtraße zu erreichen und dann von den Nollendorfer Höhen her den Franzoſen in den Rücken fallen. Als die Botſchaft eintraf, hatte Kleiſt ſchon von freien Stücken den nämlichen glücklichen Entſchluß mit ſeinem Generalquartiermeiſter Grolmann verabredet. Der General, ein ruhiger, beſonnener Mann von feinen gemeſſenen Formen, konnte mit ſeinem Corps nicht mehr vorwärts in den verrammelten Gebirgswegen und begriff, daß die höchſte Kühnheit hier die einzige Rettung war. Während die Ruſſen drunten im Thale, jetzt durch Oeſterreicher erheblich verſtärkt, am Morgen des 30. den Kampf von Neuem aufnahmen, hielt Czar Alexander auf einem Hügel bei Kulm, die Wahlſtatt überſchauend: ſüdwärts die maleriſchen Kegel des Mittelgebirges, im Norden meilenlang die ungeheure ſteile Wand des Erzgebirges, dazwiſchen in der üppigen Ebene die wogende Schlacht. Da bemerkte er mit Erſtaunen, wie droben bei Nollendorf Geſchütze auf- fuhren, dichte Truppenmaſſen das Gebirge herab den Franzoſen nach- zogen. Es waren Kleiſts Preußen, die hungernd und ermattet nach ſchwie- rigem Nachtmarſch die Höhen im Rücken des Feindes erreicht hatten. So von zwei Seiten her gepackt wurde Vandammes Corps nach langem heißem Kampfe gänzlich zerſprengt. Ueber 9000 Mann fielen in Gefangen- ſchaft, unter ihnen der rohe Führer ſelbſt, der Henker des Bremiſchen Landes; mit Mühe rettete man ihn vor den Fäuſten der deutſchen Sol- daten. An dem Tage von Kulm verwelkten die Lorbeeren von Dresden. Die wankende Coalition ſtand wieder aufrecht. Je bänger in den letzten Tagen die Stimmung geweſen, um ſo lauter lärmte jetzt die Freude über den ſchönen Bundesſieg. Die drei verbündeten Nationen hatten wetteifernd ihr Beſtes gethan: Eugen mit der ruſſiſchen Garde, die tapferen öſter- reichiſchen Reiter, Friedrich Wilhelm und die Helden von Nollendorf. Und dazu die Siegesbotſchaften aus der Mark und aus Schleſien; ſelbſt die an Alledem ganz unſchuldigen Strategen des großen Hauptquartiers fingen an zu glauben, daß ein Erfolg doch möglich ſei. Napoleon hatte binnen einer Woche eine ganze Armee, gegen 80,000 Mann, verloren und fand ſich wieder auf derſelben Stelle wie beim Beginne des Herbſtfeldzugs. Nach abermals acht Tagen traf ihn ein neuer ſchwerer Schlag. Die Abſicht, ſelber auf die preußiſche Hauptſtadt vorzurücken hatte er aufgege- ben ſobald er von Blüchers Erfolgen hörte. Während er ſelbſt nach der Lauſitz der ſchleſiſchen Armee entgegenzog, übertrug er dem Marſchall Ney die Leitung des vierten Zuges gegen Berlin. Der tapfere Marſchall, der zu dem Unternehmen von Haus aus wenig Zutrauen hatte, verſam- melte ſeine Armee bei Wittenberg, warf nach blutigem Gefechte eine ver- einzelte preußiſche Abtheilung zurück und marſchirte am 6. September, ohne die Nähe des Gegners zu ahnen, über die ſandige Ebene auf Jüterbog. Da

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/500>, abgerufen am 23.11.2024.