treten, und begreiflich genug, daß die tapferen Degen dem verdächtigen Fremdling in der Hitze des Zornes zuweilen unrecht thaten.
Oudinots Armee rückte von Sachsen aus heran, 70,000 Mann stark, Truppen aus allerlei Volk: Franzosen, Italiener, Croaten, Polen, Illyrier, dazu die übelberufene Division Durutte mit ihren Schaaren begnadigter Deserteure und Verbrecher. Die Hauptmasse aber bildeten Deutsche aus Sachsen, Westphalen, Baiern, Würzburg; ein glorreicher Einzug in Berlin sollte die Rheinbündner wieder fester an die französische Sache ketten. Die halbkreisförmige starke Vertheidigungslinie, welche die morastigen Ge- wässer der Nuthe und der Notte sechs Stunden südlich von Berlin bilden, wurde nach lebhaften Gefechten von den Franzosen überschritten, da Ber- nadotte das sumpfige Waldland mit ungenügenden Streitkräften besetzt hatte. Bereits drang ihre Vorhut durch die Waldungen bis nach Großbeeren vor; gelang ihr sich dort zu behaupten, so hatte das feindliche Heer nur noch die freie Ebene des Teltower Landes zu durchschreiten und konnte ohne Aufenthalt in Berlin einziehen. Dem schwedischen Kronprinzen lag wenig an der Behauptung der preußischen Hauptstadt, längst hatte er schon alle Vorbereitungen für die Räumung Berlins, für den Rückzug über die Spree getroffen. In fieberischer Spannung lauschten die Bürger auf den Kanonendonner, der vom Süden herüber klang. Sie wußten was ihnen drohte; Napoleon hatte befohlen die verhaßte Stadt in Brand zu schießen.
Da, am Nachmittage des 23. August, entschloß sich Bülow eigen- mächtig das Corps Reyniers bei Großbeeren anzugreifen bevor Oudinot und Bertrand zur Unterstützung herankamen. Während Borstell den Feind in der rechten Flanke faßte, richtete Bülow selbst seinen Angriff gegen das Centrum in Großbeeren. Wieder wie fast an allen Schlachttagen dieses Herbstes lag ein dicker Wolkenschleier über der Landschaft. Triefend von Regen stürmten die Truppen vor, viele Landwehren darunter, alle voll Kampflust, doch Niemand ergrimmter als die Märker, die hier recht eigentlich für Weib und Kind, für Haus und Heerd fochten; sie drehten die unbrauchbaren Flinten um und hieben unter dem Rufe "so flutscht et bäter" mit schmetternden Kolbenschlägen auf die Schädel der Feinde ein. Gegen Abend war Großbeeren genommen, trotz des heldenhaften Widerstandes der Sachsen, und Reynier trat den verlustreichen Rückzug durch das Waldland an. Daß sein Corps nicht gänzlich aufgerieben wurde, verdankte er allein dem schwedischen Kronprinzen, der, taub für alle Bitten Bülows, nur eine einzige schwedische Batterie und einen Theil der russi- schen Geschütze am Kampfe theilnehmen ließ statt durch einen rechtzeitigen Angriff auf Reyniers linken Flügel dem geschlagenen Feinde den Garaus zu machen. Hier wie in Schlesien fiel den Preußen die schwerste Arbeit zu, und nicht durch einen Zufall, denn nur für sie war dieser Krieg ein Kampf um das Dasein. Oudinot gab das Spiel verloren, ging mit seiner gesammten Armee auf Wittenberg zurück.
I. 4. Der Befreiungskrieg.
treten, und begreiflich genug, daß die tapferen Degen dem verdächtigen Fremdling in der Hitze des Zornes zuweilen unrecht thaten.
Oudinots Armee rückte von Sachſen aus heran, 70,000 Mann ſtark, Truppen aus allerlei Volk: Franzoſen, Italiener, Croaten, Polen, Illyrier, dazu die übelberufene Diviſion Durutte mit ihren Schaaren begnadigter Deſerteure und Verbrecher. Die Hauptmaſſe aber bildeten Deutſche aus Sachſen, Weſtphalen, Baiern, Würzburg; ein glorreicher Einzug in Berlin ſollte die Rheinbündner wieder feſter an die franzöſiſche Sache ketten. Die halbkreisförmige ſtarke Vertheidigungslinie, welche die moraſtigen Ge- wäſſer der Nuthe und der Notte ſechs Stunden ſüdlich von Berlin bilden, wurde nach lebhaften Gefechten von den Franzoſen überſchritten, da Ber- nadotte das ſumpfige Waldland mit ungenügenden Streitkräften beſetzt hatte. Bereits drang ihre Vorhut durch die Waldungen bis nach Großbeeren vor; gelang ihr ſich dort zu behaupten, ſo hatte das feindliche Heer nur noch die freie Ebene des Teltower Landes zu durchſchreiten und konnte ohne Aufenthalt in Berlin einziehen. Dem ſchwediſchen Kronprinzen lag wenig an der Behauptung der preußiſchen Hauptſtadt, längſt hatte er ſchon alle Vorbereitungen für die Räumung Berlins, für den Rückzug über die Spree getroffen. In fieberiſcher Spannung lauſchten die Bürger auf den Kanonendonner, der vom Süden herüber klang. Sie wußten was ihnen drohte; Napoleon hatte befohlen die verhaßte Stadt in Brand zu ſchießen.
Da, am Nachmittage des 23. Auguſt, entſchloß ſich Bülow eigen- mächtig das Corps Reyniers bei Großbeeren anzugreifen bevor Oudinot und Bertrand zur Unterſtützung herankamen. Während Borſtell den Feind in der rechten Flanke faßte, richtete Bülow ſelbſt ſeinen Angriff gegen das Centrum in Großbeeren. Wieder wie faſt an allen Schlachttagen dieſes Herbſtes lag ein dicker Wolkenſchleier über der Landſchaft. Triefend von Regen ſtürmten die Truppen vor, viele Landwehren darunter, alle voll Kampfluſt, doch Niemand ergrimmter als die Märker, die hier recht eigentlich für Weib und Kind, für Haus und Heerd fochten; ſie drehten die unbrauchbaren Flinten um und hieben unter dem Rufe „ſo flutſcht et bäter“ mit ſchmetternden Kolbenſchlägen auf die Schädel der Feinde ein. Gegen Abend war Großbeeren genommen, trotz des heldenhaften Widerſtandes der Sachſen, und Reynier trat den verluſtreichen Rückzug durch das Waldland an. Daß ſein Corps nicht gänzlich aufgerieben wurde, verdankte er allein dem ſchwediſchen Kronprinzen, der, taub für alle Bitten Bülows, nur eine einzige ſchwediſche Batterie und einen Theil der ruſſi- ſchen Geſchütze am Kampfe theilnehmen ließ ſtatt durch einen rechtzeitigen Angriff auf Reyniers linken Flügel dem geſchlagenen Feinde den Garaus zu machen. Hier wie in Schleſien fiel den Preußen die ſchwerſte Arbeit zu, und nicht durch einen Zufall, denn nur für ſie war dieſer Krieg ein Kampf um das Daſein. Oudinot gab das Spiel verloren, ging mit ſeiner geſammten Armee auf Wittenberg zurück.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0494"n="478"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> 4. Der Befreiungskrieg.</fw><lb/>
treten, und begreiflich genug, daß die tapferen Degen dem verdächtigen<lb/>
Fremdling in der Hitze des Zornes zuweilen unrecht thaten.</p><lb/><p>Oudinots Armee rückte von Sachſen aus heran, 70,000 Mann ſtark,<lb/>
Truppen aus allerlei Volk: Franzoſen, Italiener, Croaten, Polen, Illyrier,<lb/>
dazu die übelberufene Diviſion Durutte mit ihren Schaaren begnadigter<lb/>
Deſerteure und Verbrecher. Die Hauptmaſſe aber bildeten Deutſche aus<lb/>
Sachſen, Weſtphalen, Baiern, Würzburg; ein glorreicher Einzug in Berlin<lb/>ſollte die Rheinbündner wieder feſter an die franzöſiſche Sache ketten.<lb/>
Die halbkreisförmige ſtarke Vertheidigungslinie, welche die moraſtigen Ge-<lb/>
wäſſer der Nuthe und der Notte ſechs Stunden ſüdlich von Berlin bilden,<lb/>
wurde nach lebhaften Gefechten von den Franzoſen überſchritten, da Ber-<lb/>
nadotte das ſumpfige Waldland mit ungenügenden Streitkräften beſetzt<lb/>
hatte. Bereits drang ihre Vorhut durch die Waldungen bis nach Großbeeren<lb/>
vor; gelang ihr ſich dort zu behaupten, ſo hatte das feindliche Heer nur<lb/>
noch die freie Ebene des Teltower Landes zu durchſchreiten und konnte<lb/>
ohne Aufenthalt in Berlin einziehen. Dem ſchwediſchen Kronprinzen lag<lb/>
wenig an der Behauptung der preußiſchen Hauptſtadt, längſt hatte er ſchon<lb/>
alle Vorbereitungen für die Räumung Berlins, für den Rückzug über die<lb/>
Spree getroffen. In fieberiſcher Spannung lauſchten die Bürger auf<lb/>
den Kanonendonner, der vom Süden herüber klang. Sie wußten was ihnen<lb/>
drohte; Napoleon hatte befohlen die verhaßte Stadt in Brand zu ſchießen.</p><lb/><p>Da, am Nachmittage des 23. Auguſt, entſchloß ſich Bülow eigen-<lb/>
mächtig das Corps Reyniers bei Großbeeren anzugreifen bevor Oudinot<lb/>
und Bertrand zur Unterſtützung herankamen. Während Borſtell den Feind<lb/>
in der rechten Flanke faßte, richtete Bülow ſelbſt ſeinen Angriff gegen<lb/>
das Centrum in Großbeeren. Wieder wie faſt an allen Schlachttagen<lb/>
dieſes Herbſtes lag ein dicker Wolkenſchleier über der Landſchaft. Triefend<lb/>
von Regen ſtürmten die Truppen vor, viele Landwehren darunter, alle<lb/>
voll Kampfluſt, doch Niemand ergrimmter als die Märker, die hier recht<lb/>
eigentlich für Weib und Kind, für Haus und Heerd fochten; ſie drehten<lb/>
die unbrauchbaren Flinten um und hieben unter dem Rufe „ſo flutſcht<lb/>
et bäter“ mit ſchmetternden Kolbenſchlägen auf die Schädel der Feinde<lb/>
ein. Gegen Abend war Großbeeren genommen, trotz des heldenhaften<lb/>
Widerſtandes der Sachſen, und Reynier trat den verluſtreichen Rückzug<lb/>
durch das Waldland an. Daß ſein Corps nicht gänzlich aufgerieben wurde,<lb/>
verdankte er allein dem ſchwediſchen Kronprinzen, der, taub für alle Bitten<lb/>
Bülows, nur eine einzige ſchwediſche Batterie und einen Theil der ruſſi-<lb/>ſchen Geſchütze am Kampfe theilnehmen ließ ſtatt durch einen rechtzeitigen<lb/>
Angriff auf Reyniers linken Flügel dem geſchlagenen Feinde den Garaus<lb/>
zu machen. Hier wie in Schleſien fiel den Preußen die ſchwerſte Arbeit<lb/>
zu, und nicht durch einen Zufall, denn nur für ſie war dieſer Krieg ein<lb/>
Kampf um das Daſein. Oudinot gab das Spiel verloren, ging mit<lb/>ſeiner geſammten Armee auf Wittenberg zurück.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[478/0494]
I. 4. Der Befreiungskrieg.
treten, und begreiflich genug, daß die tapferen Degen dem verdächtigen
Fremdling in der Hitze des Zornes zuweilen unrecht thaten.
Oudinots Armee rückte von Sachſen aus heran, 70,000 Mann ſtark,
Truppen aus allerlei Volk: Franzoſen, Italiener, Croaten, Polen, Illyrier,
dazu die übelberufene Diviſion Durutte mit ihren Schaaren begnadigter
Deſerteure und Verbrecher. Die Hauptmaſſe aber bildeten Deutſche aus
Sachſen, Weſtphalen, Baiern, Würzburg; ein glorreicher Einzug in Berlin
ſollte die Rheinbündner wieder feſter an die franzöſiſche Sache ketten.
Die halbkreisförmige ſtarke Vertheidigungslinie, welche die moraſtigen Ge-
wäſſer der Nuthe und der Notte ſechs Stunden ſüdlich von Berlin bilden,
wurde nach lebhaften Gefechten von den Franzoſen überſchritten, da Ber-
nadotte das ſumpfige Waldland mit ungenügenden Streitkräften beſetzt
hatte. Bereits drang ihre Vorhut durch die Waldungen bis nach Großbeeren
vor; gelang ihr ſich dort zu behaupten, ſo hatte das feindliche Heer nur
noch die freie Ebene des Teltower Landes zu durchſchreiten und konnte
ohne Aufenthalt in Berlin einziehen. Dem ſchwediſchen Kronprinzen lag
wenig an der Behauptung der preußiſchen Hauptſtadt, längſt hatte er ſchon
alle Vorbereitungen für die Räumung Berlins, für den Rückzug über die
Spree getroffen. In fieberiſcher Spannung lauſchten die Bürger auf
den Kanonendonner, der vom Süden herüber klang. Sie wußten was ihnen
drohte; Napoleon hatte befohlen die verhaßte Stadt in Brand zu ſchießen.
Da, am Nachmittage des 23. Auguſt, entſchloß ſich Bülow eigen-
mächtig das Corps Reyniers bei Großbeeren anzugreifen bevor Oudinot
und Bertrand zur Unterſtützung herankamen. Während Borſtell den Feind
in der rechten Flanke faßte, richtete Bülow ſelbſt ſeinen Angriff gegen
das Centrum in Großbeeren. Wieder wie faſt an allen Schlachttagen
dieſes Herbſtes lag ein dicker Wolkenſchleier über der Landſchaft. Triefend
von Regen ſtürmten die Truppen vor, viele Landwehren darunter, alle
voll Kampfluſt, doch Niemand ergrimmter als die Märker, die hier recht
eigentlich für Weib und Kind, für Haus und Heerd fochten; ſie drehten
die unbrauchbaren Flinten um und hieben unter dem Rufe „ſo flutſcht
et bäter“ mit ſchmetternden Kolbenſchlägen auf die Schädel der Feinde
ein. Gegen Abend war Großbeeren genommen, trotz des heldenhaften
Widerſtandes der Sachſen, und Reynier trat den verluſtreichen Rückzug
durch das Waldland an. Daß ſein Corps nicht gänzlich aufgerieben wurde,
verdankte er allein dem ſchwediſchen Kronprinzen, der, taub für alle Bitten
Bülows, nur eine einzige ſchwediſche Batterie und einen Theil der ruſſi-
ſchen Geſchütze am Kampfe theilnehmen ließ ſtatt durch einen rechtzeitigen
Angriff auf Reyniers linken Flügel dem geſchlagenen Feinde den Garaus
zu machen. Hier wie in Schleſien fiel den Preußen die ſchwerſte Arbeit
zu, und nicht durch einen Zufall, denn nur für ſie war dieſer Krieg ein
Kampf um das Daſein. Oudinot gab das Spiel verloren, ging mit
ſeiner geſammten Armee auf Wittenberg zurück.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/494>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.