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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
und der stärksten Position des Feindes gegenüberstand; mit Mühe erwirkte
sich Blücher die Erlaubniß unter außerordentlich günstigen Umständen eine
Schlacht anzunehmen. Seine Offiziere klagten über die bescheidene Rolle,
die man ihnen zuwies, und beneideten ihre nach Böhmen zur Hauptarmee
abmarschirenden Kameraden; der alte Held aber nahm sich vor, seine Voll-
macht im allerweitesten Sinne auszulegen. Ein Glück übrigens, daß man
im großen Hauptquartiere die feindlichen Streitkräfte um volle 100,000
Mann unterschätzte; so gewannen die Bedachtsamen doch einigen Muth.

Auch Napoleon war über die Stärke und die Stellungen der Ver-
bündeten schlecht unterrichtet; er suchte ihre Hauptarmee in Schlesien
und schlug die Kopfzahl der Nordarmee viel zu niedrig an. Sein nächstes
Ziel blieb noch immer die Vernichtung der preußischen Macht. Derweil
der Imperator selbst die schwierige Aufgabe übernahm, von Dresden aus
zugleich die böhmische und die schlesische Armee zurückzuhalten, sollte
Oudinot Berlin erobern, die Landwehr entwaffnen, die preußische Volkser-
hebung völlig niederwerfen. Glückte dieser Schlag, so schien es möglich
Stettin und Küstrin zu verstärken, vielleicht selbst Danzig zu entsetzen;
der Zauderer Bernadotte wich dann unzweifelhaft an die Küste zurück,
Preußen und Rußland aber mußten ihre gesammten Streitkräfte in den
bedrohten Nordosten werfen und sich von Oesterreich trennen. Also wurde
die Coalition gelockert, und vielleicht gelang es alsdann der diplomatischen
Kunst Napoleons, sie gänzlich zu zersprengen. Da er an den vollen Ernst
der Hofburg auch jetzt noch nicht glaubte, so vermied er absichtlich einen
Zug gegen Böhmen; Kaiser Franz durfte an der wohlwollenden Mäßigung
des liebevollen Schwiegersohnes nicht zweifeln. Die Befürchtung, daß er
umgangen und vom Rheine abgeschnitten werden könne, wies der Kriegs-
erfahrene lachend zurück: "ein Heer von 400,000 Mann umgeht man
nicht." Er wußte wohl, welchen Vortheil ihm die Einheit des Oberbefehls
und die concentrirte Stellung seines Heeres boten, und zog was irgend
verfügbar war nach Obersachsen heran. Nur das Corps Davousts wurde
aus politischen Gründen an der Niederelbe zurückgehalten, denn das feste
Hamburg durfte um keinen Preis einer englischen Landungsarmee zum
Brückenkopfe dienen.

Während Oudinot den Marsch nach den Marken antrat, wendete
sich Napoleon zunächst gegen die schlesische Armee, in der Hoffnung den
thatenfrohen Blücher zu einer Schlacht zu verleiten. Der preußische
Feldherr wich der Uebermacht aus und ging erst nach einigen Tagen
wieder zum Angriff vor, als Napoleon mit einem Theile seines Heeres
nach Dresden zurückeilte um die heranrückende böhmische Armee abzu-
wehren. Macdonald, der in Schlesien zurückgeblieben, wähnte die Ver-
bündeten noch im vollen Rückzuge und marschirte am 26. August, keiner
Schlacht gewärtig, gegen Jauer; seine Truppen drängten die Vorhut der
Preußen zurück, überschritten die vom Regen hoch angeschwellten Ge-

I. 4. Der Befreiungskrieg.
und der ſtärkſten Poſition des Feindes gegenüberſtand; mit Mühe erwirkte
ſich Blücher die Erlaubniß unter außerordentlich günſtigen Umſtänden eine
Schlacht anzunehmen. Seine Offiziere klagten über die beſcheidene Rolle,
die man ihnen zuwies, und beneideten ihre nach Böhmen zur Hauptarmee
abmarſchirenden Kameraden; der alte Held aber nahm ſich vor, ſeine Voll-
macht im allerweiteſten Sinne auszulegen. Ein Glück übrigens, daß man
im großen Hauptquartiere die feindlichen Streitkräfte um volle 100,000
Mann unterſchätzte; ſo gewannen die Bedachtſamen doch einigen Muth.

Auch Napoleon war über die Stärke und die Stellungen der Ver-
bündeten ſchlecht unterrichtet; er ſuchte ihre Hauptarmee in Schleſien
und ſchlug die Kopfzahl der Nordarmee viel zu niedrig an. Sein nächſtes
Ziel blieb noch immer die Vernichtung der preußiſchen Macht. Derweil
der Imperator ſelbſt die ſchwierige Aufgabe übernahm, von Dresden aus
zugleich die böhmiſche und die ſchleſiſche Armee zurückzuhalten, ſollte
Oudinot Berlin erobern, die Landwehr entwaffnen, die preußiſche Volkser-
hebung völlig niederwerfen. Glückte dieſer Schlag, ſo ſchien es möglich
Stettin und Küſtrin zu verſtärken, vielleicht ſelbſt Danzig zu entſetzen;
der Zauderer Bernadotte wich dann unzweifelhaft an die Küſte zurück,
Preußen und Rußland aber mußten ihre geſammten Streitkräfte in den
bedrohten Nordoſten werfen und ſich von Oeſterreich trennen. Alſo wurde
die Coalition gelockert, und vielleicht gelang es alsdann der diplomatiſchen
Kunſt Napoleons, ſie gänzlich zu zerſprengen. Da er an den vollen Ernſt
der Hofburg auch jetzt noch nicht glaubte, ſo vermied er abſichtlich einen
Zug gegen Böhmen; Kaiſer Franz durfte an der wohlwollenden Mäßigung
des liebevollen Schwiegerſohnes nicht zweifeln. Die Befürchtung, daß er
umgangen und vom Rheine abgeſchnitten werden könne, wies der Kriegs-
erfahrene lachend zurück: „ein Heer von 400,000 Mann umgeht man
nicht.“ Er wußte wohl, welchen Vortheil ihm die Einheit des Oberbefehls
und die concentrirte Stellung ſeines Heeres boten, und zog was irgend
verfügbar war nach Oberſachſen heran. Nur das Corps Davouſts wurde
aus politiſchen Gründen an der Niederelbe zurückgehalten, denn das feſte
Hamburg durfte um keinen Preis einer engliſchen Landungsarmee zum
Brückenkopfe dienen.

Während Oudinot den Marſch nach den Marken antrat, wendete
ſich Napoleon zunächſt gegen die ſchleſiſche Armee, in der Hoffnung den
thatenfrohen Blücher zu einer Schlacht zu verleiten. Der preußiſche
Feldherr wich der Uebermacht aus und ging erſt nach einigen Tagen
wieder zum Angriff vor, als Napoleon mit einem Theile ſeines Heeres
nach Dresden zurückeilte um die heranrückende böhmiſche Armee abzu-
wehren. Macdonald, der in Schleſien zurückgeblieben, wähnte die Ver-
bündeten noch im vollen Rückzuge und marſchirte am 26. Auguſt, keiner
Schlacht gewärtig, gegen Jauer; ſeine Truppen drängten die Vorhut der
Preußen zurück, überſchritten die vom Regen hoch angeſchwellten Ge-

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[472/0488] I. 4. Der Befreiungskrieg. und der ſtärkſten Poſition des Feindes gegenüberſtand; mit Mühe erwirkte ſich Blücher die Erlaubniß unter außerordentlich günſtigen Umſtänden eine Schlacht anzunehmen. Seine Offiziere klagten über die beſcheidene Rolle, die man ihnen zuwies, und beneideten ihre nach Böhmen zur Hauptarmee abmarſchirenden Kameraden; der alte Held aber nahm ſich vor, ſeine Voll- macht im allerweiteſten Sinne auszulegen. Ein Glück übrigens, daß man im großen Hauptquartiere die feindlichen Streitkräfte um volle 100,000 Mann unterſchätzte; ſo gewannen die Bedachtſamen doch einigen Muth. Auch Napoleon war über die Stärke und die Stellungen der Ver- bündeten ſchlecht unterrichtet; er ſuchte ihre Hauptarmee in Schleſien und ſchlug die Kopfzahl der Nordarmee viel zu niedrig an. Sein nächſtes Ziel blieb noch immer die Vernichtung der preußiſchen Macht. Derweil der Imperator ſelbſt die ſchwierige Aufgabe übernahm, von Dresden aus zugleich die böhmiſche und die ſchleſiſche Armee zurückzuhalten, ſollte Oudinot Berlin erobern, die Landwehr entwaffnen, die preußiſche Volkser- hebung völlig niederwerfen. Glückte dieſer Schlag, ſo ſchien es möglich Stettin und Küſtrin zu verſtärken, vielleicht ſelbſt Danzig zu entſetzen; der Zauderer Bernadotte wich dann unzweifelhaft an die Küſte zurück, Preußen und Rußland aber mußten ihre geſammten Streitkräfte in den bedrohten Nordoſten werfen und ſich von Oeſterreich trennen. Alſo wurde die Coalition gelockert, und vielleicht gelang es alsdann der diplomatiſchen Kunſt Napoleons, ſie gänzlich zu zerſprengen. Da er an den vollen Ernſt der Hofburg auch jetzt noch nicht glaubte, ſo vermied er abſichtlich einen Zug gegen Böhmen; Kaiſer Franz durfte an der wohlwollenden Mäßigung des liebevollen Schwiegerſohnes nicht zweifeln. Die Befürchtung, daß er umgangen und vom Rheine abgeſchnitten werden könne, wies der Kriegs- erfahrene lachend zurück: „ein Heer von 400,000 Mann umgeht man nicht.“ Er wußte wohl, welchen Vortheil ihm die Einheit des Oberbefehls und die concentrirte Stellung ſeines Heeres boten, und zog was irgend verfügbar war nach Oberſachſen heran. Nur das Corps Davouſts wurde aus politiſchen Gründen an der Niederelbe zurückgehalten, denn das feſte Hamburg durfte um keinen Preis einer engliſchen Landungsarmee zum Brückenkopfe dienen. Während Oudinot den Marſch nach den Marken antrat, wendete ſich Napoleon zunächſt gegen die ſchleſiſche Armee, in der Hoffnung den thatenfrohen Blücher zu einer Schlacht zu verleiten. Der preußiſche Feldherr wich der Uebermacht aus und ging erſt nach einigen Tagen wieder zum Angriff vor, als Napoleon mit einem Theile ſeines Heeres nach Dresden zurückeilte um die heranrückende böhmiſche Armee abzu- wehren. Macdonald, der in Schleſien zurückgeblieben, wähnte die Ver- bündeten noch im vollen Rückzuge und marſchirte am 26. Auguſt, keiner Schlacht gewärtig, gegen Jauer; ſeine Truppen drängten die Vorhut der Preußen zurück, überſchritten die vom Regen hoch angeſchwellten Ge-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/488>, abgerufen am 22.11.2024.