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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
wärts nach Schweidnitz an die Abhänge des Riesengebirges ausbiegen
solle.*) So gab man zwar, Alles auf eine Karte setzend, die Hauptmasse
der preußischen Monarchie rücksichtslos dem Feinde preis, doch man hielt
die Verbindung mit Oesterreich fest und damit die letzte Möglichkeit des
Sieges. Der Rath ward befolgt. Dann ließ Blücher in der Ebene
von Haynau seine schweren Reiter plötzlich aus einem Hinterhalte gegen
die Spitzen der nachdrängenden französischen Armee vorbrechen (26. Mai)
und warf die Feinde so weit zurück, daß sie die Fühlung mit den Alliirten
verloren und die veränderte Richtung des Rückzugs nicht bemerkten. Mit
Befremden entdeckte Napoleon nach einigen Tagen, daß die Verbündeten in
seiner rechten Flanke standen. Wie gern hat der greise preußische Held
noch in späteren Tagen dieses ersten fröhlichen Empfanges gedacht, den
er dem Feinde auf preußischem Boden bereitet; zum ersten male in diesem
Feldzuge lächelte ihm das Glück, und seiner Lieblingswaffe allein verdankte
er den schönen Erfolg. Zuversichtlich wie er sah das gesammte preußische
Heer neuen Schlachten entgegen; in allen den hartnäckigen Kämpfen dieses
Rückzugs zeigte der deutsche Soldat eine unverwüstliche Freudigkeit und
Frische. Mehr als zwanzig Gefechte und zwei große Schlachten waren
geschlagen, fünfzig Kanonen und viele Gefangene den Franzosen abge-
nommen, Napoleon aber hatte keine einzige Trophäe in seinen Händen.
Anders war die Stimmung im russischen Lager. Die von Haus aus
mäßige Kriegslust der Generale erlahmte gänzlich seit sie sich wieder in
die äußerste Ostecke Deutschlands zurückgedrängt sahen; abermals wie vor
sechs Jahren vernahm man die unmuthige Frage: wozu uns opfern für
fremde Zwecke? Barclay de Tolly, der unterdessen den Oberbefehl über-
nommen, erklärte bestimmt, sein erschöpftes Heer bedürfe der Ruhe, müsse
in Polen wiederhergestellt und verstärkt werden. Schon war der Ab-
marsch der Russen über die Oder angeordnet, das Kalischer Bündniß
drohte auseinanderzugehen. Da brachte ein schwerer Mißgriff Napoleons
den Alliirten die Waffenruhe, die ihre Rettung werden sollte.

Wie laut er auch in seinen Bulletins prahlte, so unterschätzte Na-
poleon doch nicht die Gefahren seiner scheinbar so glänzenden Lage. Wohl
hielt er alle Lande des rechten Elbufers, dazu die Lausitz und einen Theil
von Schlesien in seiner Gewalt, jedoch er sah auch die zunehmende Ver-
wilderung seines Heeres und fürchtete die unberechenbaren Mächte eines
verzweifelten Volkskrieges. Wenn er jetzt, mit den Kränzen zweier neuer
Siege um die Stirn, die Hand zum Frieden bot, so ließ sich vielleicht
ein Abkommen erreichen, das dem Kaiserreiche seine constitutionellen Gren-
zen sicherte, und der Vernichtungskampf gegen Preußen mochte nach einiger
Zeit unter günstigeren Umständen wieder aufgenommen werden. Der so
oft erprobte beste Bundesgenosse des kaiserlichen Frankreichs, die Zwietracht

*) Hardenbergs Journal 22. Mai 1813.

I. 4. Der Befreiungskrieg.
wärts nach Schweidnitz an die Abhänge des Rieſengebirges ausbiegen
ſolle.*) So gab man zwar, Alles auf eine Karte ſetzend, die Hauptmaſſe
der preußiſchen Monarchie rückſichtslos dem Feinde preis, doch man hielt
die Verbindung mit Oeſterreich feſt und damit die letzte Möglichkeit des
Sieges. Der Rath ward befolgt. Dann ließ Blücher in der Ebene
von Haynau ſeine ſchweren Reiter plötzlich aus einem Hinterhalte gegen
die Spitzen der nachdrängenden franzöſiſchen Armee vorbrechen (26. Mai)
und warf die Feinde ſo weit zurück, daß ſie die Fühlung mit den Alliirten
verloren und die veränderte Richtung des Rückzugs nicht bemerkten. Mit
Befremden entdeckte Napoleon nach einigen Tagen, daß die Verbündeten in
ſeiner rechten Flanke ſtanden. Wie gern hat der greiſe preußiſche Held
noch in ſpäteren Tagen dieſes erſten fröhlichen Empfanges gedacht, den
er dem Feinde auf preußiſchem Boden bereitet; zum erſten male in dieſem
Feldzuge lächelte ihm das Glück, und ſeiner Lieblingswaffe allein verdankte
er den ſchönen Erfolg. Zuverſichtlich wie er ſah das geſammte preußiſche
Heer neuen Schlachten entgegen; in allen den hartnäckigen Kämpfen dieſes
Rückzugs zeigte der deutſche Soldat eine unverwüſtliche Freudigkeit und
Friſche. Mehr als zwanzig Gefechte und zwei große Schlachten waren
geſchlagen, fünfzig Kanonen und viele Gefangene den Franzoſen abge-
nommen, Napoleon aber hatte keine einzige Trophäe in ſeinen Händen.
Anders war die Stimmung im ruſſiſchen Lager. Die von Haus aus
mäßige Kriegsluſt der Generale erlahmte gänzlich ſeit ſie ſich wieder in
die äußerſte Oſtecke Deutſchlands zurückgedrängt ſahen; abermals wie vor
ſechs Jahren vernahm man die unmuthige Frage: wozu uns opfern für
fremde Zwecke? Barclay de Tolly, der unterdeſſen den Oberbefehl über-
nommen, erklärte beſtimmt, ſein erſchöpftes Heer bedürfe der Ruhe, müſſe
in Polen wiederhergeſtellt und verſtärkt werden. Schon war der Ab-
marſch der Ruſſen über die Oder angeordnet, das Kaliſcher Bündniß
drohte auseinanderzugehen. Da brachte ein ſchwerer Mißgriff Napoleons
den Alliirten die Waffenruhe, die ihre Rettung werden ſollte.

Wie laut er auch in ſeinen Bulletins prahlte, ſo unterſchätzte Na-
poleon doch nicht die Gefahren ſeiner ſcheinbar ſo glänzenden Lage. Wohl
hielt er alle Lande des rechten Elbufers, dazu die Lauſitz und einen Theil
von Schleſien in ſeiner Gewalt, jedoch er ſah auch die zunehmende Ver-
wilderung ſeines Heeres und fürchtete die unberechenbaren Mächte eines
verzweifelten Volkskrieges. Wenn er jetzt, mit den Kränzen zweier neuer
Siege um die Stirn, die Hand zum Frieden bot, ſo ließ ſich vielleicht
ein Abkommen erreichen, das dem Kaiſerreiche ſeine conſtitutionellen Gren-
zen ſicherte, und der Vernichtungskampf gegen Preußen mochte nach einiger
Zeit unter günſtigeren Umſtänden wieder aufgenommen werden. Der ſo
oft erprobte beſte Bundesgenoſſe des kaiſerlichen Frankreichs, die Zwietracht

*) Hardenbergs Journal 22. Mai 1813.
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[460/0476] I. 4. Der Befreiungskrieg. wärts nach Schweidnitz an die Abhänge des Rieſengebirges ausbiegen ſolle. *) So gab man zwar, Alles auf eine Karte ſetzend, die Hauptmaſſe der preußiſchen Monarchie rückſichtslos dem Feinde preis, doch man hielt die Verbindung mit Oeſterreich feſt und damit die letzte Möglichkeit des Sieges. Der Rath ward befolgt. Dann ließ Blücher in der Ebene von Haynau ſeine ſchweren Reiter plötzlich aus einem Hinterhalte gegen die Spitzen der nachdrängenden franzöſiſchen Armee vorbrechen (26. Mai) und warf die Feinde ſo weit zurück, daß ſie die Fühlung mit den Alliirten verloren und die veränderte Richtung des Rückzugs nicht bemerkten. Mit Befremden entdeckte Napoleon nach einigen Tagen, daß die Verbündeten in ſeiner rechten Flanke ſtanden. Wie gern hat der greiſe preußiſche Held noch in ſpäteren Tagen dieſes erſten fröhlichen Empfanges gedacht, den er dem Feinde auf preußiſchem Boden bereitet; zum erſten male in dieſem Feldzuge lächelte ihm das Glück, und ſeiner Lieblingswaffe allein verdankte er den ſchönen Erfolg. Zuverſichtlich wie er ſah das geſammte preußiſche Heer neuen Schlachten entgegen; in allen den hartnäckigen Kämpfen dieſes Rückzugs zeigte der deutſche Soldat eine unverwüſtliche Freudigkeit und Friſche. Mehr als zwanzig Gefechte und zwei große Schlachten waren geſchlagen, fünfzig Kanonen und viele Gefangene den Franzoſen abge- nommen, Napoleon aber hatte keine einzige Trophäe in ſeinen Händen. Anders war die Stimmung im ruſſiſchen Lager. Die von Haus aus mäßige Kriegsluſt der Generale erlahmte gänzlich ſeit ſie ſich wieder in die äußerſte Oſtecke Deutſchlands zurückgedrängt ſahen; abermals wie vor ſechs Jahren vernahm man die unmuthige Frage: wozu uns opfern für fremde Zwecke? Barclay de Tolly, der unterdeſſen den Oberbefehl über- nommen, erklärte beſtimmt, ſein erſchöpftes Heer bedürfe der Ruhe, müſſe in Polen wiederhergeſtellt und verſtärkt werden. Schon war der Ab- marſch der Ruſſen über die Oder angeordnet, das Kaliſcher Bündniß drohte auseinanderzugehen. Da brachte ein ſchwerer Mißgriff Napoleons den Alliirten die Waffenruhe, die ihre Rettung werden ſollte. Wie laut er auch in ſeinen Bulletins prahlte, ſo unterſchätzte Na- poleon doch nicht die Gefahren ſeiner ſcheinbar ſo glänzenden Lage. Wohl hielt er alle Lande des rechten Elbufers, dazu die Lauſitz und einen Theil von Schleſien in ſeiner Gewalt, jedoch er ſah auch die zunehmende Ver- wilderung ſeines Heeres und fürchtete die unberechenbaren Mächte eines verzweifelten Volkskrieges. Wenn er jetzt, mit den Kränzen zweier neuer Siege um die Stirn, die Hand zum Frieden bot, ſo ließ ſich vielleicht ein Abkommen erreichen, das dem Kaiſerreiche ſeine conſtitutionellen Gren- zen ſicherte, und der Vernichtungskampf gegen Preußen mochte nach einiger Zeit unter günſtigeren Umſtänden wieder aufgenommen werden. Der ſo oft erprobte beſte Bundesgenoſſe des kaiſerlichen Frankreichs, die Zwietracht *) Hardenbergs Journal 22. Mai 1813.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/476>, abgerufen am 22.11.2024.