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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Scharnhorsts große Tage.

Ein wunderbarer Anblick, wie dieser von allen Geldmitteln entblößte
Mittelstaat so mit einem male wieder eintrat in die Reihe der großen
Militärmächte. Nur ein Meister konnte allen den ungestümen Kräften,
die so urplötzlich aus den Tiefen unseres Volkslebens hervorbrachen, Form,
Maaß und Richtung geben. Unbeirrt durch Widerspruch und Verkennung
führte Scharnhorst seine militärisch-politischen Pläne durch, und ihm ge-
lang was in der modernen Geschichte für unmöglich gegolten hatte: ein
ganzes Volk zu einem kriegsfertigen Heer umzubilden. Ihm ward das
höchste Glück das dem großen Menschen beschieden ist: er durfte endlich
zeigen was er vermochte. Er wußte, daß die Geschicke seines Landes
auf seinen Schultern lagen, und einmal doch kam ein Wort des Stolzes
über die Lippen des Anspruchslosen: "ich verfahre despotisch, so schrieb
er seiner Tochter, und lade viel Verantwortung auf mich, aber ich glaube
dazu berufen zu sein." --

Durch den Abfall Preußens wurden die Kriegspläne des Imperators
verändert. An einen Angriff auf das Czarenreich ließ sich vorerst nicht
mehr denken, die nächste Aufgabe war die Vernichtung Preußens. Schon
am 27. März ließ Napoleon der Hofburg die Auftheilung des preußi-
schen Staates vorschlagen, dergestalt, daß Schlesien an Oesterreich zurück-
fiele, Sachsen und Westphalen durch je eine Million preußischer Unter-
thanen vergrößert würden und dem Hause Hohenzollern nur noch ein
Kleinstaat mit einer Million Einwohnern an der Weichsel verbliebe.
Auf die preußische Kriegserklärung ward mit blutigen Beleidigungen er-
widert: wenn Preußen sein Erbe zurückfordere, so wisse die Welt, daß
dieser Staat alle seine Erwerbungen in Deutschland nur der Verletzung
der Gesetze und Interessen des deutschen Reichskörpers verdanke. Und
in einem veröffentlichten Berichte an den Kaiser erhob Maret die An-
klage: der preußische Hof versammle um sich die Chorführer jener fanati-
schen Partei, welche den Umsturz der Throne und die Zerstörung der
bürgerlichen Ordnung predige. Diese Kriegserklärung, so schloß er höhnend,
ist der Dank "für den Tilsiter Vertrag, der den König wieder auf seinen
Thron erhob, und für den Pariser Vertrag von 1812, der ihn zur
französischen Allianz zuließ!"

In einem solchen Kampfe war jeder Ausgleich undenkbar. Und wie
unsicher standen die Aussichten für das große Wagniß! Mit Oesterreich
kamen die Alliirten keinen Schritt weiter. Auf wiederholte dringende
Mahnungen ließ sich Metternich endlich am 2. April dahin aus: von
einem sofortigen Bruche mit Frankreich könne keine Rede sein; dagegen
sei Kaiser Franz bereit mit den Verbündeten zusammenzuwirken, falls
Napoleon die von Oesterreich beabsichtigten Friedensvorschläge zurückwiese.
Selbst der junge Graf Nesselrode, der soeben anfing im Rathe des Czaren
eine Rolle zu spielen, allezeit ein warmer Freund Oesterreichs, fand diese
Erklärung nichtssagend und ungenügend.

Scharnhorſts große Tage.

Ein wunderbarer Anblick, wie dieſer von allen Geldmitteln entblößte
Mittelſtaat ſo mit einem male wieder eintrat in die Reihe der großen
Militärmächte. Nur ein Meiſter konnte allen den ungeſtümen Kräften,
die ſo urplötzlich aus den Tiefen unſeres Volkslebens hervorbrachen, Form,
Maaß und Richtung geben. Unbeirrt durch Widerſpruch und Verkennung
führte Scharnhorſt ſeine militäriſch-politiſchen Pläne durch, und ihm ge-
lang was in der modernen Geſchichte für unmöglich gegolten hatte: ein
ganzes Volk zu einem kriegsfertigen Heer umzubilden. Ihm ward das
höchſte Glück das dem großen Menſchen beſchieden iſt: er durfte endlich
zeigen was er vermochte. Er wußte, daß die Geſchicke ſeines Landes
auf ſeinen Schultern lagen, und einmal doch kam ein Wort des Stolzes
über die Lippen des Anſpruchsloſen: „ich verfahre despotiſch, ſo ſchrieb
er ſeiner Tochter, und lade viel Verantwortung auf mich, aber ich glaube
dazu berufen zu ſein.“ —

Durch den Abfall Preußens wurden die Kriegspläne des Imperators
verändert. An einen Angriff auf das Czarenreich ließ ſich vorerſt nicht
mehr denken, die nächſte Aufgabe war die Vernichtung Preußens. Schon
am 27. März ließ Napoleon der Hofburg die Auftheilung des preußi-
ſchen Staates vorſchlagen, dergeſtalt, daß Schleſien an Oeſterreich zurück-
fiele, Sachſen und Weſtphalen durch je eine Million preußiſcher Unter-
thanen vergrößert würden und dem Hauſe Hohenzollern nur noch ein
Kleinſtaat mit einer Million Einwohnern an der Weichſel verbliebe.
Auf die preußiſche Kriegserklärung ward mit blutigen Beleidigungen er-
widert: wenn Preußen ſein Erbe zurückfordere, ſo wiſſe die Welt, daß
dieſer Staat alle ſeine Erwerbungen in Deutſchland nur der Verletzung
der Geſetze und Intereſſen des deutſchen Reichskörpers verdanke. Und
in einem veröffentlichten Berichte an den Kaiſer erhob Maret die An-
klage: der preußiſche Hof verſammle um ſich die Chorführer jener fanati-
ſchen Partei, welche den Umſturz der Throne und die Zerſtörung der
bürgerlichen Ordnung predige. Dieſe Kriegserklärung, ſo ſchloß er höhnend,
iſt der Dank „für den Tilſiter Vertrag, der den König wieder auf ſeinen
Thron erhob, und für den Pariſer Vertrag von 1812, der ihn zur
franzöſiſchen Allianz zuließ!“

In einem ſolchen Kampfe war jeder Ausgleich undenkbar. Und wie
unſicher ſtanden die Ausſichten für das große Wagniß! Mit Oeſterreich
kamen die Alliirten keinen Schritt weiter. Auf wiederholte dringende
Mahnungen ließ ſich Metternich endlich am 2. April dahin aus: von
einem ſofortigen Bruche mit Frankreich könne keine Rede ſein; dagegen
ſei Kaiſer Franz bereit mit den Verbündeten zuſammenzuwirken, falls
Napoleon die von Oeſterreich beabſichtigten Friedensvorſchläge zurückwieſe.
Selbſt der junge Graf Neſſelrode, der ſoeben anfing im Rathe des Czaren
eine Rolle zu ſpielen, allezeit ein warmer Freund Oeſterreichs, fand dieſe
Erklärung nichtsſagend und ungenügend.

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[441/0457] Scharnhorſts große Tage. Ein wunderbarer Anblick, wie dieſer von allen Geldmitteln entblößte Mittelſtaat ſo mit einem male wieder eintrat in die Reihe der großen Militärmächte. Nur ein Meiſter konnte allen den ungeſtümen Kräften, die ſo urplötzlich aus den Tiefen unſeres Volkslebens hervorbrachen, Form, Maaß und Richtung geben. Unbeirrt durch Widerſpruch und Verkennung führte Scharnhorſt ſeine militäriſch-politiſchen Pläne durch, und ihm ge- lang was in der modernen Geſchichte für unmöglich gegolten hatte: ein ganzes Volk zu einem kriegsfertigen Heer umzubilden. Ihm ward das höchſte Glück das dem großen Menſchen beſchieden iſt: er durfte endlich zeigen was er vermochte. Er wußte, daß die Geſchicke ſeines Landes auf ſeinen Schultern lagen, und einmal doch kam ein Wort des Stolzes über die Lippen des Anſpruchsloſen: „ich verfahre despotiſch, ſo ſchrieb er ſeiner Tochter, und lade viel Verantwortung auf mich, aber ich glaube dazu berufen zu ſein.“ — Durch den Abfall Preußens wurden die Kriegspläne des Imperators verändert. An einen Angriff auf das Czarenreich ließ ſich vorerſt nicht mehr denken, die nächſte Aufgabe war die Vernichtung Preußens. Schon am 27. März ließ Napoleon der Hofburg die Auftheilung des preußi- ſchen Staates vorſchlagen, dergeſtalt, daß Schleſien an Oeſterreich zurück- fiele, Sachſen und Weſtphalen durch je eine Million preußiſcher Unter- thanen vergrößert würden und dem Hauſe Hohenzollern nur noch ein Kleinſtaat mit einer Million Einwohnern an der Weichſel verbliebe. Auf die preußiſche Kriegserklärung ward mit blutigen Beleidigungen er- widert: wenn Preußen ſein Erbe zurückfordere, ſo wiſſe die Welt, daß dieſer Staat alle ſeine Erwerbungen in Deutſchland nur der Verletzung der Geſetze und Intereſſen des deutſchen Reichskörpers verdanke. Und in einem veröffentlichten Berichte an den Kaiſer erhob Maret die An- klage: der preußiſche Hof verſammle um ſich die Chorführer jener fanati- ſchen Partei, welche den Umſturz der Throne und die Zerſtörung der bürgerlichen Ordnung predige. Dieſe Kriegserklärung, ſo ſchloß er höhnend, iſt der Dank „für den Tilſiter Vertrag, der den König wieder auf ſeinen Thron erhob, und für den Pariſer Vertrag von 1812, der ihn zur franzöſiſchen Allianz zuließ!“ In einem ſolchen Kampfe war jeder Ausgleich undenkbar. Und wie unſicher ſtanden die Ausſichten für das große Wagniß! Mit Oeſterreich kamen die Alliirten keinen Schritt weiter. Auf wiederholte dringende Mahnungen ließ ſich Metternich endlich am 2. April dahin aus: von einem ſofortigen Bruche mit Frankreich könne keine Rede ſein; dagegen ſei Kaiſer Franz bereit mit den Verbündeten zuſammenzuwirken, falls Napoleon die von Oeſterreich beabſichtigten Friedensvorſchläge zurückwieſe. Selbſt der junge Graf Neſſelrode, der ſoeben anfing im Rathe des Czaren eine Rolle zu ſpielen, allezeit ein warmer Freund Oeſterreichs, fand dieſe Erklärung nichtsſagend und ungenügend.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/457>, abgerufen am 23.11.2024.